Modernität vs. Avantgarde I: Platz dem Arbeiter!

von Patrick Rössler

Die zwanziger Jahre waren eine Zeit des Aufbruchs, aber auch der Meinungskämpfe in Politik und Gesellschaft. Das kommunistische Experiment in Sowjetrußland, das auch seine eigene Bildsprache entwickelte, wurde im Ausland genau beobachtet. Die Gebrauchsgraphik nahm in dieser Phase politisch niemals Partei, aber war als internationales Reklamemagazin verpflichtet, die Strategien der kommunistischen Propaganda aufzugreifen. Prominente Vertreter wie El Lissitzky oder John Heartfield ernteten dabei durchaus den verdienten Respekt.

Spätestens mit der Entscheidung, zweisprachig auf Deutsch und in Englisch zu erscheinen, hatte die Gebrauchsgraphik auch den Anspruch erhoben, sich als visueller Trendsetter auf der Höhe der Zeit zu etablieren. Gleichzeitig mußte sie die Interessen eines globalen Fachpublikums bedienen, das typografische Eskapaden wie die der russischen Konstruktivisten vielleicht persönlich goutierte, diese im Berufsalltag jenseits der Metropolen aber vermutlich nur sehr eingeschränkt selbst einsetzen konnte. Es galt für den Herausgeber also, einen vernünftigen Mittelweg zu finden zwischen den Interessen einer breiten Zielgruppe und den zuweilen verstörenden Ansätzen eines eher künstlerisch geprägten Werbedesigns, über das der frühere Dadaist Richard Hülsenbeck in seinem »Lied der Plakate« (GG 1/1927) dichtete: »Der Plakate Schrei aus den Zementverließen / Kündet uns ein Märchenland, das uns entschwand, / Wasserfälle rollen aus der Wolkenkratzerwand, / Nebelwälder wallen auf vor unsren Füßen.« Die beeindruckendsten Arbeiten aus dem sowjetischen Utopia präsentierte zweifellos der 1928 im Nachgang zur Kölner Pressa-Ausstellung erschienene, 16 Seiten lange Beitrag über den russischen Konstruktivisten El Lissitzky. Im zweifarbigen Druck in Schwarz und Rot, der die zentralen Farben der Sowjet-Propaganda aufnimmt, lobt Traugott Schalcher beispielsweise seine Gestaltung für Wladimir Majakowskis »Oktober-Poem« [Abb. 01], außerdem die Umsetzung des »Kabinetts der Abstrakten« in Hannover, das Fotomontage-Fries auf der Pressa, sein Plakat »Schlagt die Weißen mit dem roten Keil« oder die Figurinen aus der Mappe »Sieg über die Sonne«. Diese aus heutiger Sicht immer noch exzellente Auswahl an Bildbeispielen schließt alle typografischen Hauptwerke Lissitzkys ein und kann als vermutlich frühester Beitrag zu dessen Kanonisierung gelesen werden – auch wenn sich der Verfasser über die Bewertung nicht so ganz sicher ist: »Wie soll man sich zu einer solchen Kunst stellen, die schroff und weich, mystisch und materiell, anziehend und verwirrend ist wie die Welt, in der wir leben?« (S. 58)

Eine besondere Faszination scheint schließlich Lissitzkys doppelbelichtetes Selbstporträt auszuüben [Abb. 02], als Artikelaufmacher gar gedeutet als ein Beleg dafür, daß sein Urheber weniger Russe, sondern »mehr der Typus eines modernen Großeuropäers« sei (S. 51).

Einen vergleichbaren Stellenwert besitzt der bereits 1927 abgedruckte, reich illustrierte Beitrag über John Heartfields Umschlagentwürfe. Ebenso wie Lissitzky überzeugter Kommunist (dies spricht für die ideologische Unabhängigkeit der Gebrauchsgraphik) und zudem als Mitbegründer des Dadaismus ein Enfant terrible der etablierten Kunstszene, produzierte er zeitkritisch scharfe Fotomontagen, unter anderem für die Bücher in Willi Münzenbergs Malik-Verlag. Sein Jahrbuch »Platz dem Arbeiter« von 1924 stellt dabei eine der frühesten Anwendungen der Technik auf einem Buchumschlag Heartfields dar, lange bevor er durch seine ganzseitigen Montagen für die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ) zu Bekanntheit gelangte. Die Gebrauchsgraphik zeigt Klassiker wie seine Buchumschläge zu Upton Sinclairs gesammelten Werken bei Malik, aber auch umstrittene Arbeiten wie sein Cover für »Eros – Das Buch der Leidenschaft und der Liebe«.

Abbildung 3 | Gebrauchsgraphik, Heft 3, 6. Jahrgang (1929), Vierseitige Werbebeilage »Für Fotomontage: Futura« (Bauersche Gießerei, Frankfurt a. M.)

Die von Heartfield in großer Meisterschaft ausgeübte Fotomontage, eine für die Avantgarde typische Innovation, wurde übrigens im März 1929 zudem durch eine viel beachtete Futura-Werbebeilage als »neue Ausdrucksform« propagiert [Abb. 03]. Ihrer politischen Konnotation beraubt, hielt sie schnell Einzug in die Reklamewelt, wo sie auch unter dem Begriff der »Photokomposition « firmierte. Einer ihrer Hauptvertreter, Heinz Hajek-Halke, kommt im August-Heft 1933 der Gebrauchsgraphik mit seiner Anzeigenserie für Eukutol und Trilysin, einem Haut- beziehungsweise Haartonikum ausführlich zum Zuge. Seinen Motiven wird etwas »Geheimnisvolles« attestiert, das »das Publikum stark beschäftigte« (S. 48) [Abb. 04]. Und schon im selben Heft zeigen einige Montagen des Stuttgarter Grafikers Karl Straub, wie sich die Technik längst von einem Instrument der Avantgarde zu einem Markenzeichen aller modernen Gestalter gewandelt hatte [Abb. 05].

Quelle

novum. World of Graphic Design, Heft 9 (2014), S. 74-79.

Abbildung 4 | Gebrauchsgraphik, Heft 8, 10. Jahrgang (1933), Inserat für Eukutol Hautcreme unter Verwendung des Fotomotivs »Der Gassenhauer«, Entwurf: Heinz Hajek-Halke (S. 52)

Abbildung 5 | Gebrauchsgraphik, Heft 8, 10. Jahrgang (1933), Fotokomposition »Schienen«, Entwurf: Karl Straub (S. 29)