Der Lebenslauf einer Zeitschrift

von Eberhard Hölscher

Die Zeitschrift »Gebrauchsgraphik« wurde im Jahre 1924 von dem Grafiker H. K. Frenzel und dem Verlagskaufmann A. Engelbrecher in Berlin gegründet. Sie war die eigentliche Nachfolgerin der schon im Jahre 1910 von Dr. Hans Sachs in Berlin gegründeten Zeitschrift »Das Plakat«, die aber im Jahre 1921 in einer Zeit wirtschaftlicher Depression ihr Erscheinen einstellen mußte. Dr. Hans Sachs, der die von ihm in das Leben gerufene Zeitschrift in seiner Freizeit neben seiner ausgedehnten zahnärztlichen Praxis mit großer Liebe und Sachkenntnis redaktionell betreute, lebt heute noch in New York, wo er nach seiner Emigration in schöner Geruhsamkeit und geistiger Frische ein wohlverdientes Otium cum dignitate genießt. Ihm gebührt unbestreitbar das große Verdienst, als Gründer der überhaupt ersten Zeitschrift für angewandte Grafik, ein damals den Künstlern sich neueröffnendes und höchst aktuelles Betätigungsfeld, in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt zu haben. Durch die rege publizistische Tätigkeit, die er in seiner Zeitschrift entfaltete, hat er damals die ersten grundlegenden Erkenntnisse über das Wesen und die Aufgaben jenes Sondergebietes bildnerischen Schaffens vermittelt, für das dann um jene Zeit der Begriff und die neugeprägte Bezeichnung »Gebrauchsgraphik« in Brauch kamen. Die von Frenzel und Engelbrecher im Jahre 1924 neugegründete Zeitschrift »Gebrauchsgraphik« hatte einen glücklichen und erfolgreichen Start. Sie wurde zum offiziellen Sprachrohr der künstlerischen und wirtschaftlichen Interessen der deutschen Gebrauchsgrafiker, die sich wenige Jahre zuvor in einer eigenen Berufs- und Standesorganisation zusammengefunden hatten. Darüber hinaus aber hatte sie eine fast noch stärkere Resonanz in den Kreisen des Handels und der Industrie, die damals ihre Werbemaßnahmen immer intensiver aktivierten und in der neuen Zeitschrift ständig geeignete Mitarbeiter und Gestalter für ihre visuellen Werbemittel fanden. Es war auch nur ein natürliches Ergebnis ihrer klugen redaktionellen Betreuung, daß diese auch gut gedruckte Zeitschrift, die sich durch ein stets aktuelles und anregendes Bildmaterial auszeichnete, schon sehr bald ihren Weg in das Ausland, und zwar vornehmlich nach England, fand und daher vom Jahre 1926 an auch mit englischem Text erschien. Die Anregung dazu erfolgte durch Sir William Crawford, der kurz zuvor in Berlin eine Zweigniederlassung seiner Londoner Werbeagentur gegründet hatte. Dieser wachsende Ruf und die speziell im englischen Sprachbereich immer stärkere Verbreitung der Zeitschrift führten dann weiter dazu, daß sie vom Jahre 1927 an sogar mit Recht den Untertitel »International Advertising Art« führen konnte. Die immer weitere und auch von wirtschaftlichen Konjunkturschwankungen fast unabhängige Ausbreitung der »Gebrauchsgraphik« hatte seine guten Gründe. Sie war immer eine im besten Sinne international ausgerichtete Zeitschrift, die ohne politische Vorbehalte oder weltanschauliche Ressentiments nur das Prinzip der künstlerischen Qualität in der Werbung betonte und mit allem Nachdruck vertrat. Diese klare und unmißverständliche Haltung spiegelte sich auch unverkennbar in ihren Bildern und Texten wider und verschaffte und sicherte ihr ihren Ruf in fast allen Teilen der Welt. Selbst die immer bedenklicheren und bedrohlicheren Erscheinungsformen im politischen Leben Deutschlands vermochten zunächst diese konsequente und sichere Haltung der Zeitschrift noch nicht anzutasten und in Frage zu stellen, sondern ihr höchstens in einigen Ländern des Auslands gewisse Absatzschwierigkeiten zu bereiten. Doch wurde für sie die Lage zusehends kritischer, und so war es ein großer Verlust, daß gerade zu diesem Zeitpunkte ihr Herausgeber, dem es bisher noch gelungen war, unsachgemäße politische Einflüsse von der Zeitschrift fernzuhalten, unerwartet einem Herzschlag erlag. Ganz unvermutet und spontan wurde mir damals im September 1937 die Leitung der Zeitschrift anvertraut, wozu mich zunächst nur die Tatsache legitimierte, daß ich fast von Anbeginn an ihr ständiger Mitarbeiter gewesen war. Ich befand mich aber damals in einer äußerst prekären Situation, weil die neuen politischen Machthaber immer nachdrücklicher ihren Einfluß auf die Zeitschrift geltend zu machen und für ihre eigene Propaganda auszuwerten versuchten, was ich zum Glück noch erfolgreich abwenden konnte. Aber die autarkischen Maßnahmen der damaligen Zeit hatten eine immer stär­kere Distanzierung vom Ausland zur Folge, so daß ich nur noch unter großen Schwierigkeiten den Kontakt mit unseren dortigen Freunden aufrechterhalten und von dort das erforderliche Publikationsmaterial beschaffen konnte. Verhindern konnte ich es allerdings nicht, daß in diesen kritischen Jahren der Zeitschrift ihr Untertitel »International Advertising Art« gestrichen und ebenso auch die englischen Textübertragungen verboten wurden. Trotz aller dieser politischen Hemmungen und späteren kriegsbedingten Nöte gelang es dennoch, die Zeitschrift unter Wahrung ihres Gesichtes und mit Anstand bis in das Jahr 1945 hinein glücklich durchzulavieren. Sie mußte dann aber schon wegen der damaligen Papiernöte ihr Erscheinen einstellen und wäre als ein höchst unerwünschtes Presseorgan wohl überhaupt nicht solange am Leben geblieben, wenn sie nicht wegen ihres damals noch immer beachtlichen Absatzes in den nordischen Ländern und Italien eine nicht unverächtliche Devisenbringerin gewesen wäre. Pecunia non olet. Nach der Beendigung des Krieges stellte sich mit der allmählichen Konsolidierung des deutschen Wirtschaftslebens und einer wieder erwachenden werblichen Aktivität auch bei den deutschen Grafikern immer mehr das Bedürfnis nach einem künstlerischen Fachorgan heraus. Eine mir an meinem damaligen Wohnsitz in Hamburg von den englischen Besatzungsbehörden im Jahre 1948 erteilte Zeitschriftenlizenz konnte ich in der schwer angeschlagenen Hansestadt aus rein technischen Gründen leider nicht auswerten. So war es ein Glücksfall, daß mir der bekannte F.-Bruckmann-Verlag in München mit seinen damals schon wieder leistungsfähigen grafischen Betrieben das Angebot einer Verlagsübernahme machte und daß die »Gebrauchsgraphik« dann nach rund fünfjähriger Unterbrechung am 1. Januar 1950 wieder erscheinen konnte. Sie hatte anfänglich unter erheblichen Absatzschwierigkeiten zu kämpfen, da sie einmal vielfach im Ausland begreiflichen Ressentiments begegnete und nun auch erstmalig im Wettbewerbe mit anderen gleichgerichteten Zeitschriften stand, die in der Zwischenzeit im Ausland gegründet waren. Aber ihr traditioneller Ruf und ihre alten freundschaftlichen Beziehungen im In- und Auslande verhalfen ihr doch rasch wieder zu einem erfolgreichen Durchbruch Es spricht für ihre heutige weltweite Resonanz, daß sie nun als viersprachige Zeitschrift ihren Leserkreis im Jahre 1954 durch eine französische und im Jahre 1959 durch eine spanische Textübertragung wesentlich erweitern konnte. Die »Gebrauchsgraphik« hat es von jeher als ihre Aufgabe betrachtet, in ihren Heften qualifizierte Leistungsproben aus allen Teilen der Welt und aus allen Aufgabengebieten der angewandten Grafik zu zeigen. Sie hat sich dieser verpflichtenden Aufgabe bisher stets unvoreingenommen unterzogen, und sie wird auch in gleichem Sinne weiterhin allen nur irgendwie bemerkenswerten Bestrebun­gen und Richtungen Raum gewähren, um in diesem gleichzeitigen Bemühen um Qualität und Aktualität ihre Leser ständig zu interessieren und über die lebendige Entwicklung eines für ihre Arbeit wichtigen bildnerischen Schaffensgebietes zu informieren. Sie glaubt durch eine solche produktive Vermittlung beispielhafter Vorbilder und Ideen ihre Aufgabe im Dienste des deutschen und internationalen Wirtschaftslebens und Werbewesens am besten erfüllen zu können.

Anmerkung: An zwei Punkten trügen Hölschers Erinnerungen – die Zweisprachigkeit wurde konsequent erst an 1927 (und nicht 1926) realisiert, und die kriegsbedingte Einstellung erfolgte schon 1944 (und nicht 1945).