Lorenzo Lotto

Romerfahrung hatte auch der aus Venedig stammende Lorenzo Lotto, der 1509 zwei Zahlungen für Arbeiten in den oberen Zimmern des Vatikan (Stanzen) erhielt >L.XIII.3, die neuerdings auf die Ausführung der Übergabe der Dekretalen bezogen werden. Sein ca. zweijähriger Romaufenthalt gilt als prägende Zäsur für Lotto, der, obwohl seit 1503 Bürger der Stadt Treviso, seine Tätigkeit früh in die Marken verlagerte. Es wird daher angenommen, dass sein Kontakt zum römischen Kunstkreis durch Bramante zustande kam, der 1508 in Loreto an der Casa Santa gearbeitet hatte. Von 1513 bis 1525 arbeitete er vorwiegend in Bergamo, und ließ sich 1526 in Venedig nieder. Wohl bedingt durch die Vielzahl von Aufträgen, die ihn vor allem aus Treviso und den Marken erreichten, setzte er aber auch in den folgenden Jahren sein Wanderleben fort. Die letzten Lebensjahre verbrachte Lotto wieder in den Marken. Seine venezianischen Anfänge, vor allem die Allegorie auf Tugend und Laster, die ehemals als Abdeckung des Porträts des Bischofs de Rossi von 1505 diente, waren durch Giorgione geprägt worden. Der römische Einfluss ist erstmalig in der Transfiguration von ca. 1510–1512 fassbar, die in ihrer Neigung zur exaltierten und anatomisch deformierenden Pose und zu unüblichen Größenrelationen und Perspektiven auch bereits Lottos unverkennbaren Duktus zeigt. Die stimmungsvollen landschaftlichen Hintergründe behielten allerdings ihren an Giorgione gebildeten venezianischen Charakter, ansonsten aber scheint sich Lotto in jeder Gegend, in die er im Lauf seines künstlerischen Wanderlebens kam, neu orientiert zu haben. Für einen Künstler in seiner Situation war dies unerlässlich, da er nicht zu denjenigen gehörte, die einen einzigen Patron bedienten oder zu denen, die über ein lokales Netzwerk von Auftraggebern verfügten. Möglicherweise ist auch die in seinen Gemälden fast nie fehlende Signatur damit zu erklären, dass es ihm wichtig war, seine Autorschaft zu belegen und seine Handschrift zu kennzeichnen.

Lotto passte wegen seines auffälligen Stils schon im 16. Jahrhundert nicht in die üblichen Schubladen der Kunstgeschichte. Je nach Standort des Betrachters wurde er entweder der lombardischen oder der venezianischen Schule zugeordnet. Der Dichter Pietro Aretino, der ihm im April 1548 einen Brief schrieb, in dem er vom Wunsch des damals in Augsburg weilenden Tizian berichtet, Lottos Urteil zu seinen Werken zu kennen, war der Ansicht, dass Lotto dem großen Venezianer („pittor grave“) nicht das Wasser reichen könne. Auch spätere Urteile wiederholten diese Klischees und warf Lotto schlechtes Koloritund exzessives Feuervor. Cavalcaselle schließlich lastete ihm die Übertreibung der Gegensätze, des Ausdrucks und der Bewegungen und seine Missachtung des reinen Geschmackskanons an. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist die Verkündigung Mariae in Recanati von ca. 1528 mit ihrer zwischen Erschrecken und Irrsinn schwankenden Maria und einem phantomhaften Engel, der eigenartige Schatten auf den Boden wirft und eine ihrerseits unheimlich wirkende Katze aufschreckt. Kaum weniger ungewöhnlich wirkt die 1521 datierte Szene des Abschieds von Christus und Maria, die sich unter Assistenz von mehreren Heiligen und der durch ein Porträt verewigten Stifterin in einer allseitig offenen Säulenhalle vollzieht. Die Ungewöhnlichkeit des Sujets, die emotionale Ausdruckskapazität und die von einem warmen Nachmittagslicht erfüllte Atmosphäre wurden von der Kunstliteratur des frühen 20. Jahrhunderts als Eigenschaften gelobt, die der späteren lombardischen Schule ihre Eigenarten geben sollten. Tatsächlich dürfte der Einfluss der zahlreichen Werke Lottos, die sich in Bergamo und seiner Umgebung befinden, nicht unerheblich gewesen sein, obgleich er keine Schule im engeren Sinn des Wortes hervorbrachte. Trotz seiner quellenmäßig belegten Kontakte zu Jacopo Sansovino in Venedig und Alessandro Moretto in Brescia (1498–1554) war er eher ein Einzelkämpfer, der sich, je älter er wurde, um so schwerer mit dem Verkauf seiner Werke tat. Gegen Ende seines Lebens (1554) trat Lotto in das Kloster der Casa Santa in Loreto ein und malte hier neben Andachtsbildern auch die Ziffern auf die Betten des Hospizes. Die Religion scheint in Lottos Leben insgesamt eine große Rolle gespielt zu haben, allerdings wird ihm auch nachgesagt, dass er mit der Reformation sympathisierte, die damals in Oberitalien erheblichen Zulauf hatte. Diese und andere Angaben über seine Lebensverhältnisse ergeben sich aus einer für die Zeit sehr ungewöhnlichen Quelle. Lotto hat von 1538 bis zu seinem Tod eine Art Tage- und Auftragsbuch geführt, in dem er seine Auftraggeber und die ihnen gelieferten Bilder vermerkt hat. Hier erfährt man allerdings auch, wie viel von seinem Oeuvre im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen ist. Dennoch kommt er mit ca. 200 Werken auf einen der umfangreichsten Werkkataloge der Zeit. Das Repertoire, über das er verfügte, war sehr vielseitig. Es reicht vom Altarbild des venezianischen Typs der Sacra Conversazione bis zum Porträt, ein Gebiet, auf dem sich Lotto als einer der ganz großen Maler seiner Zeit hervorgetan hat.

Die Vielseitigkeit seines Schaffens zeigt sich auch an den Fresken, die er von 1523 bis 1524 in dem unweit von Bergamo gelegenen Ort Trescore in einem Oratorium ausgeführt hat, das die in Bergamo beheimateten Grafen Suardi gestiftet hatten. Dieser durch seinen erzählerischen Reichtum bestechende Zyklus weicht in seiner formalen Struktur von den Regeln ab, die sich in den Zentren der Wandmalerei für die Bewältigung eines solchen Themas herausgebildet hatten. Die figurenreichen Szenen, in denen Ereignisse aus den Viten von vier weiblichen Heiligen erzählt werden kommen — bis auf gemalte Pilaster neben den Fensteröffnungen — ohne ein gliederndes geometrisches Rahmensystem aus. Die Schauplätze der Begebenheiten, die sich zu einem großen Panorama zusammenfügen, sind gemalte Bildarchitekturen: Bögen, Häuser, Loggien, Berge, Kirchen, Höfe und Plätze, die wie die Stationen einer fortlaufenden Erzählung angeordnet werden, vergleichbar etwa Hans Memlings Altartafel mit den Sieben Freuden Mariae von 1480. Neben dem nordischen Einfluss sind formale Verbindungen zu dem Mailänder Maler Gaudenzio Ferrari deutlich. Darüber hinaus gibt es auch hier noch Reflexe der römischen Jahre Lottos. So erinnert die Szene mit dem Besuch Christi im Gefängnis der hl. Barbara motivisch an Raffaels Szene der Befreiung Petri in den Stanzen. Das originell konzipierte Zentrum des Ensembles auf der Längswand mit den Szenen aus dem Leben der hl. Barbara bildet die Gestalt Christi , deren Größe deutlich alle anderen Figuren übertrifft. Von den Spitzen seiner Finger gehen Weinrebentriebe aus, die sich um die Medaillons der Heiligen am oberen Abschluss der Bildwände schlingen und die von hier aus in die von Balken gestützte Decke weitergeführt sind, wo sie sich zu einer von einem blauen Grund abhebenden Weinlaube vereinen, die von Weintrauben als eucharistischen Symbolen, aber auch von spielenden Putten und Textbändern durchflochten ist. Die Absage an die intellektuell reflektierte Malerei der klassischen Richtung wurde auch noch von der neueren Kunstkritikals Ausscheren aus der Norm interpretiert, ein methodisches Dilemma, das sich als Hindernis für die Wahrnehmung der Vielfalt und der Andersartigkeit erweist. Jedoch wird Lottos Tätigkeit in den Randregionen, die nicht dem Diktat eines offiziellen Kunststils unterworfen waren, auch als Konsequenz seines unangepassten Stils gesehen. Nach diesem Ansatz war es gerade die Provinz, die die Befreiung von der Norm ermöglichte und damit zu einer Quelle der Kreativität wurde. Die Frage, ob Lotto als Künstler der Renaissance oder als Manieristanzusehen ist, verblasst vor der Bedeutung seines Werks, an dessen Attraktivität die Begriffe, und die konventionellen Parameter der Kunstgeschichte scheitern.

 

zu 4. Domenico Beccafumi