Die Stanze des Heliodor

Das Programm der 1511 begonnenen Ausmalung des allgemein als stanza di Eliodoro bezeichneten zweiten Zimmersder päpstlichen Wohnung thematisiert die siegreiche Rolle des Christentums und seiner Repräsentanten im Laufe der Geschichte. Vier paradigmatische Beispiele aus unterschiedlichen Epochen werden aufgerufen, um das Eingreifen Gottes zur Rettung der Kirche und der Kirchenführer zu zeigen. Das Leitthema ist die auf der Fensterwand dargestellte Befreiung Petri aus dem Kerker, die in Beziehung zum Wahlspruch Julius' II. gesetzt wird: „Gott ist mein Helfer, ich fürchte nicht, was ein Mensch mir antun kann.“ Mit der Wiedergabe des Nachtlichtes zwischen Mondlicht und Sonnenaufgang und dem von Vasari gelobten Gegenlichteffekt, der durch die Helligkeit des in die Szenerie integrierten Fensters bewirkt wird, wurde Raffael zum „Erfinder“ des Nachtbildes, dem in der Folge ein großer Erfolg beschieden sein sollte. Das von der Aureole des Engels ausgehende Licht erhellt das Geschehen auf geheimnisvolle Weise. Die Einbindung des realen Fensters in den bühnenartigen Prospekt, der zum Schauplatz der dramatischen, in mehreren Etagen und Bildräumen dargestellten Ereignisse wird, ermöglicht die Veranschaulichung des Vorganges in seinen drei sukzessiven Phasen. In der Mitte befreit der Engel Petrus aus den Ketten, rechts leitet er ihn aus dem Kerker, und links reagieren die Wachen auf den Ausbruch.

Die Befreiung Petri gehört zur zweiten Partie der Ausmalung, die bereits in das Pontifikat Leos X. fällt, ohne dass es zu einer wesentlichen Abänderung des Bildprogramms kam. Die Überschneidung der beiden Pontifikate und ihre Konsequenzen für die Ausmalung sind daran ablesbar, dass sich in diesem Raum besonders viele Datumsangaben befinden, so findet sich z.B. über dem Fenster die Datumsangabe 1512. Die beiden früheren, 1511 und 1512 entstandenen Wandbilder der Vertreibung des Heliodor aus dem Tempel und der Messe von Bolsena zeigen die hier dargestellten Päpste noch mit den Gesichtszügen Julius' II., während Papst Leo I. in der Begegnung mit Attila deutlich die Gesichtszüge von Leo X. trägt. In der Darstellung der Messe von Bolsena, die sich auf das Hostienwunder von 1263 bezieht, aus dem sich die Verehrung des Corpus Domini (Fronleichnamsfest) entwickelte, nimmt Julius II. die Rolle eines Zeugen ein, obwohl bei dem Wunder kein Papst zugegen war. Begleitet von mehreren Kardinälen kniet er auf der rechten Seite des Altars. Den zeitgenössischen Charakter der rechten Bildhälfte betonen auch die Männer im unteren Bildteil, die durch ihre Kleidung als Angehörige der Schweizer Garde ausgewiesen sind.

Eine ähnliche Vermischung der historischen Dimension des Ereignisses mit der aktuellen Zeitgeschichte findet in der Vertreibung des Tempelschatzräubers Heliodor durch einen himmlischen Reiter statt (II. Makk. 3,12–27), dem spektakulärsten Bild des Raumes. Jakob Burckhardt hat das Gemälde in folgender Weise beschrieben: „Mit einer unbeschreiblichen Macht und Herrlichkeit hält Raffael seinen Einzug in das Gebiet der dramatischen Malerei; sein erstes Gemälde war der Heliodor. Welch ein Atemschöpfen nach den symbolisch bedingten Bildern der Camera della Segnatura! Er hat keine großartigere bewegte Gruppe mehr geschaffen als die des himmlischen Reiters, mit den im Sturm zu seiner Seite schwebenden Jünglingen und dem gestürzten Frevler nebst dessen Begleitern.“Während im Hintergrund der Priester Onias am Altar kniend betet, wird von links der mit den Gesichtszügen Julius' II. gekennzeichnete Papst mit großem Gefolge auf einer Sänfte hereingetragen. Sein Blick ist auf den Priester Onias gerichtet, zu dem sich auch die virtuose Figur des Jünglings auf einem Säulenpodest hinwendet. Frauen und Kinder, die vor der Sänfte knien und hocken, dämpfen den massiven Einbruch des zeitgenössischen Spektakels, in dem sich Raffael selbst als Sänftenträger dargestellt hat.

Das gegenüber befindliche Bild mit der Begegnung Leos I. und Attilasam Mincio stellt das Eingreifen der Apostelfürsten Petrus und Paulus dar, die den angreifenden Hunnenkönig zur Kapitulation vor dem Papst bewegen. Laut Vasari hatte Raffael dem Papst schon die Gesichtszüge Julius II. gegeben, als dieser am 21. Februar 1513 starb. Als Leo X. darauf bestand, dass er das Bild zu Ende malte, ersetzte er das Gesicht Julius' II. durch das seines Nachfolgers, der links außen außerdem als Kardinal dargestellt ist. Abweichend vom ursprünglichen Programm erhielt die Sockelzone nun eine Bemalung in Grisailletechnik. Allegorische Gestalten, die die Grundlagen und Wohltaten des buon governo (weisen Herrschaft) verbildlichen, tragen als Karyatiden das Rahmensystem der Wandbilder. Dieser zweiten Phase gehören auch die durch Michelangelos Darstellungen der Genesis in der Sixtinischen Kapelle beeinflussten Darstellungen im Gewölbe an, die Szenen aus dem Alten Testament (Jacob, Noah, Abraham, Moses) zeigen, deren gemeinsamer Nenner das rettende Eingreifen Gottes ist, wodurch sie als biblische „Antetypen“ der unter ihnen befindlichen Wandbilder erkennbar sind.

 

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