Das Dekorationssystem der Sixtinischen Decke

Die Ausrichtung der neun Bildfelder des mittleren Deckenspiegels, der durch ein verkröpftes Gesims von den aufgehenden Seiten abgetrennt wird, die den Propheten und Sybillen vorbehalten sind, bezieht sich auf den Altar und auf den Thron des Papstes. Außerhalb des die ganze Decke umziehenden Rahmens befinden sich auf jeder Seite zwischen den Pilastern neun weitere Bildeinheiten, die sich auf die jeweilige Wand ausrichten. Ihre alternierenden Rahmungen verdeutlichen die unterschiedlichen thematischen Elemente des figuralen Dekors. Ergänzt werden sie durch jeweils zehn Zwickelfelder neben den Stichkappen, die mit monochrom gehaltenen Figuren gefüllt sind. Während die Kapitelle der Pilaster in Untersicht gegeben sind, wird das profilierte Abschlussgesims der gemalten Wände wie ein in Aufsicht gegebener Rahmen allseitig um den durch die Farbe des Himmels als Öffnung charakterisierten mittleren Deckenspiegel herumgeführt. Auf den Pfeilerkapitellen liegen gurtartige Überspannungen, die in rhythmischem Wechsel mit den Himmelsausblicken den horizontalen oberen Abschluss des Raumes bilden. An dieser Stelle offenbart das bis dahin in sich schlüssige System der gemalten Architektur einen unauflösbaren Konflikt. Die Deckengliederung und die ihr entsprechende Gliederung der Wände in Joche kann einerseits im ornamentalen Sinn gelesen werden, so dass das Feldersystem der Decke als flächiges und musterhaftes Rahmenwerk erscheint. Diese Lesung erschließt sich vor allem bei der Ansicht der Decke in der Längsrichtung. Die andere Sichtweise ist die Lesung als ein aus der Wandgliederung emporsteigendes System gemalter Architektur. Sie wird wirksam, wenn sich der Blick frontal auf die Wände richtet und stufenweise nach oben wendet. Das Oszillieren zwischen den beiden Betrachtungsmöglichkeiten war ein Kunstgriff, mit dem das System der Decke außerhalb der überprüfbaren Realität gestellt wird. Aus den Schenkeln der Stichkappen steigen auf jeder Längswand zehn gemalte Pilaster auf, die sich mit einem reich profilierten „Rahmen“ verkröpfen, innerhalb dessen sich neun Bildfelder befinden, die in Längsrichtung (von Westen nach Osten) zu betrachten sind. Vor die gemalte Architektur, die abgesehen von den realen Stichkappen, aus denen sie emporsteigt, keine Beziehung zur gebauten Decke aufweist, setzte Michelangelo nackte Jünglinge(ignudi), die die Medaillons rahmen. Sie sitzen auf blockartigen Postamenten, die die gemalten Pilaster an den Stellen besetzen, wo die als aufragende Wand gemalte Architektur endet, bzw. dort, wo die gemalten Wände, die aus den Stichkappen des echten Gewölbes emporsteigen, von den gemalten Gurtbögen optisch und tektonisch miteinander verklammert werden. Die ignudi markieren demnach die Gelenke, an denen bei der Betrachtung die vertikale Richtung in die horizontale Ausrichtung der Decke überführt wird.

Die Sixtinische Decke ist aufgrund dieser Merkmale als eine „Monumentalisierung der antiken Groteske“ gesehen worden und damit als eine „Bildform, die eine vielschichtige Erzählstruktur“ ermöglicht. Dass dies auch von den Zeitgenossen so gesehen wurde, verdeutlicht der Kommentar von Vasari, der hervorhebt, dass Michelangelo sich nicht an die Regeln der Perspektive gehalten habe und dass es keinen festen Standort für die Betrachtung der Decke gebe. In der Irrealität dieses Systems, die sich dem von Vitruv geforderten Prinzip der Nachahmung von wirklichen Räumen durch die Malerei bewusst widersetzt, kommen fantasia und invenzione zu ihrem Recht, Prinzipien, die Michelangelo als fundamental ansah. Auf diese Weise werden aber nicht nur verschiedene Realitätsbereiche miteinander verknüpft, sondern veranschaulichen sich auch die unterschiedlichen Kategorien des inhaltlichen Konzeptes. So fällt etwa den ignudi, von deneneinige mit opulenten Eichenlaubfestons hantieren, die auf das della Rovere-Wappen anspielen, die Aufgabe zu, auf die Person Papst Julius‘ II. zu verweisen. Auch die fingierten Bronzemedaillons, die auf der Basis der apokryphen Makkabäer-Bücher des Alten Testaments mehr oder weniger bekannte Gottesstreiter darstellen, stehen in direktem Bezug zu Julius II. Diese persönliche Ebene ordnet sich dem heilsgeschichtlichen Konzept ein, das den Bogen von der göttlichen Heilsgeschichte zu den Vertretern Christi auf Erden schlägt, die in den Wandfeldern dargestellt sind.
 

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