Die Ausmalung des Gewölbes der Sixtinischen Kapelle

Michelangelos Annahme des Auftrags zur Ausmalung der Decke der Sixtinischen Kapelle ist von der kunstgeschichtlichen Literatur des 19. Jahrhunderts als ein Kraftakt gesehen worden, in dem sich die widrigen Umstände des Juliusgrabmals zum heroischen „und nun dennoch“ wandelte: „Nun denn, scheint er zu rufen, wenn ihr mich mit Gewalt zum Maler machen wollt, so will ich euch eine Kapelle von Marmorn nach meinem Geschmack malen; und er wirft das Statuenheer, das sie ihm abgenommen, an die Decke.“Eine solche Sicht wäre nie möglich gewesen, wenn seine Malerei nicht dazu einladen würde. Letztlich war der Stil, in dem sich Michelangelo hier ausdrückt, die Ursache für alle späteren Interpretationen der Ereignisse, die dazu geführt hatten, dass der spektakulärste Bildhauer seiner Zeit nun auch nach der Palme der Malerei griff. Condivi und Vasari stellen den Auftrag Julius' II. für die Sixtinische Decke als ein Komplott Bramantes dar, mit dem er Michelangelos Unfähigkeit als Maler bloßstellen wollte, damit sein Landsmann Raffael eine Chance bekäme. Hätte Michelangelo aber abgelehnt, wäre er beim Papst in Ungnade gefallen. Die Grundlage dieser von Zöllner mit triftigen Argumenten in Zweifel gezogenen Sicht der Ereignisseist ein Brief des Piero di Jacopo Rosselli an Michelangelo vom 10. Mai 1506 über ein Gespräch, in dessen Verlauf Bramante dem Papst gegenüber behauptet habe, von Michelangelos ihm gegenüber geäußerten Desinteresse an dem Auftrag für die Decke zu wissen. Wörtlich habe er zum Papst gesagt: “Ich glaube, ihm fehlt dazu der nötige Mut, denn er hat bisher nicht allzu viele Figuren gemalt, und insbesondere bei Figuren in der Höhe und mit Verkürzung ist es eine andere Sache als zu ebener Erde zu malen.“Rosselli habe daraufhin den Papst darüber aufgeklärt, dass Bramante noch niemals mit Michelangelo gesprochen habe. Unabhängig davon, wie man diese Briefstelle interpretiert, lässt sich ihr entnehmen, dass Julius II. schon 1506 plante, diesen Auftrag Michelangelo anzuvertrauen.

In seinem „Hausbuch” hat Michelangelo vermerkt:„ich, der Bildhauer Michelangelo, (habe) heute, am 8. Mai 1508, von seiner Heiligkeit, unserem Herrn Julius II. 500 Kammerdukaten empfangen (…) als Anzahlung für die Ausmalung der Decke in der Kapelle von Papst Sixtus" . Michelangelo engagierte zunächst Gehilfen und Freunde aus Florenz, die ihn unterstützen sollten, sobald er die Kartons fertig gestellt hatte. Er hoffte, von ihnen die Technik der Freskomalerei zu erlernen, in der er unerfahren war: „Als er aber sah, daß ihre Bemühungen weit von seinen Vorstellungen entfernt waren und ihn nicht zufriedenstellten, entschied er eines Morgens, alles abzuschlagen, was sie geschaffen hatten“ . Alsdann habe er, so Vasari und Condivi, das Werk mit herkulischer Anstrengung innerhalb von zwanzig Monaten und nur mit den für die Herstellung des Putzes nötigen Handlangern (garzoni) ausgeführt. Die mehr als 1000 m² umfassende und aus 175 Bildeinheiten und ca. 570 Tagwerken bestehende Malerei gilt nach der letzten Restaurierung als weitgehend eigenhändig, nicht aber die Scheinarchitekturen, die Ornamente und Nebenfiguren der Lünetten. Laut Condivi und Vasari kam es bei der Errichtung des Malgerüstes zu einer erneuten Konfrontation mit Bramante, dem es in seiner Position als Palastarchitekt oblag, das Gerüst zu konstruieren, zu dessen Befestigung er Löcher ins Gewölbe schlagen ließ. Michelangelo habe ihm vorgehalten, dass er am Ende alle diese Löcher schließen und retuschieren müsse. Nachdem er eine entsprechende Beschwerde beim Papst vorgebracht habe, habe ihm dieser die Freiheit gelassen, das Gewölbe nach seinen eigenen Vorstellungen einzurüsten. Er konzipierte daraufhin ein freitragendes Gerüst, das auf dem Konstruktionsprinzip der Brücke basierte und dessen Prinzip während der Restaurierungen der Decke in den 1980er Jahren weitgehend rekonstruiert werden konnte. Nach unten war das die gesamte Fläche überspannende Gerüst auf der Höhe der Stichkappenansätze mit einer Abdeckung gesichert. Als Tageslichtquelle standen daher nur die obersten Partien der rundbogigen Fenster zur Verfügung.

Nach diesen Vorarbeiten hat Michelangelo im Januar 1509 auf der Eingangsseite der Kapelle mit der Ausmalung begonnen. Er arbeitete dabei gegen den chronologischen Ablauf der darzustellenden Ereignisse der Genesis, was ein detailliertes Konzept voraussetzt. Im Herbst des gleichen Jahres war bereits der erste Abschnitt fertig, der vermutlich aus den drei Noah-Geschichten und den dazu gehörigen Sehern und nackten Jünglingen (ignudi) besteht. Condivi zufolge verlangte der Papst zu diesem Zeitpunkt, die bis dahin vollendeten Gemälde zu sehen. Danach habe Michelangelo seinen bis dahin eher kleinteiligen Stil geändert, um die Ausführung zu beschleunigen. Der zweite Teil des zentralen Gewölbes, der im August 1510 beendet wurde, aber erst ein Jahr später enthüllt wurde, dürfte anders als bisher angenommen, die gesamte Decke mit allen Szenen, Ignudi und Propheten und Sibyllen umfasst haben. Im September 1511 begann Michelangelo mit dem zweiten Teil, der im Oktober 1512 vollendet war. Ihm gehören die z. T. ohne Benutzung von Kartons und teilweise von Gehilfen realisierten Lünetten mit den Vorahnen Christi an sowie die vier Eckzwickel, die von einem separaten Gerüst aus gemalt wurden, das am Hauptgerüst hing und verschoben werden konnte.

In einem Bericht, den er 1523 verfasst hat, schreibt Michelangelo über die Anfänge der Arbeit an der Sixtinischen Decke: „Der erste Entwurf zu diesem Werk waren die zwölf Apostel in den Lünetten und im Übrigen eine bestimmte Aufteilung mit Ornamenten, wie es gebräuchlich ist. Nachdem ich das Werk angefangen hatte, schien es mir ein ärmliches Ding zu werden, und ich sagte zum Papst, dass eine ärmliche Sache dabei herauskäme, wenn man nur die Apostel malen würde, Er fragte mich: warum: ich sagte ihm »Weil auch sie arm waren«. Darauf gab er mir einen neuen Auftrag, ich könnte so arbeiten, wie ich wolle, er würde mich schon zufrieden stellen, und ich sollte bis zu den unteren Historien malen.“Im ersten Entwurf für die Decke sitzen die von Julius II. verlangten Apostel in den Zwickeln zwischen den Schildbögen, die in der ausgeführten Decke von den Propheten und Sybillen eingenommen werden. Die Form der Nischen richtet sich noch nach denen der Papstbildnisse im unteren Register. Der Rest der Decke sollte, entsprechend dem zitierten Bericht mit einem ornamentalen Dekor bemalt werden, wie ihn die Zeichnungen in London und Detroit zeigen.

Vasari berichtet, dass Julius II. Michelangelo dazu ermächtigt hatte, die älteren Gemälde auf den facciate zu beseitigen. Es ist jedoch unklar, welche Teile der Wände mit den „facciate” gemeint waren. Vermutlich wäre von einem solchen Eingriff vor allem das Register mit den Papstbildnissen betroffen gewesen. Michelangelo griff jedoch den älteren Bestand nicht an, was dafür spricht, dass eine Schmälerung der bestehenden Ausmalung damals noch nicht zur Debatte stand, auch weil Julius II. eine Beeinträchtigung dieser großartigsten Schöpfung seines Onkels Sixtus’ IV. kaum hingenommen hätte. Den durch die Generation seiner Lehrmeister bemalten Wänden der Kapelle >L.VII.5 „stülpte” Michelangelo eine Scheinarchitektur über, die eine optische Erhöhung des flachen Muldengewölbes bewirkt, wodurch die Distanz zu dem älteren Gemäldezyklus auf den Wänden vergrößert wird. Dadurch befindet sich die Decke gegenüber den Wänden in einer Art von „Schwebezustand“. Die Aufmerksamkeit des Betrachters wird so zuerst auf die Deckenmalerei gezogen, deren Erzählungen dem heilsgeschichtlichen Programm der Wandbilder chronologisch und sinngemäß vorangehen.

 

Um die historische Tragweite der Gestaltung der Sixtinischen Decke zu ermessen, muss man sich vor Augen führen, dass Decken und Gewölbe bis dahin fast ausschließlich zur Simulierung von Himmel und zur Aufnahme von einzelnen Wesen gedient hatten, die der himmlischen Sphäre zugehören. Im sakralen Bereich gibt es nur wenige ältere, mit szenischen Kompositionen versehene Decken oder Gewölbe. Dazu gehören u. a. die Mosaiken in der Kuppel des Florentiner Baptisteriums aus dem 13. Jahrhundert, in denen unter anderem die Genesis dargestellt ist und die gotischen Fresken im Oratorium der Kirche Santissima Annunziata in Cori bei Rom. Als zeitlich näher liegende Voraussetzung für eine sowohl figürliche wie architektonische Ausmalung eines Deckengewölbes ist Melozzo da Forli’s zwischen 1486 und 1493 ausgemalte Kuppel der Sakristei des hl. Markus in der Basilika der Casa Santa von Loreto >L.VII.6 zu nennen.

 

zu 3. Das Dekorationssystem der Sixtinischen Decke