Raffael und Leonardo

Als der 21-jährige Raffael wahrscheinlich im Oktober 1504 nach Florenz kam, führte er ein Empfehlungsschreiben der Giovanna della Rovere, Tochter des Federigo da Montefeltro, mit sich, das an den gonfaloniere perpetuo Piero Soderini gerichtet war. Ob er versuchen wollte, hier wie ehedem Perugino dauerhaft Fuß zu fassen oder ob es ihm vor allem darum ging, seine künstlerischen Erfahrungen weiter zu vertiefen, ist nicht bekannt. Mehrere Aufträge führten ihn während der vier Jahre, die er überwiegend in Florenz lebte, mehrfach nach Urbino und Perugia. Vasari gibt an, er sei zunächst nach Siena gegangen, um Pinturicchio bei der Ausmalung der Libreria Piccolomini mit einigen Zeichnungen und Kartons zu unterstützen, habe sich aber nach Florenz begeben, als er von Leonardos und Michelangelos Kartons für die Sala del Maggior Consiglio gehört habe. Mehrere Zeichnungen belegen, dass er beide Kartons gesehen und verarbeitet hat. Eine dieser Skizzengilt als frühester bildlicher Beleg für die Rezeption von Leonardos Anghiari-Schlacht. Neben Leonardo waren es laut Vasari das Studium der „cose vecchie di Masaccio“ und die Werke Michelangelos, die seinen Stilwandel bewirkten. Er habe sich mit mehreren Malern befreundet, darunter Fra Bartolomeo und habe Freundschaft mit Taddeo Taddei geschlossen, für den er zwei Bilder gemalt habe, die in der Art Peruginos gehalten waren. 1506 malte er für Agnolo Doni dessen Porträt und das seiner Frau. Die Tatsache, dass Raffael zu den gleichen Kreisen Zutritt erlangte, für die auch Michelangelo in diesen Jahren arbeitete >L.XI.7 zeigt, dass es ihm in relativ kurzer Zeit gelang, sich gut in Florenz zu etablieren, auch wenn die Auftragslage für ihn nicht optimal war.

Obwohl keine einzige Quelle darüber unterrichtet, wann und wie sich Raffael und Leonardo in Florenz begegnet sind, besteht kein Zweifel daran, dass der 31 Jahre jüngere Raffael Zugang zu Leonardos Werkstatt gehabt haben muss. Als Unterpfand dafür gilt nicht nur seine Zeichnung nach der Mona Lisa >L.XI.5, sondern auch seine Zeichnungnach Leonardos stehender Leda mit dem Schwan, von der mehrere erst in Mailand ausgearbeitete Versionen existieren. Raffaels Zeichnung belegt, dass sich Leonardo schon in Florenz mit dieser Bildidee beschäftigt haben muss. Das erste Werk, in dem Raffael ein Vorbild Leonardos eigenständig verarbeitet hat, ist das Porträt der Maddalena Strozzi, der Gemahlin des Agnolo Doni, von 1506. Die lebhafte Farbigkeit, das Bildlicht, die Klarheit der Landschaft und die kostbaren Juwelen der nicht gerade durch physische Schönheit brillierenden Dargestellten geben dem Bildnis eine realistische Note, die seinem Vorbild fremd ist. Gegenständliche Abbildtreue und körperliche Präsenz haben gegenüber dem malerischen Eigenwert absoluten Vorrang. Diese Aussage entsprach den Erwartungen der bürgerlichen Klientel, mit der es Raffael in Florenz zu tun hatte. Auch ein weiteres weibliches Bildnis, das in der Florentiner Zeit entstanden ist, zeigt wie er den Typus der Mona Lisa in eine bodenständige und naturalistische Sprache übersetzt. Das Porträt einer Unbekannten, die wegen des in ihren Armen ruhenden Einhorns als Dame mit dem Einhorn bezeichnet wird, neuerdings aber mit Maddalena Strozzi identifiziert wurde, sitzt in einer ähnlichen Loggia wie die Mona Lisa. Obwohl dieser Prototypus auch noch für Raffaels spätere Frauenporträts eine gewisse Rolle spielen sollte, blieb er bei seiner vergleichsweise „nüchternen“ und ungeschminkten Auffassung, die in auffälligem Kontrast zu seinem idealisierten Madonnenbild steht, dessen Typologie er in den Florentiner Jahren entwickelt hat.

Unter den Madonnenbildern der Florentiner Zeit ragen vier von 1506 bis 1508 entstandene Werke heraus, in denen sich Raffael von Peruginos Stilsprache emanzipiert, indem er sich Leonardos Vision des bewegten und vermenschlichten Marienbildes aneignet und dem er durch die Verbindung von klassischer Ausgewogenheit und sublimierter Innigkeit eine neue Dimension verlieh. Dieser Schritt war nur an einem Ort wie Florenz möglich, wo das Marienbild während des 15. Jahrhunderts formal und ikonographisch eine große Vielfalt und eine absolut einzigartige Qualität erreicht hatte. Angesichts des Facettenreichtums, an das die Florentiner durch die gemalten und skulptierten Marienbilder von Donatello, Filippo Lippi, Botticelli, Luca della Robbia und anderen gewöhnt waren, musste eine innovative Kreation hier umso nachhaltiger wirken, wie dies die Reaktionen auf die öffentliche Ausstellung von Leonardos Karton der Hl. Anna Selbdritt von 1501 belegen >L.XI.7. Der entscheidende formale Gewinn dieser Invention gegenüber der älteren Tradition war die Abwendung vom Typus des halbfigurigen Andachtsbildes. Sie ermöglichte die Einbettung der Figuren in eine reale Landschaft, in der sie miteinander agieren. Aus dem Bildtypus der auf einem Grasgrund sitzenden Madonna dell’Umiltà, den Masolino und Gentile da Fabriano in die Malerei des Andachtsbildes eingeführt hatten, wird eine Komposition, in der sich die heiligen Figuren wie reale Personen bewegen und verhalten. Raffael entwickelte diese Botschaft des Leonardo-Kartons weiter. In Marias heiterem Spiel mit dem Christuskind und dem Johannesknaben konnte sich jede junge Mutter wiedererkennen. Die Vorzeichnungen für die 1506 und 1507 entstandenen Florentiner Madonnen: die Madonna vom Belvedereund die sogenannte Bella Giardinierastehen den der Realität abgelauschten Szenen und Gestalten noch näher als die Gemälde, die trotz dieser Nähe zur Realität die Distanz des Heiligen wahren. Seine um 1507 im Auftrag des Florentiners Lorenzo Nasi gemalte Madonna mit dem Stieglitz, wie auch die für Domenico Canigianigemalte Hl. Familie gehören zu den Arbeiten, die als Marksteine auf Raffaels Weg zum Stil der römischen Zeit gelten. Den Schlussakzent in dieser Bildgruppe setzt die Hl. Familie Canigiani, die 1508 kurz vor Raffaels Abreise von Florenz entstand und die wohl daher unvollendet blieb, so dass die Engelsputten im oberen Teil des Bildes später zugedeckt wurden. Der konstruiert wirkende Charakter der figürlichen Komposition geht vielleicht zu Lasten der Innigkeit des Ausdrucks, steigert aber die Monumentalität. Die Handlung im Bild vollzieht sich zwischen dem Christuskind, das zwischen den Knien der Mutter steht und seinen Fuß auf ihren Fuß setzt – eine Anspielung auf das Apokalyptische Weib der Offenbarung Johannis, und dem Johannesknaben, der in seinen Händen einen Stieglitz (Distelfink) als ein Symbol der Passion hält, den das Jesuskind mit einem wissenden Blick liebkost. Das formale Erkennungsmerkmal der ganzfigurigen Andachtsbilder, die z.T. eine erhebliche Größe erreichen, ist die pyramidale Anordnung, mit der die Figurengruppe wie durch eine Aura gegen die Landschaft und gegen die Umgebung abgegrenzt wird. Das Gleichgewicht zwischen der göttlichen Natur und der diesseitigen Natürlichkeit der Figuren macht das Besondere der Florentiner Madonnen Raffaels aus.

Die Grablegung Christi, die 1507 in Perugia vollendet wurde und die ursprünglich das Mittelbild des Altars der Cappella Baglioni in der Franziskanerkirche von Perugia war, hat Raffael laut Vasari in Florenz durch den Karton vorbereitet. Hiller von Gaertringen hat die durch Entwürfe belegte Entstehungsgeschichte des Bildes als ein „bis dato nicht gekanntes Ringen um die beste Lösung“bezeichnet. Raffaels Ausgangspunkt war Peruginos Beweinung Christifür das Florentiner Klarissenkloster S. Chiara von 1501 mit einer wegen ihrer statischer Verfestigung kaum vergleichbaren Figurenanordnung. Sie enthält das für Raffael entscheidende Motiv des emporgehobenen Grabtuches, auf dem der Leichnam liegt. Tatsächlich beweisen die frühesten Entwürfe für die Pala Baglioni, dass Raffaels Ausgangspunkt Peruginos kompositionelle Anlage war. Seine weitere Arbeit an der Komposition betraf vor allem den Körper Christi und führte zu einer einschneidenden Änderung, da nun aus der Grablegung eine Grabtragungwurde, wie der Entwurf in London (British Museum, Nr. 1855-2-14 1 recto) zeigt. Die formale Anregung dazu stammt von einem Kupferstich Mantegnas und von antiken Sarkophagreliefs mit der Grabtragung des Meleager. Raffaels Aufnahmefähigkeit für interessante Motive und seine Bereitschaft, sich unterschiedliche formale Traditionen anzueignen, hängt wohl auch damit zusammen, dass er nicht in Florenz aufgewachsen war. Er kam als Fremder in diese Stadt und konnte ihre Künstler und Kunstwerke mit dem Blick des unvoreingenommenen Außenseiters wahrnehmen. Ein markantes Beispiel dafür ist die Altartafel, die er in Florenz unvollendet zurückließ, als er nach Rom berufen wurde. Die als Madonna del Baldacchinobekannte Tafel wurde für die Kapelle der Familie Dei in S. Spirito gemalt, wo sie aber niemals aufgestellt wurde. Ihr Ausgangspunkt ist Filippino Lippis Altarbild für den „Rat der Acht“von 1486, von dem Raffael das Schema der Komposition übernommen hat und vor allem die beiden flatternden Engel im oberen Teil. Noch deutlicher wird das kompilatorische Vorgehen des Urbinaten an der bereits in Rom entstandenen Tafel der Madonna di Foligno, die zwei Florentiner Motive miteinander verbindet. Die Haltung der Maria geht auf Leonardos unvollendete Anbetung der Könige zurück, das Kind ist dagegen eine Adaption des Christuskindes aus Michelangelos Tondo Doni >L.XI.7. Neben diesen kreativen Aneignungen fremder Erfindungen blieben es jedoch auch in den römischen Jahren Werke von Perugino, auf die Raffael für seine Kompositionen von sakralen Sujets zurückgriff.

 

zu Lektion XII

Madonna dell’Umiltà

Um und nach 1400 bildet sich in Italien als Gegenbild zur thronenden Maria (Madonna in Maestà) ein neuer Typus des ganzfigurigen Marienbildes heraus, bei dem die jugendliche, manchmal sogar kindlich wirkende Gottesmutter in reich gefältelten Gewändern und das Kind anbetend, auf dem Boden kauert, meistens inmitten einer mit Blumen bewachsenen Wiese. Die humilitas, die darin zum Ausdruck kommt, hat zur Bezeichnung „Madonna dell’umiltà“ geführt. Diese Ikonographie, in der sich eine neue Spiritualität spiegelt, die in der Nachfolge des hl. Franziskus die göttlichen Gestalten vermenschlicht hatte und die Glaubensinhalte narrativ ausschmückte, findet sich in der Stilphase der internationalen Gotik vor allem im Bereich der kleinformatigen Andachtsbilder und war besonders in Oberitalien verbreitet (Stefano da Verona, Pisanello). Nördlich der Alpen entwickelt sich daraus der Bildtypus der Maria im Rosenhag.

 

Literatur: Hannelore Sachs, Ernst Badstübner, Helga Naumann: Erklärendes Wörterbuch der christlichen Kunst, Hanau o. J. S. 298; Sabine Pöschel: Handbuch der Ikonographie, Darmstadt 2005, S. 118–119.