Leonardo, Filippino Lippi und der Hochaltar der Santissima Annunziata

Einer der bedeutendsten kirchlichen Aufträge dieser Jahre in Florenz war der neue Hochaltar der Kirche Santissima Annunziata, der nach der Vollendung der Rotunde >L.IV.4 notwendig geworden war. Er wurde doppelseitig angelegt, da er sich sowohl auf den Mönchschor wie auf das Mittelschiff der Kirche richten sollte. Im September 1500 wurde der Bildhauer und Architekt Baccio d’Agnolo mit der Anfertigung des Gehäuses betraut, im September 1503 erhielt Filippino Lippi den Auftrag zur Bemalung der Vorder- und Rückseiten. Der Sohn von Filippo Lippi galt um 1500 als einer der hoffnungsvollsten Florentiner Maler. Als er mit nur 45 Jahren im April 1504 starb, war von der Kreuzabnahme nur der obere Teil vollendet. Vasari zufolge war dem Auftrag eine Intervention Leonardo da Vincis vorausgegangen. Als dieser sein Interesse bekundete, habe ihm Filippino den Vortritt gelassen. Nachdem Leonardo dann aber die Patres eine ganze Weile hingehalten habe, „ohne irgendetwas zu beginnen“ und schließlich von der Angelegenheit Abstand nahm, hätten sich die Serviten erneut an Filippino gewandt, der jedoch über dieser Arbeit verstarb. Vasaris Angaben könnten insofern einen wahren Kern enthaltenals Leonardos Vater als Notar für die Serviten tätig war, und er damit über die Projekte des Konvents informiert gewesen sein dürfte. Eine Quelle von 1575 überliefert zudem, dass Leonardo einen Entwurf für den Altar in Form eines Triumphbogens gemacht habe. Vielleicht war er also der Ideator des Altaraufbaus, der einen eleganten Übergang zur Rotunde schuf.

Im August 1505 wurde der Auftrag zur Fertigstellung der Altartafeln und des gesamten malerischen Beiwerks dem seit vielen Jahren in Florenz lebenden Perugino übergeben, der ihn bis zum November 1507 erfüllte. Perugino vollendete die von Lippi begonnene Kreuzabnahme im Wesentlichen nach dessen Konzept, während er die Himmelfahrt Mariae und die übrigen, aus Einzelfiguren von Heiligen bestehenden Teile des Altars nach eigenem Entwurf ausführte. Schon 1546 wurde der Altar verändert, wobei man die beiden großen Tafeln entfernte. Vielleicht war der Grund für diesen nicht durch äußere Erfordernisse bedingten Eingriff die Kritik, die schon bei der Enthüllung geäußert worden war und über die Vasari berichtet. Demnach sollte die Himmelfahrt Mariae ursprünglich die dem Kirchenraum zugewandte Altarfront einnehmen. Da das Bild aber „so gewöhnlich“ ausfiel, habe man die Kreuzabnahme auf der Vorderseite angebracht. Laut Vasari wurde das Werk nach seiner Fertigstellung von jungen Künstlern kritisiert, weil sich Perugino derselben Figuren bedient habe wie in seinen früheren Werken. Der Maler habe eingewandt, dass er dies nicht verstehe, da er nur die nämlichen Figuren gemalt habe, für die man ihn zuvor gelobt hatte. Von den Künstlern, die Perugino offen kritisierten, nennt Vasari namentlich Michelangelo, der die beleidigenden und missbilligenden Äußerungen Peruginos über seine eigenen Werke damit gekontert habe, dass er seinerseits dessen Malerei als geschmacklos („goffo nell’arte“) bezeichnete. Ob er sich damit auf den Altar der Annunziata oder auf andere Werke bezog, bleibt offen. Laut Vasari verklagte Perugino Michelangelo wegen dieser Beleidigung, erhielt aber vor dem städtischen Rat der acht (Consiglio degli otto) keine Genugtuung.

Unabhängig davon, ob die Ereignisse sich im Einzelnen so zugetragen haben, wie sie Vasari schildert, ist die durch ihn dokumentierte Kritik an Perugino, der bis dahin als einer der größten Maler seiner Epoche galt, symptomatisch für die sich während dieser Jahre in Florenz vollziehenden künstlerischen Veränderungen. Das durch die äußeren Umstände erzwungene Gemeinschaftswerk in einer der wichtigsten Kirchen von Florenz demonstrierte die Kluft zwischen der älteren und der jüngeren Generation und machte mit dieser direkten Konfrontation des Alten und des Neuen deutlich, wie sehr sich die Auffassung von einer sakralen Historia geändert hatte. Der obere Teil der Kreuzabnahme wird in Filippinos Interpretation zu einem dramatischen Vorgang mit heftig bewegten Akteuren, die den in sich zusammenfallenden leblosen Körper Christi zu halten und aufzufangen versuchen. Die Instabilität des Augenblicks wird durch die beiden in den leeren Himmel ragenden Leitern erhöht. Filippino orientierte sich hier nicht mehr an der älteren Florentiner Tradition, die noch für Fra Angelico (Florenz, Museo di S. Marco) verbindlich gewesen war, sondern griff auf seine eigene, gerade vollendete Kreuzigung des Apostels Philippus in der Strozzi-Kapelle in S. Maria Novella zurück. Die bis dahin festen ikonographischen Schemata folgende Kreuzabnahme wird bei ihm zu einer wahren Historia, also einem zeitlich genau definierten Ereignis mit handelnden Personen. Perugino behielt zwar im unteren Teil des Bildes Filippinos Konzeption bei, eliminierte aber alle zu heftig bewegten Posen. Noch statischer ist seine Komposition der Himmelfahrt Mariens, die den dogmatischen Charakter dieses Ereignisses betont. So hat der unter Maria stehende Apostel Thomas bereits den Gürtel empfangen, der als Unterpfand der Aufnahme Mariens in den Himmel gilt. Der Vergleich mit Filippino Lippis Darstellung des gleichen Themas in der Carafa-Kapelle in S. Maria sopra Minerva in Rom gibt eine Vorstellung davon, welche dramatische Zuspitzung Filippino diesem Thema gegeben hätte.

zu 7. Leonardo und das neue Andachtsbild

Historia

Der von Leon Battista Alberti in die Kunstliteratur eingeführte Begriff Historia bezeichnet „jede Darstellung handelnder Menschen [….] eine biblische Geschichte genauso wie eine mythologische oder eine im engeren Sinne historische […] Szene.“ (Büttner-Gottdang 2006, 207). Wegen ihrer ikonographischen und formalen Komplexität besetzt die „historia“ innerhalb der von der akademischen Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts etablierten Hierarchie der malerischen Gattungen den höchsten Rang. 

 

Literatur: Frank Büttner, Andrea Gottdang: Einführung in die Ikonographie. Wege zur Deutung von Bildinhalten, München 2006.