Leonardos Anghiari-Schlacht

Leonardos Karton ist durch mehrere Kopien überliefert, von denen die von Peter Paul Rubens überarbeitete Zeichnung eines unbekannten Künstlers des 16. Jahrhunderts die bekannteste, wenn auch nicht die genaueste Kopie ist. Thema dieser Szene ist der Kampf mehrerer Reiter um eine Standarte, von der nur die Stange sichtbar ist, welche die ganze Gruppe verbindet. Leonardo hatte von den Auftraggebern einen genauen Bericht über den Ablauf der Schlacht erhalten, die sich in der Ebene von Anghiari in der Nähe einer Brücke über den Tiber abgespielt hatte. Nachdem zunächst Niccolò Macchiavelli für den Programmentwurf verantwortlich gemacht worden war, hat sich heute die Ansicht durchgesetzt, dass diese Rolle eher dem seit 1498 als primo Cancelliere der Republik amtierenden Marcello Virgilio Adriani zuzuschreiben ist. Ihm fiel wohl auch die Aufgabe zu, die Chroniken und historischen Texte im Hinblick auf die malerische Interpretation auszuwerten. Strittig ist nach wie vor, ob Leonardos Planung eine sehr viel breitere Komposition vorsah, als sie von den Kopien nach dem ausgeführten Wandbild bzw. dem Karton überliefert wirdoder ob sich sein Projekt von Anfang an auf die Szene der dramatischen Konfrontation der Heerführer konzentrieren sollte. Entsprechend kontrovers ist die Interpretation seiner kleinformatigen und flüchtigen Skizzen für kämpfende und galoppierende Reitergruppen, zumal deren Konnex mit der gesamten Komposition offen bleibt. Die von Pedretti vorgeschlagene Rekonstruktion einer breiten und figurenreichen Komposition, die alle diese Motive einschlösse, würde mit der These korrespondieren, dass sich das Gemälde friesartig über die gesamte Ostwand erstrecken sollte. Andererseits ist jedoch nicht zu leugnen, dass Leonardo nur die zentrale Gruppe mit dem Kampf um die Standarte vollständig ausgearbeitet und auf die Wand übertragen hat. Mit dieser von höchster Dramatik erfüllten Szene eines Reiterkampfes revolutionierte er die Auffassung des Schlachtenbildes. Statt die beiden feindlichen Heerformationen einander gegenüber zu stellen, wie dies Paolo Uccello in der ihm wohl bekannten Schlacht von S. Romanogetan hatte, wird hier ein furioser Nahkampf gezeigt, dessen Ausgang angedeutet, aber noch nicht entschieden ist. Die Protagonisten des Kampfes sind links die beiden feindlichen Söldnerführer Niccolò und Francesco Piccinini, die für Pisa ins Feld zogen und von Piergiampaolo Orsini, dem Anführer des Heeres der Florentiner, und von Ludovico Scarampo als Befehlshaber der päpstlichen Truppen besiegt wurden. Links versucht der mit verzerrtem Gesicht dargestellte Fahnenträger die Flucht. Ihm eilt der Reiter mit dem erhobenen Schwert zu Hilfe, die beiden Angreifer und Verfolger auf der rechten Seite sind nur aufgrund ihrer strategisch vorteilhaften Position als die designierten Sieger auszumachen. Leonardo veranschaulicht die Verwirrung und die Ungewissheit, die das Kriegsgeschehen kennzeichnet. Dies entspricht seinen Aussagen darüber, wie eine Schlacht darzustellen sei, wie er sie in seinen zwischen 1490 und 1498 entstandenen Bemerkungen über das Malen von Schlachten niedergelegt hatte.

Dank der Zahlungen im Zeitraum zwischen Februar 1504 und Mai 1506 an Leonardo, seine Lieferanten, Schreiner, Gehilfen und Handlanger lassen sich der Verlauf der Arbeiten und der Materialverbrauch einigermaßen nachvollziehen. Der Maler erhielt eine Anzahlung von 35 Golddukaten und wurde dann, so lange er arbeitete, monatlich mit 15 Golddukaten entlohnt. Die Arbeitsbedingungen waren so komfortabel, wie es Leonardos Ruhm gebührte. Für die Arbeit an dem Karton wurde ihm ein großer Saal (Sala del Papa) im Konvent von S. Maria Novella zur Verfügung gestellt, dessen Dach eigens dafür repariert worden war. Das Logis, die ihm zuarbeitenden Handwerker und Handlanger, die Materialien, d.h. Leinwände, Papier, Gips, Öl und Farben wurden ihm von der Stadtverwaltung gestellt. Der Karton sollte Ende Februar 1505 vollendet sein; man gestand ihm jedoch zu, die Ausmalung schon während der Arbeit am Karton zu beginnen. Nachdem Ende Februar 1505 ein fahrbares Gerüst konstruiert worden war, scheint Leonardo im März mit der Malerei begonnen zu haben. Er arbeitete in Öltechnik auf einer Gipsgrundierung, was zu maltechnischen Problemen führte, da die Farbe nicht gut auf der Grundierung haftete. Obwohl er am 6. Juni 1505 notierte, dass er beim Malen durch ein großes Unwetter überrascht wurde, das den Karton beschädigte, scheint er danach für etwa ein Jahr ohne wesentliche Unterbrechungen an dem Auftrag gearbeitet zu haben, bevor er Ende Mai 1506 einer Einladung des französischen Gouverneurs von Mailand folgte. Aus diesem Grund ließ er sich am 30. Mai 1506 für drei Monate beurlauben, verschob jedoch seine Rückkehr immer wieder, bis schließlich König Louis XII den Florentiner Stadtvätern im Januar 1507 ausrichten ließ, dass er „ihren Maler, den Meister Leonardo brauche, der sich in Mailand aufhält“, da er wünsche, dass dieser für ihn „einige Sachen“ mache. Diesem nur oberflächlich als Wunsch kaschierten Befehl musste man sich beugen, denn der französische König war ein wichtiger Verbündeter der Republik Florenz. Vom August 1507 bis Ostern 1508 hielt sich Leonardo wegen Erbschaftsangelegenheiten erneut in Florenz auf. Ob er während dieser Zeit noch an dem Gemälde gearbeitet hat, ist umstritten. Nachdem der Saal nach der Rückkehr der Medici in eine Kaserne für die Wachen verwandelt worden war, wurde die Wand im Januar 1513 mit einer Verschalung versehen, die das Gemälde schützen sollte. Als die Medici 1527 für kurze Zeit erneut vertrieben wurden >L.VIII.5, wurde der Saal von diesen Einbauten wieder befreit und offenbar erneut seiner früheren Funktion zugeführt. Auch die Malerei Leonardos war spätestens seit dieser Zeit wieder sichtbar, wie der Brief des Anton Francesco Doni vom 17. August 1549 bestätigt, der eine „Gruppe mit Pferden und Männern“ von Leonardo erwähnt, die „una cosa miracolosa“sei . Es wird vermutet, dass sich die von Vasaris Werkstatt zwischen 1570 und 1571 ausgeführte Schlacht von Marciano auf der Ostwand an der Stelle von Leonardos Kampf um die Standarte befindet. Da bekannt ist, dass Vasari sein Fresko auf eine eigens eingezogene Futterwand gemalt hat, hinter der sich ein Hohlraum nachweisen lässt, wird angenommen, dass sich hinter der Futterwand noch Reste von Leonardos Wandbild befinden könnten. Als Hinweis darauf gilt die Beschriftung einer Fahne, die sich etwa in der Mitte des oberen Bildrandes befindet und die lautet „CERCA TROVA“(suche und finde).

zu 4. Michelangelo’s Schlacht von Cascina