Die Sixtinische Kapelle und ihre Ausmalung unter Sixtus IV.

Innerhalb des Vatikan verbindet sich mit Sixtus IV. vor allem die Errichtung der nach ihm benannten Sixtinischen Kapelle, bei der es sich um die cappella maior des Palastes handelt. Als Architekt galt seit Vasari der aus Urbino stammende Baccio Pontelli, der aber erst ab 1482 in Rom nachweisbar ist, also ab einem Zeitpunkt, als das Bauwerk bereits vollendet war. Sicher ist hingegen, dass der aus Florenz stammende und seit 1450 in Rom nachweisbare Giovannino de’Pietro de’Dolci (1415–1485), der 1481 den Vertrag mit den Malern abschloss, für den Bau der Kapelle mit 1500 Dukaten entlohnt wurde, die 1485 seinem Erben ausbezahlt wurden. Ungeklärt bleibt jedoch, ob er auch der entwerfende Architekt war oder nur der mit der Ausführung betraute Baumeister [Roettgen 1997, 82–83]. Das riesige Gebäude, dessen Maße (40,23 m Länge, 20 m Höhe, 13,41 m Breite) den Maßverhältnissen des Salomonischen Tempels entsprechen, wie sie das Alte Testament angibt, wurde auf den Fundamenten der älteren cappella maior aus dem 14. Jahrhundert errichtet. Der extremen Steilheit der Wände wirken die stark betonten horizontalen Linien der gemalten Wandgliederung entgegen, die in drei etwa gleich hohe Register unterteilt ist. Auf die mit einem gemalten Vorhang versehene Sockelzone, für die später nach Raffaels Entwürfen Gobelins mit den Darstellungen aus der Geschichte der beiden Apostelfürsten Petrus und Paulus >L.XIII.6 angefertigt wurden, folgt die Zone der zwölf Wandbilder, die als fingierte Wandöffnungen konzipiert sind. Das gemalte Wandsystem besteht aus reich ornamentierten Pilastern, die ein voll ausgebildetes Abschlussgesims tragen, in dessen Fries sich Inschriften befinden, die sich auf die Bilder beziehen. Das Fenstergeschoss, das gegenüber der unteren Wand etwas zurückspringt, lässt Raum für einen Laufgang. Je ein Fenster wird von zwei illusionistisch gemalten Nischen mit Muscheldekor im Bogenfeld und einem ganzfigurigen Papstporträt eingerahmt. Fenster und Nischen bilden zusammen eine abgestufte Dreiergruppe, deren Vorbild die Wandgliederung ist, die Brunelleschi den Querarmen von S. Lorenzoin Florenzgegeben hatte. Besonders an dieser Stelle wird deutlich, wie eng die Architektur der Kapelle mit der gemalten Wandgliederung verzahnt ist. Die Wandjoche des Fenstergeschosses sind durch Pfeiler getrennt, die ein vorkragendes steinernes Gesims tragen, auf dem der halbrunde Bogen des Fensters ruht.

Die bei der Einweihung der Kapelle im Jahr 1483 vollendeten monumentalen Wandbilder sind auf dem Gebiet der Malerei die wichtigste künstlerische Leistung im Pontifikat Sixtus' IV. Der Papst zog für diesen Auftrag Florentiner Künstler heran, die schon vorher für den päpstlichen Hof gearbeitet hatten. Neben Perugino wurden Ghirlandaio, Botticelli und Cosimo Rosselli beauftragt. Später kam Luca Signorelli aus Cortona dazu, ein Schüler von Piero della Francesca. Während Perugino 1478/9 die 1609 zerstörte Kapelle der Immaculata Conceptio in Alt-St. Peter ausgemalt hatte, die im Dezember 1479 eingeweiht wurde, hatte Domenico Ghirlandaio zusammen mit seinem Bruder Davide 1475/6 die Ausmalung der Biblioteca Latina im Vatikan übernommen, bei der ihnen die 1454 von Andrea del Castagno ausgemalte Biblioteca Graeca zum Vorbild diente. Mit der Altarwand und drei weiteren Bildern hatte Perugino mengenmäßig den größten Anteil an diesem Auftrag. Des spricht dafür, in ihm den leitenden Maler des Unternehmens zu sehen, der vielleicht auch für die künstlerische Gesamtkonzeption verantwortlich war. Er ist jedenfalls der einzige Künstler, der in der Kapelle oberhalb der Taufe Christi im ersten Kompartiment der Nordwand seine Signatur angebracht hat. Darüber hinaus hat er sich durch ein Selbstbildnis an prominenter Stelle verewigt. Zusammen mit anderen Persönlichkeiten, darunter auch der an einem Winkelmaß erkennbare Architekt Giovannino de'Dolci, wohnt er dem Ereignis der Schlüsselübergabe am rechten Bildrand bei.

Die Darstellungen aus der Christusgeschichte bedecken die Nordwand und erhalten das volle Licht aus den Fenstern der Südseite. Diese Lichtsituation steht mit dem Inhalt und mit der theologischen Aussage in Einklang. Auch die Position des Papstthrons, der sich gegenüber den Szenen aus dem Neuen Testament befindet, offenbart das durchdachte und in sich schlüssige Gesamtkonzept der Kapelle. Zwischen Architekt und Maler muss es bereits in der Planungsphase eine enge Zusammenarbeit gegeben haben. Ernst Steinmann hat 1901 erkannt, dass die Szenen aus dem Leben Christi und die Darstellungen aus dem Leben Mosis Parallelen zeigen, die sich an der Concordatio Veteris et Novi Testamenti orientieren, d.h. einer typologischen Struktur folgen. Er sah in der Gegenüberstellung der lex scripta und der lex evangelica den Einfluss franziskanischen Denkens, was er als Indiz für den Anteil des Papstes an der Gestaltung des Programms interpretierte. Weiterhin nahm er an, dass die parallelen Ereignisse aus dem Leben und Wirken der beiden Gesetzgeber auf herausragende Ereignisse im Pontifikat Sixtus' IV. anspielen sollten. Dieser Interpretation setzte Leopold Ettlinger die These entgegen, dass die malerische Dekoration als Legitimation des Papsttums zu verstehen sei, die zwar persönliche Aspekte aufweise, aber in einem größeren kirchenpolitischen Kontext gesehen werden müsse. Dazu passend betone das Programm die von Gott verliehene päpstliche Autorität und den daraus resultierenden Führungsanspruch, der durch die Papstbildnisse bekräftigt werde [Ettlinger 1965].

Durch die Entdeckung der auf den Inhalt bezüglichen Beischriften (tituli) der Fresken im Fries des Abschlussgesimses, die während der 1965 begonnenen Restaurierung gelang, wurde diese Interpretation im wesentlichen bestätigt. Den Beweis für die Authentizität der Texte, als deren Urheber Sixtus IV. selbst vermutet wurde, liefert eine Notiz (avviso) aus dem Jahr 1513. Sie nennt im Zusammenhang mit den Zellen für die Kardinäle beim Konklave zur Wahl Leos X. zwölf tituli, die mit den aufgefundenen Beischriften weitgehend übereinstimmen. In ihnen offenbaren sich die entscheidenden Gedanken des inhaltlichen Konzepts, das sich hinter den teilweise nur schwer verständlichen Parallelisierungen verbirgt und das den Bildern nicht direkt zu entnehmen ist. Die Texte beziehen sich nicht auf das jeweils zentrale Ereignis, sondern stellen einen theologischen Kommentar zu den in jedem Bild enthaltenen Vorgängen dar. Hinter dem erzählerischen Reichtum der Bilder verbirgt sich ein komplexes Programm, das wohl der Auswahl der verschiedenen Episoden zugrunde lag, dessen Entschlüsselung bisher jedoch nur in Teilen gelungen ist.

Stellvertretend für den Zyklussoll die mit diesem Verfahren verbundene Erzählweise und Bildstruktur an vier Beispielen verdeutlicht werden. Da sich die ursprünglich auf der Westwand befindlichen Bilder der Geburt Christi und der Auffindung Mosis nicht erhalten haben und ihre tituli nicht bekannt sind, beginnt die Parallelisierung heute mit dem Begriff der observatio. Dieser Begriff wird in den beiden ersten Wandfeldern (neben dem Jüngsten Gericht >L.XII.6) veranschaulicht, in denen es um die Erneuerung des alten Bundes zwischen Gott und den Menschen und die Institution des neuen Bundes geht. Ohne die Kenntnis des übergreifenden Titulus, in etwa mit ‚Befolgung der Regel’ zu übersetzen, wäre es kaum möglich, die Kriterien zu erkennen, von denen die Auswahl der einzelnen Szenen in beiden Bildfeldern bestimmt wurde. Im Mosesbild von Perugino sind Ereignisse dargestellt, die im 2. Buch Mosis (Exodus) geschildert werden. Im mittleren Hintergrund ist der Abschied Mosis und seiner Familie von seinem Schwiegervater Jethro dargestellt und im linken Vordergrund ihre Reise nach Ägypten. Die Mitte wird von der Begegnung Mosis mit dem Engel Jahwes beherrscht, der ihn töten soll, weil Moses sich geweigert hatte, seinen Sohn Eliezer zu beschneiden. Um Gott zu versöhnen, nimmt Moses' Frau Zippora die Beschneidung vor, was als Erneuerung des Bundes mit dem Volk Israel gedeutet wird.

Das typologische Pendant der Nordwand stellt die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer als zentrales Ereignis dar. Im Vordergrund nimmt Johannes, umgeben von viel Volk, die Taufe Christi im Jordan vor, darüber erscheinen die Taube des Heiligen Geistes und Gottvater in einer Engelsglorie. Im Mittelgrund links ist die Predigt des Täufers vor der Menge zu sehen, und sein Gang an den Jordan, wo zwei Bekehrte (Neophyten) in Erwartung der Taufe stehen. Im rechten Mittelgrund ist die Predigt Christi dargestellt, die auf die Taufe folgt und die den Beginn seines Lehramtes bezeichnet (Ev. Matth. 4:17). Zwischen den belebten Mittelgrund und den gebirgigen Hintergrund schiebt sich ein riesiger Gebäudekomplex, der nichts mit der biblischen Erzählung zu tun hat. Tempelfront, Kuppel, Türme, ein an das Kolosseum erinnerndes Gebäude, ein Triumphbogen und die Mauern wirken wie die Abbreviatur einer Stadtvedute von Rom.

Das zweite Bildpaar, an dem sich die Erzählstruktur erläutern lässt, ist das vom Altar aus gesehene fünfte bzw. vorletzte Paar, das unter dem Titulus der conturbatio (Verwirrung) steht. Botticelli hat auf der Moses-Seite die Bestrafung der Rotte Korah dargestellt und die Bestätigung Aarons im Priesteramt. Als Gottes Strafe für Korahs Aufruhr gegen Moses und Aaron werden er und seine Anhänger mit ihren Häusern und ihrer Habe von der Erde verschluckt (4. Mose 16:32). Dies ist im linken Teil des Bildes durch die in den Schlund herabstürzenden Männer dargestellt, wohl Datham und Abriam. Die Mitte des Bildes nimmt die dramatische Szene der Verbrennung der Rebellen ein, die sich vor dem Altar der Stiftshütte ereignet, als sie ihre Opfer darbringen. Gott nimmt nur das Opfer des rechts neben dem Altar stehenden Aaron an, der damit in seinem Priesteramt bestätigt wird. Hinter der Hauptszene erhebt sich ein ruinöser Triumphbogen, der dem römischen Konstantinbogen nachgebildet ist. Die Inschrift in der Attika, die aus dem Brief an die Hebräer (5:4) stammt, kommentiert das im Vordergrund dargestellte Ereignis: „Und niemand nimmt sich selbst die Ehre, sondern er wird berufen von Gott gleichwie Aaron”. In der Gruppe der rechten Bildhälfte ist die Steinigung Mosis dargestellt, die dem Aufruhr der Rotte Korah vorausgeht. Als das murrende Volk Moses und Aaron steinigen will, weil sie es aus Ägypten hinweg geführt haben, wird es von Josua daran gehindert (4. Mose 14:6–10).

In der korrespondierenden Darstellung aus dem Christuszyklus hat Perugino die Einsetzung des Apostels Petrus als Nachfolger Christi dargestellt. Die Szene wird im Matthäus-Evangelium geschildert und bezieht sich auf das Versprechen Christi, Petrus die Schlüssel zu verleihen, mit denen er die Binde- und Lösegewalt über Himmel und Erde erhalten soll (Matth. 16:19). Dieses für das Papsttum zentrale Ereignis findet im Vordergrund eines weiten Platzes statt, der im Hintergrund durch drei reich geschmückte Gebäude gesäumt ist. Auf dem Platz spielen sich zwei weitere Ereignisse ab. Rechts ist die Steinigung Christi zu sehen, die an zwei Stellen des Johannes-Evangeliums beschrieben wird (Joh. 8:59, 10: 31). Beide Male steinigen die Juden Jesus, weil er sich als Gottes Sohn bekennt. In der Szene auf der linken Seite ist die Zahlung der Zinsgroschens dargestellt, die auf die Schlüsselübergabe folgt (Matth. 17: 24–27). Nach dem Matthäus-Evangelium ist es Petrus, der den Tribut an den Steuereintreiber leistet, hier dagegen ist es Christus selbst, der den Tribut an die weltliche Macht übergibt. Damit wird der weltliche Machtanspruch der Kirche bekräftigt, ein Aspekt, der sich auch im zweimaligen Abbild des Konstantinbogens im Hintergrund spiegelt. Ettlinger hat das Bauwerk als Anspielung auf die Konstantinische Schenkung (Constitutum Constantini) interpretiert, die dem Papst neben der sakramentalen Binde- und Lösegewalt kaiserliche Insignien und Machtbefugnisse sowie die königliche Autorität übertrug. Der Anspruch des Papsttums auf die Ausübung weltlicher Herrschaft spielte gerade während des Pontifikates Sixtus IV. eine dominierende Rolle. Die Inschrift in den beiden Attiken der seitlichen Triumphbögen thematisiert den Vergleich zwischen Salomons Tempel und dem Tempel, den Sixtus IV. geweiht hat. („Du, Sixtus IV., der in seinen Werken Salomon nicht gleichkommt, ihn in seiner Frömmigkeit jedoch übertrifft, hast diesen großartigen Tempel geweiht”). Während der Triumphbogen in Botticellis Rotte des Korah ruinös ist, sind die Triumphbögen in der Schlüsselübergabe unversehrt. Auch der mittlere Zentralbau, dessen Kuppel an die Florentiner Domkuppel erinnert, ist reich geschmückt. Seine geöffnete Tür befindet sich auf einer Achse mit den Schlüsseln, die Christus dem vor ihm knienden Petrus reicht. Das Bauwerk verkörpert demnach die Kirche, die Christus auf Petrus errichten wird (Matth.16:18). In diesem Sinne kommt auch dem Steinbelag des Platzes eine symbolische Bedeutung zu.

zu 6. Prinzipien der narrativen Bildkomposition