Der Hof der Sforza in Mailand und die Renaissancearchitektur
Zu Weihnachten 1476 fiel Galeazzo Maria Sforza während der Messe in der Mailänder Kirche S. Stefano Maggiore einer Verschwörung zum Opfer. Wenige Jahre zuvor war ihm zu Ehren in Florenz ein glanzvoller Triumphzug gefeiert worden, dessen Ziel die gerade vollendete Kirche Santissima Annunziata gewesen war >L.IV.4. Nach einer kurzen Regentschaft seiner Witwe bemächtigte sich 1480 sein Halbbruder Ludovico Maria, genannt Ludovico il Moro, der Herrschaft, indem er sich zum Vormund seines Neffen Giangaleazzo Sforza (geb. 1469) erklärte. 1494 zum Herzog ernannt und 1498 durch König Ludwig XII. von Frankreich vertrieben, der seine Ansprüche auf das Mailänder Erbe durch die Eroberung der Stadt geltend machte, ist Ludovico il Moro trotz seiner politisch fragwürdigen und labilen Rolle einer der wenigen Mailänder Herrscher gewesen, von dem neben der höfischen Prachtentfaltung auch Impulse zu einer für die Öffentlichkeit sichtbaren und künstlerisch hochrangigen Kunstpolitik ausgingen. Davon zeugen mehrere Kirchengründungen in Mailand und die Anlage der Stadt Vigevano. Bemerkenswert war auch seine Initiative zur Berufung von Florentiner Künstlern, die er 1490 im Zusammenhang mit der Ausstattung der Kartause (Certosa) von Pavia unternahm. Sein Florentiner Agent schickte ein Memorandum, in dem er die vier damals führenden Maler und ihre Verdienste vorstellte. Es handelte sich um Botticelli, Perugino, Ghirlandaio und Filippino Lippi.
In Mailand, das dank der dortigen Bankniederlassung der Medici wirtschaftlich eine enge Beziehung zu Florenz hatte, spielte sich ein wichtiges Kapitel der Weiterentwicklung des sakralen Zentralbaus ab, der zum Leitmotiv der neuen Architektur geworden war. Der von Brunelleschi beeinflußte Michelozzo di Bartolomeo errichtete hier nach 1460 ein nicht erhaltenes Bankgebäude für die Medici. Ihm wird auch der Entwurf für die Kapelle des Pigello Portinari zugeschrieben, ein von Brunelleschis Alter Sakristei von S. Lorenzo >L.IV.3 abhängiger Zentralbau über quadratischem Grundriss, der zwischen 1462 und 1466 als Anbau an den Chor der Kirche S. Eustorgio realisiert wurde. Als wichtigster Vermittler der Florentiner Architektur nach Mailand gilt der aus Florenz stammende Antonio Averlino, genannt il Filarete, der von 1456 bis 1465 im Dienst von Francesco Sforza stand, und der dem Thema des Zentralbaues in seinem Trattato d’architettura eine eminente Bedeutung eingeräumt hat. Der mit Zeichnungen illustrierte und zwischen 1461 und 1464 entstandene Traktat, von dem zahlreiche Abschriften existieren, gehört neben Albertis „De re aedificatoria” zu den einflussreichsten Texten des 15. Jahrhunderts über Architektur. Auch wenn seine Ideen teilweise ins Phantastische und Märchenhafte abschweifen, ging von seiner theoretischen Fixierung auf den Zentralbau, der er durch sein Wirken in Mailand konkrete Gestalt geben konnte, ein großer Einfluss auf die nächst jüngere Generation von Architekten aus.
Von 1456 bis 1465 wurde in Mailand ein gigantisches Hospital (Ospedale maggiore) nach seinen Entwürfen errichtet, das trotz späterer Veränderungen in den wesentlichen Bestandteilen erhalten ist. Im Zentrum der Anlage, deren Entwürfe sich in dem erwähnten Traktat finden, war eine mit vier Ecktürmen versehene Kapelle auf quadratischem Grundriß vorgesehen. Auf einer ähnlichen Grundidee basiert der berühmteste Teil von Filaretes Schrift, nämlich sein Entwurf zur idealen Stadt Sforzinda, so benannt nach der Familie seines Mailänder Auftraggebers. Die Gestalt von Sforzinda basiert auf einem Kreis, in den die Mauern als ein achtzackiger Stern eingeschrieben sind. Die gesamte Stadt orientiert sich auf das Zentrum hin, wo sich die wichtigsten Gebäude befinden. Durch ausgeklügelte astrologische Berechnungen für die richtige Lage und den günstigen Lichteinfall sollte die Harmonie zwischen der architektonischen Gestalt der Stadt und ihren Bewohnern hergestellt werden. Die Idee wurde zum Ausgangspunkt von mehreren urbanistischen Konzepten des 16. Jahrhunderts, so etwa der radialen Anlage der Festungsstadt Palmanuova bei Udine, die Vincenzo Scamozzi ab 1593 für die Republik Venedig als Bastion gegen die Türken errichtet hat.