Andrea Mantegna und die Camera degli Sposi

In der ersten der kleineren Kapellen von S. Andrea, und zwar vom Eingang aus auf der linken Seite, befindet sich die Grabkapelle von Andrea Mantegna, der von 1460 bis zu seinem Tode im Jahr 1506 Hofmaler der Markgrafen Gonzaga war. Anders als die im Florenz des 15. Jahrhunderts von den Medici protegierten Künstler, die selbständige Werkstätten hatten und Zünften angehörten, repräsentiert Mantegna einen neuen Künstlertyp. Die reichen schriftlichen Quellen zu seiner Stellung am Hofe und zu seinen Aufgaben lassen ihn als Vertreter einer neuen Spezies des Künstlertums im exklusiven Dienst eines Fürsten erscheinen. Modern ausgedrückt, entsprach dieses Arbeitsverhältnis dem Status eines Beamten. Auf der Soll-Liste dieser Beziehung standen die nicht immer angenehmen Aufgaben, die ein Hof dieser Größenordnung zu vergeben hatte. So griff der Dienstherr auch für Fest- und Theaterdekorationen auf seinen Hofkünstler zurück, dem hierbei die Aufgabe eines apparatore zufiel [Warnke 1986, 224–225]. Im Gegenzug ab er seiner Schätzung durch Privilegien Ausdruck, die dem Künstler einen hohen sozialen Status innerhalb der höfischen Gesellschaft verliehen. Mantegna erhielt u. a. ein Grundstück, auf dem er sich — vermutlich nach eigenem Entwurf — ein geräumiges Wohnhaus mit einem runden Hof errichtete, das als ersten Künstlerhaus der Renaissance gilt [ABB.]

Bereits bei seiner Berufung erhielt er das Recht, eine insegna zu benutzen, d.h. ein Wappen, was sonst nur dem Geburtsadel zustand. Später bekam er sogar ein Jagdrevier zu seinem Eigentum. Auch die Familienkapelle in S. Andrea, die das Wappen des Malers im Schlussstein des Kuppelgewölbes trägt, ist als ein außergewöhnliches Privileg zu betrachten. Eine der wichtigsten Aufgaben Mantegnas als Hofmaler war die Anfertigung von Porträts, denen eine entscheidende Rolle zukam, da sie ein unerlässliches Medium für die dynastischen Beziehungen waren. Die Ausmalung des unter dem Namen Camera degli Sposi oder Camera Picta bekannten Zimmers im Castello di S. Giorgio in Mantua macht dies deutlich. Es handelt sich bei diesem Raum um ein quadratisches Zimmer, dessen vorrangige Funktion die eines Prunkschlafzimmers war, in dem aber auch hochstehende Gäste empfangen wurden. Die Lage in einem gut abgeschirmten älteren Teil des Kastells brachte es mit sich, dass dem Raum in der baulichen Substanz das fehlte, was man als Grundausstattung von einem Interieur dieses Ranges erwarten würde, nämlich Sonnenlicht, Geräumigkeit und Komfort. Diese architektonischen Defizite hat Mantegna durch die Kunst der malerischen Fiktion ingeniös kompensiert. Das Stichwort Fiktion liefert den Schlüssel zum Verständnis der Dekoration der Camera Picta. Aus dem Blickwinkel des Alkovens, der die zwei unbemalten Wände des Zimmers einnahm, spiegelt die gemalte Architekturgliederung einen offenen vom Licht durchflutenden Raum vor.

Hauptgegenstand der Wandbemalung, die zwischen 1464 und 1474 entstand, sind die Bildnisse der markgräflichen Familie und ihres Hofstaates. Die lebensgroßen und monumentalen Darstellungen teilen mit der später so erfolgreichen Gattung des dynastischen Gruppenbildnisses die Absicht, der Aufreihung von Bildnissen Lebendigkeit, Vielfalt, Individualität und einen bildgemäßen Ausdruck zu verleihen. Ein Porträtfotograf würde die Versammlung als vorteilhaft gestelltes Gruppenbild bezeichnen, die ihrem Zweck auch dadurch gerecht wurde, dass sie den gesicherten Status der Dynastie durch die Darstellungen der Kinder dokumentierte. Das Gruppenbildnis enthält keine versteckte politische Botschaft, wie lange vermutet wurde, sondern es inszeniert die Gonzaga-Dynastie sub specie aeternitatis. Mantegna bediente sich der perspektivisch angelegten Illusion und einiger effektvoller Kunststücke, um Handlungen zu simulieren, die keine andere Aufgabe haben als die dargestellten Personen in ihren unterschiedlichen Rollen zu charakterisieren. Kompositionell fällt die beherrschende Rolle der Markgräfin auf. Dass sie als mater familiae in dieser Versammlung der Kinder und des Haushaltes die wichtigste Gestalt ist, wird an ihrer matronalen Würde und an ihrer zentralen Bildposition deutlich.

Der ins Zwiegespräch mit einem Höfling vertiefte Markgraf am linken Bildrand ist dagegen in seiner öffentlichen Rolle porträtiert. Auch das Geschehen auf der rechten Bildseite ist nicht – wie von der älteren Forschung angenommen – als konkretes Ereignis zu deuten, sondern als ein für das Hofleben typischer Vorgang, der jederzeit stattfinden kann und der die hier dargestellten Personen charakterisiert, auch wenn ihre Identität heute nicht mehr bekannt ist. Das „Ereignis“ besteht darin, dass sich die Familie des Markgrafen auf einer erhöhten Bühne in feierlichem Aufputz den Gesandten und den Gästen präsentiert, die von rechts emporsteigen, um sich zum Empfang einzufinden. Der Ausritt zur Jagd auf der linken Wand, der von einer weitläufigen und mit antiken Gebäuden bestückten Landschaftskulisse hinterfangen ist, war ebenfalls ein fester Bestandteil des höfischen Alltags. Außerdem gab er Gelegenheit, die Höflinge mit ihren prachtvoll geschirrten Pferden darzustellen, dazu Devisen und wertvolle Jagdhunde mit kostbaren Halsbändern. Beschäftigungen, Gesten, und Andeutungen von Handlungen werden eingesetzt, um die Bildnisse attraktiver zu machen und der dokumentarischen und dynastischen Funktion die zusätzliche Qualität des Kunststücks (artificium) zu verleihen. Probleme bei der Deutung der Camera Picta hat vor allem die gemalte mittlere Öffnung bereitet, deren Form an den offenen oculus des römischen Pantheon erinnert. Unter Berufung auf Plinius den Jüngeren, auf Lukian, oder auch auf Vitruv und Alberti ist er in der neueren Literatur auf das – allerdings meistens quadratische – compluvium im Atrium des antiken Hauses gedeutet worden.

Ihrem formalen Typus nach lässt sich die gemalte mittlere Öffnung auch von den als Himmelsgewölbe bemalten Decken ableiten, die vor allem im sakralen Bereich während des 15. Jahrhunderts üblich waren. Sie kommen zwar ohne Illusionswirkung aus, lassen sich aber aufgrund der Darstellungen eindeutig als „Himmel” bestimmen, wie z.B. die ursprüngliche Deckenbemalung der Sixtinischen Kapelle >L.VII.5. Gemalte Himmel an der Decke von Schlafgemächern waren bereits früher üblich. Schon Boccaccio erwähnt in seiner poetischen Beschreibung eines verzauberten Schlosses, die er 1342 in der „Amorosa Visione” gibt, ausgemalte Räume mit himmlischen Glorien. Der gemalte Oculus (occhio), der von einer durchbrochenen Balustrade eingefasst wird, gibt den Blick auf den bewölkten Himmel frei. Er setzt sich durch sein kräftiges und leuchtendes Lapislazuliblau von der übrigen Decke ab und lenkt den Blick des Betrachters nach oben. Über die in extremer Verkürzung gegebene Balustrade beugen sich zwei Gruppen von mysteriösen Frauenköpfen, welche früher wegen ihrer zeitgenössischen Haartracht als Bildnisse gedeutet wurden. Einige Gesichter zeigen ein etwas verschmitztes Lächeln. Eine Frau von schwarzer Hautfarbe und mit einem gestreiften Turban blickt nach unten, während ihre Nachbarin den Blick gebannt nach oben richtet. Beide Gruppen flankieren eine über die Öffnung gelegte Stange, auf der ein Blumentopf mit einer Orange so wackelig steht, dass er im nächsten Augenblick herunterzufallen droht. Es handelt sich demnach um ein Trompe l'oeil, das den Betrachter in die Irre führen soll.

Die Illusion der Malerei erreicht einen höheren Grad als auf den Wänden, da der Betrachter durch die Berührung mit der Hand nicht verifizieren kann, ob der Topf gemalt oder tatsächlich vorhanden ist. Die Mittel, die ihn der Augentäuschung überführen, sind die Gegenstände, die von oben herunterzufallen drohen, dies aber nicht tun, woraus sich vielleicht der grinsende Ausdruck der Frauen hinter der Balustrade erklärt. Selbst Akteure in diesem Spiel, amüsieren sie sich über den Betrachter, welcher der Illusion auf den Leim gegangen ist, die seinen Blick erst nach oben gezogen und ihn dann der Täuschung überführt hat. Auch wenn dies tiefgründigere inhaltliche Anspielungen nicht ausschließt, ist die gemalte Öffnung der Camera Picta vor allem ein unterhaltsames Kunststück, das zeigt, welche Macht das Auge besitzt.

zu 5. Mantegnas Triumphzug Caesars