Die Villa del Belvedere und der päpstliche Palast
Gleich nach Beginn seines Pontifikates am 31. Oktober 1503 ließ Julius II. eine Medailleprägen, die eine Ansicht der repräsentativen Anlage gibt, die zwischen dem Palast und dem Gartenhaus entstehen sollte, das im äußersten Norden des vatikanischen Hügels unter Innocenz VIII. (1484–1492) errichtet worden war. Dieses in seinen Ausmaßen bescheidene Gebäude, das über eine nach Süden geöffnete Loggia mit Fresken von Pinturicchio sowie eine nicht erhaltene Kapelle verfügte, die Mantegna 1488–1489 ausgemalt hatte, war ein gut geschützter und angenehmer Aufenthaltsort innerhalb der vatikanischen Festung. Um hierher zu gelangen, war eine Entfernung von ca. 300 m zu überwinden, ein Weg, der wegen des Höhenunterschieds beschwerlich war. Diese Vorgaben waren die Ausgangspunkte für Bramantes großartiges Projekt einer Villa, die von der Ausdehnung und den Bestandteilen her imperiale Dimensionen hatte. Die Medaille zeigt schon die wesentlichen Elemente der Anlage, deren Spiritus rector Julius II. selbst war.
Die Rekonstruktion des durch spätere Umbauten und Hinzufügungen überlagerten Projekts von Bramante verdankt sich vor allem den Untersuchungen von James S. Ackerman, der als erster von einem „consistent master-plan“ ausging, der den gesamten Vatikan einschließlich St. Peter umfassen sollte, und Christoph Luitpold Frommel. Das nach Norden stark ansteigende Terrain wurde auf 1000 antike Fuß (298 m) Länge so terrassiert, dass drei Ebenen entstanden, die durch Treppen und Rampen miteinander verbunden wurden und die mehr oder weniger mit den unterschiedlichen Stockwerkshöhen des Palastes korrespondierten. Die seitlichen Flanken sind nach dem Vorbild antiker Paläste als Galerietrakte ausgebildet, die sich zum Hof hin durch Arkaden beziehungsweise Fenster öffnen und die eine plane und bequeme architektonische Verbindung zwischen dem zweiten Geschoss des päpstlichen Palastes und der Villa schufen. In dem Maße, wie das Gelände nach Norden hin ansteigt, verringert sich die Anzahl der Geschosse dieser Seitentrakte, die es dem Papst erlaubten, das Belvedere von seinen Zimmern aus direkt zu erreichen.
Das erste Projekt Bramantes, das sich aus der Medaille zur Grundsteinlegung erschließen läßt, sah für die das Areal des Hofes flankierenden Flügelbauten zunächst nur zwei Geschosse vor. Dies erklärt sich daraus, dass der Papst damals noch die Borgia-Gemächer im ersten Geschoss bewohnte. Als er im November 1507 in die Stanzen im zweiten Geschoss übersiedelte, wurde es notwendig, ein weiteres Geschoss hinzuzufügen. Kurz darauf entstanden die ersten Projekte für die Um- und Neugestaltung des päpstlichen Palastes, für den Bramante „un disegno grandissimoper restaurare e dirizzare il palazzo del papa“ anfertigte. Sein Ziel war die Vereinheitlichung des Palastes, der aus vielen heterogenen Teilen bestand, die zu unterschiedlichen Zeiten entstanden waren. Zu diesem Projekt, das in einer Zeichnung von Bramante aus dem Jahr 1506 überliefert ist, gehörte neben der Verlegung der päpstlichen Wohnung in das zweite Geschoss die Anlage einer mit offenen Loggien versehenen Fassade. Diese auf die Stadt gerichtete Front kaschierte den uneinheitlichen Charakter der dahinter liegenden Baukörper und übernahm die Funktion von gedeckten Laufgängen. Das zweite Loggiengeschoss befindet sich auf der Höhe der Stanzen und war damit eine Fortsetzung der östlichen Galerie am Belvederehof. Den Zustand der Fassade nach dem verschönernden Eingriff von Bramante, der erst durch Raffael vollendet wurde, zeigt eine Zeichnung von Heemskeerck, an der sich ablesen lässt, dass die Loggia des ersten Geschosses, die im Pontifikat Leos X. von Raffaels Werkstatt dekoriert wurde, der direkte Verbindungsweg zur Benediktionsloggia vor Alt St. Peter >L.VII.2 war, die auch nach der Grundsteinlegung für den Neubau (1506) in Benutzung blieb.
An die Torre Borgia sollte sich nach diesem Plan im Osten ein Gebäudetrakt anschließen, der zur Vereinheitlichung der nach Norden auf den Hof gerichteten Front beitragen sollte. Ausgeführt wurde jedoch nur eine hölzerne Kuppel, mit der Bramante 1509 die Torre Borgia bekrönte und die 1523 durch einen Brand zerstört wurde. Weiter östlich waren eine große Halle für die Konklavesitzungen sowie eine auf den Fundamenten einer kreisrunden Bastion zu errichtende Kapelle geplant. Ein Laufgang auf der Festungsmauer hätte diese Bauten mit der Benediktionsloggia von Alt-St. Peter und mit der Engelsburg verbunden. Nördlich von diesem Baukörper war eine dreigeschossige und dreischiffige Halle von enormer Länge vorgesehen, in der auf zwei Stockwerken Pferde und Kutschen untergebracht werden sollten, während das dritte Geschoss vermutlich eine Bibliothek aufnehmen sollte, die schon Nikolaus V. in diesem Teil der Gärten geplant hatte. Der Plan Bramantes wurde nur in Ansätzen realisiert. Beim Tode Julius' II. (21. Februar 1513) war der östliche zur Stadt gerichtete Laufgang weitgehend vollendet, während der westliche Laufgang nicht über die Fundamente hinaus gediehen war. Die enorme Höhe der Loggienfassade, die eine geringe Tiefenausdehnung hatte, sowie ihre laut Vasari mangelhafte Fundamentierung verursachten statische Probleme, die 1531 zum teilweisen Einsturz des östlichen Korridors führten. Die in Dimensionen und Ausstattung mit antiken Kaiservillen konkurrierende Anlage, die Julius II. und Bramante konzipiert hatten, ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Besonders der im 16. Jahrhundert hinzugefügte Querriegel der Bibliothek und der im 18. Jahrhundert auf der Nordseite errichtete Komplex des Museo Pio Clementino veränderten den Charakter der Villenanlage, an die sich westlich ein Gehölz (Boschetto) anschloss, grundlegend.
Als ihr direktes Vorbild sind antike Terrassenanlagen in der Art des Heiligtums der Fortuna in Palestrina anzusehen sowie die aus den schriftlichen Quellen bekannten römischen Kaiservillen der Antike . Ausgehend von der Außengliederung des Marcellustheaters und des Kolosseums mit aufgeblendeten antiken Ordnungen – daher hat sich der Terminus „Theatermotiv“ für diese Art von Wandgliederung eingebürgert – konzipierte Bramante eine auf dem Prinzip der Superposition beruhende Gliederung, die seinen Prospekten trotz der enormen Länge einen markanten architektonischen Rhythmus verlieh, der in jedem der drei Abschnitte variiert wurde. Der Aufriss der Belvederehöfe fehlt in keinem wichtigen Architekturtraktat des 16. Jahrhunderts und wurde häufig gezeichnet. Die im Gebälk verkröpften, aber auf einzelnen Postamenten stehenden Doppelpilaster korinthischer Ordnung des oberen Hofes rahmen jeweils ein Nischenkompartiment, so dass es zu einem verketteten Rhythmus zwischen der Arkade und dem ausgenischten Wandstück kommt (a-b-a-b-a), ähnlich wie an den rhythmischen Travéen der Cancelleria >L.VII.4, sind aber markanter und körperhafter. Das dorische Arkadengeschoss des ersten Hofes verwendet das Motiv der Pfeilerarkade mit Pilaster-Vorlagen auf Postamenten. Das gegenüber dem Erdgeschoss um ein Viertel niedrigere zweite Geschoss enthielt vermutlich übergiebelte Ädikulafenster, die von je einer Nische flankiert waren. Die ionische Pilasterordnung steht ebenfalls auf Postamenten und wird durch Rücklagen hinterfangen.
Um die Monumentalität und die perspektivische Wirkung der Anlage nachzuvollziehen, stehen heute nur noch Zeichnungen und Veduten des 16. Jahrhunderts zur Verfügung, die die Nutzung als Theater, für Turniere, Naumachien und andere Festivitäten dokumentieren. Die teilweise erhaltene Rampenanlage am Ende des ersten Hofes, die zusammen mit einer Treppe dazu diente, die größte Geländesteigung zu bewältigen, wurde von Bramante mit einem im Stil der römischen Kaiservillen gehaltenes ausgenischten Nymphäum bekrönt. Der höher gelegene Teil des Gartens war ein Gartenparterre, das in einer großen Exedra endete. Die heute nach dem hier aufgestellten antiken Pinienzapfen, der ursprünglich im Atrium von Alt-St. Peter stand, als Cortile della Pigna bezeichnete Terrasse endete in einer halbrunden Exedra, der eine runde Stufenanlage vorgelagert war. Auch wenn die Realisierung dieses Teils der Villa erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einem vorläufigen Abschluss gelangte, blieben während dieser Zeit die Erweiterungen noch dem Grundgedanken Bramantes verpflichtet. Das nicht mit der neuen Längsachse übereinstimmende Gartenhaus Innocenz' VIII., das durch eine Mauer von der dritten Terrasse separiert ist, liegt drei Meter höher als der Hof. Es erhielt einen quadratischen Innenhof, der allseitig umschlossen ist und in dem Julius II. die von ihm zum Teil bereits schon in seiner Kardinalszeit erworbenen Antiken aufstellen ließ. Dieser Hof (Cortile delle Statue), der im späten 18. Jahrhundert umgestaltet wurde, war zur Zeit Julius' II. ein Garten mit Zitrusbäumen, in dem der Nukleus der vatikanischen Antikensammlung aufbewahrt wurde. Die berühmtesten Werke, die sich z. T. auch heute noch dort befinden, waren der Flussgott Tiber, die Laokoon-Gruppe, der Apollo vom Belvedere, die Kleopatra-Ariadne, die Venus Felix, der Torso und Herkules aufgestellt.
Die Verbindung zwischen den Stanzen im zweiten Geschoss des vatikanischen Palastes, die Julius II. seit 1507 bewohnte, und der Villa del Belvedere blieb schwierig, da von den Stanzen nur ein nicht überdachter Weg über das Flachdach der östlichen Galerie zum Belvedere führte. Bramante schuf daher von der Nordostseite aus einen direkten Zugang zur Villa, über den der Papst zu Pferd in diesen locus amoenus gelangen konnte. Es handelt sich um eine Rampe in Spindelform, heute bekannt als Reitertreppe, die für Tiere und Lastenfahrzeuge geeignet war. Ihre architektonische Nobilitierung erhielt sie durch eine Säulenstellungen auf der Innenseite der Rampen, die sich dem Prinzip der Superposition anpassen. Den Widerspruch zwischen der Steigung und den orthogonalen Prinzip der Säulen löste Bramante, indem er die Säulen auf keilförmige Postamente stellte und über den Kapitellen ebensolche Kämpfer einfügte. Beim Ersteigen der Treppe wechseln die Ordnungen von dorisch zu toskanisch, ionisch und gelangte schließlich im vierten Geschoss, wo sich die Wohnräume des Papstes befanden, zur kompositen Ordnung, die Alberti als ordo italicus bezeichnet hat.