Die Alte Sakristei und die Pazzi-Kapelle
Gleichzeitig mit der Domkuppel arbeitete Brunelleschi an der Errichtung einer Sakristei , die an den südlichen Querhausarm der Kirche San Lorenzo anschließt und die seit der Hinzufügung einer weiteren Sakristei am nördlichen Querhaus >L.XII.5 als Alte Sakristei (sacrestia vecchia) bezeichnet wird. Bei seiner Entstehung stand der Bau noch als isoliertes Gebäude und separiert von der romanischen Kirche, die erst dreißig Jahre später abgebrochen wurde. Auch wenn der Raum, der nach außen als selbstständiger Bau in Erscheinung tritt, als Sakristei benutzt wurde, war seine wichtigste Funktion die einer Memorialkapelle für die Medici, worauf die Existenz einer Unterkirche verweist, welche die Grablegen der Familie enthält. 1421 im Auftrag von Giovanni de’Bicci de' Medici begonnen >L.II.4, war die Sakristei im Jahr von dessen Tod (1429) vollendet. Sein Grab befindet sich unter dem auf vier Balustern ruhenden Tisch, an dem sich die Priester für die Messe vorbereiten. Das Patronat der Sakristei wird deutlich durch die Wappen der Medici unterhalb der Tondi in den Pendentifs angezeigt. Giovanni di Bicci de'Medici konnte sich das Privileg zur Errichtung dieses ersten Memorialbaues seiner Familie sichern, indem er die Gelder für den Bau des Chores und der Vierung der neuen Kirche zur Verfügung stellte und sich damit als Stifter profilierte. Nach und nach übernahmen die Medici das Patronat für die gesamte Kirche, die in unmittelbarer Nähe ihres Familienpalastes liegt.
Der überkuppelte quadratische Innenraum der Sakristei, der aus der Flucht des südlichen Querarmes herausragt, ist einem rechteckigen Corpus einbeschrieben. Es handelt sich um einen selbstständigen und funktional autonomen Bau, der über einen eigenen Chorraum verfügt. Er wird von zwei kleinen tonnengewölbten Anräumen flankiert, die ihrerseits den Charakter und die Funktion von Sakristeien haben und deren von schweren Ädikulen gerahmte Zugänge durch Bronzetüren verschlossen werden, in deren Reliefs Donatello Apostel und Heilige dargestellt hat.
Der Wandaufriss ist durch eine in dieser Form völlig neue Dreiteilung bestimmt. Auf das orthogonale Hauptgeschoss, das durch eine korinthische Pilasterodnung gegliedert ist, folgt eine gleich hohe Wandzone, in der die Pendentifzwickel mit halbkreisförmigen Wandflächen alternieren, in die rundbogige Fenster und ein jeweils zentraler Tondo unterhalb des Scheitels eingeschnitten sind. Die auf dem Kranzgesims ruhenden Fenster kommunizieren über die Halbkreisrahmen hinweg und betonen so die quadratische Raumgestalt, während die Tondi über ihnen visuell das Rund der Kuppel vorbereiten. Die Höhe dieser beiden Abschnitte des Wandaufrisses entspricht den Seitenlängen des Grundrissquadrats, d.h. der Baukörper hat die Gestalt eines perfekten Kubus. Die halbkreisförmige Schirmkuppel, deren Fußring die Scheitel der Schildbögen fast tangiert, ist mit einer fremdartig wirkenden Rippengliederung versehen, als deren Vorbilder zwei Paduaner Bauten identifiziert wurden, nämlich das Baptisterium des Doms und die Kuppel der Basilika Il Santo. Maßstäblich verkleinert und leicht abgewandelt, d.h. ohne Öffnungen, ohne Tondi und ohne Rippen, wiederholt sich diese Raumgestalt im Chor. Sein Kuppelrund wird von einem gemalten Sternenhimmel eingenommen, über dessen astrologische Konstellation viel gerätselt und geschrieben worden ist.
Der kubische Raumkörper mit seinen ausgewogenen und geometrisch strukturierten Maßverhältnissen hat eine harmonische Wirkung. Sie kristallisiert sich in den Wandflächen, die durch die Pilasterordnung und die aus grauem Sandstein (pietra serena) gefertigten Rahmenprofile der Öffnungen und Felder betont wird. Man kann von einer nahezu puristischen Architektur sprechen, wozu auch der Verzicht auf Malerei passt. Figürliche Dekoration ist nur skulptural vertreten, d.h. als Reliefs in farbig gefasstem und in weissem Stuck. Den auffälligsten Akzent der wandhaften und linear akzentuierten Architektur stellt die klassische Pilasterordnung dar, die jedoch ähnlich wie bei der Loggia des Findelhauses keinem Intervall-Rhythmus antiken Stils folgt. Ihre formale Funktion bezieht sich in der Vertikalen auf die Rahmung und in der Horizontalen auf die Untergliederung der Wandabschnitte. Als Ausgangs- und Angelpunkte der Ordnung geben sich die Eckpilaster zu erkennen, auf denen, unterbrochen durch das reich gegliederte und dekorierte Gesims, der Chorbogen ruht. In den Raumecken reduzieren sie sich zu Halbpilastern, die über Eck aneinanderstoßen, die man aber auch als geknickte Pilaster sehen kann. Die Breite dieser halbierten Pilaster entspricht den Maßen der über dem Gesims ansetzenden Schildbogen, d.h. sie fungieren auch als lineare Begrenzungen von Flächen, die sich zwar zu einem Raumgebilde addieren, ihre formale Eigenständigkeit jedoch behalten.
Die meisten Bauten Brunelleschis und seiner Schüler entsprechen in der Harmonie ihrer Proportionen, ihrer Klarheit, aber auch ihrer Kargheit und Nüchternheit einer modernen Vorstellung von der Renaissance. Einer der Gründe dafür ist der Verlust ursprünglichen Innenausstattungen, aber auch die oftmals radikalen restauratorischen Eingriffe des 20. Jahrhunderts, die ihnen nicht immer zum Vorteil gereicht haben. Um eine Vorstellung von den originalen Raumwirkungen und vom Zusammenspiel zwischen der architektonischen Gliederung und ihrem malerischen, ornamentalen und skulpturalen „Dekor“ zu bekommen, gibt es daher heute keinen besseren Ort als den Innenraum der Alten Sakristei von San Lorenzo. Hier lassen sich außerdem die formalen und räumlichen Qualitäten erfahren, die in der scheinbaren Einfachheit und Leichtigkeit dieser Architektur liegen und die bildhafte Anschaulichkeit, in der sich die Baugliederungen und die planen und neutral getünchten Flächen darbieten.
Brunelleschi hat den gleichen Formenkanon in einer weiteren Memorialkapelle verwendet, die zwar nicht ganz so berühmt ist wie die Alte Sakristei, aber kaum weniger faszinierend. Die 1429 von dem Bankier Andrea de’Pazzi gestiftete Kapelle bei S. Croce, die als Kapitelsaal des Franziskanerklosters gedacht war, wurde erst um 1460 vollendet. Der Zentralraum wird hier durch zwei querschiffartige tonnengewölbte und kassettierte Anräume zu einem quergelagerten Rechteck erweitert, eine Disposition, die sich sowohl aus der Funktion des Raumes wie auch aus der vorher bestehenden baulichen Situation ergibt.Die Wandgliederung der Chorpartie wiederholt das aus der Alten Sakristei bekannte Triumphbogenmotiv, das aber auch auf die Wandgliederung der Wände des Hauptraumes projiziert wird. Die seitlichen Wände sind als Rückwände von angeschobenen Anräumen zu lesen, wie die Kassettierung des sie überfangenden Tonnengewölbes deutlich macht. Die Ecksituation zeigt einen für Brunelleschis Wandsysteme typischen Konflikt. Tatsächlich ist es kaum entscheidbar, ob es sich um einen geknickten Pilaster handelt, oder ob zwei teilweise in der Wand steckende Pilaster rechtwinklig und regelwidrig aufeinander stoßen. Heinrich Klotz hat daraus den Schluss gezogen, dass für Brunelleschi die optische Wirksamkeit wichtiger war als die rationale Folgerichtigkeit der Struktur.
Das von Brunelleschi verwendete Verfahren, antikische Ordnungen planen Wänden so aufzublenden, dass man sie für tragende Elemente im Sinne der antiken Architektur halten könnte, hat noch wenig mit der Angleichung an den konstruktiven Gliederbau der Antike zu tun, den Alberti zum Ziel erklärt hatte und den die Hochrenaissance wiederzugewinnen versuchte. In den Ecken des Chorraumes der Pazzi-Kapelle stehen filigrane Sechstelpilaster, die wie Dienste erscheinen, bei denen es sich aber, struktiv betrachtet, um die Kante eines in der Mauer steckenden Pfeilers handelt, der das auf die Wand applizierte Gebälk trägt, weswegen sie sichtbar gemacht werden mussten. Das Ergebnis der Projektion des Chorbogenmotivs auf die Wände des Hauptraumes ist die Ausbildung einer rhythmischen Pilasterordnung in der unteren Wandzone, die in der Längsachse dem Schema a-a-b-a-a und in der Querachse dem Schema a-b-a entspricht. Die zwölf gleichgroßen Intervalle (a) sind mit einer flachen Rundbogennische und einem Tondo gefüllt. In der oberen Wandzone führt der innere Schildbogen der Querarme die Pilaster der unteren Ordnung fort, denen er auch in der Breite entspricht.
Dem Baukörper der Kapelle ist ein Kolonnadenportikus all’antica vorgelagert, der ein Tonnengewölbe trägt. Dieses liegt wandseitig auf einer Pilasterordnung auf, so dass auf den glatten korinthischen Säulen eine korinthische Ordnung mit kannelierten Pilastern antwortet. Ungewöhnlich an dieser Kolonnade ist auch, dass sie eine Attika besitzt, die durch eine mittlere Arkade aufgebrochen wird, und durch kleine Doppelpilaster gegliedert ist, während die zwischen ihnen befindlichen Wandfelder durch eine kreuzförmige Gliederung auffallen, wohl ein sprechender Verweis auf das Kreuz Christi, dem Kloster und Kirche geweiht sind. Die Gestalt und die Proportionen des Portikus und sein überkuppeltes mittleres Joch werden als Ergebnis der von Brunelleschis Planung abweichenden späteren Ausführung angesehen, für die mehrere Namen genannt werden (Giuliano da Maiano, Michelozzo, Antonio Manetti) .