Filippo Brunelleschi und die Zentralperspektive

Kurz nach 1401 kam ein Florentiner nach Rom mit der erklärten Absicht, die antiken Statuen zu betrachten. Sein Name war Filippo Brunelleschi (Abb.), und er war zu diesem Zeitpunkt Goldschmied, Maler und Bildhauer. Die wichtigste Quelle zu seinem Leben und Wirken ist die ausführliche Biographie, die sein Freund Antonio Manetti (1423–1497) wohl erst nach 1490 niedergeschrieben hat, die sich aber auf ältere Notizen und Aufzeichnungen stützt. In seinen Bericht über den Romaufenthalt des damals 24-jährigen Brunelleschi hat Manetti, der selbst Architekt war, einen Abriss der antiken Architektur eingeflochten. Auslösend für die Romreise war ein öffentlicher Wettbewerb der Stadtregierung von Florenz für die Bronzereliefs der Nordtür des Baptisteriums gewesen, an dem sich Brunelleschi beteiligt hatte. Aus diesem ersten bekannten und vielleicht berühmtesten Wettbewerb der Kunstgeschichte war jedoch sein Konkurrent Lorenzo Ghiberti als Sieger hervorgegangen. Manetti schreibt, dass Brunelleschi daher beschloss, „dorthin zu gehen, wo man in der Öffentlichkeit sehr gute Werke der Skulptur sehen konnte”. Dahinter stand die seit Petrarca verbreitete Erkenntnis, dass die modernen Bildhauer nicht an ihre Vorgänger in der Antike heranreichten. Entgegen seinem ursprünglichen Plan, das Studium der römischen Antiken zur Steigerung seines bildhauerischen Könnens zu betreiben, widmete sich Brunelleschi jedoch in Rom hauptsächlichen dem Studium der antiken Architektur.

Bildliche oder sonstige Zeugnisse über den mehrere Jahre dauernden Romaufenthalt, den Brunelleschi laut Manetti mehrfach unterbrach, um nach Florenz zu reisen, sind nicht bekannt. Auch gibt es keine einzige Zeichnung von seiner Hand, obwohl er, wie Manetti berichtet, alle Gebäude Roms vermessen und gezeichnet hat. Unter den vielen Gebieten, mit denen sich Brunelleschi während dieser Jahre auseinandersetzte, waren auch die Mauertechniken und die Baugerüsttechnik der Römer, die antiken Säulenordnungen und die Entwicklung und Veränderung der antiken Architektur von ihren Anfängen an. Zeitweise hatte Brunelleschi in Donatello einen Reise- und Studiengefährten, der sich aber – so versichert Manetti – nicht für die Architektur interessiert habe. Laut Manetti führten sie gemeinsame Grabungen durch und galten daher als Schatzgräber. 

Der Romaufenthalt der beiden Florentiner gilt als Initialzündung der Renaissance, weil Brunelleschi mit dem in Rom erworbenen Wissen, für das er sich auch ein mathematisches Fundament erarbeitet – er war u. a. mit dem auch von Alberti geschätzten Mathematiker Paolo dal Pozzo Toscanello befreundet – gewann er 1418 einen Wettbewerb, bei dem es um die Kuppel des Florentiner Doms ging, der 1302 nach dem Plan von Arnolfo di Cambio begonnen worden war. Der Bau hatte inzwischen Dimensionen angenommen, die es schwer machten, eine technische Lösung für die Überdeckung der zu einem gewaltigen Oktogon ausgebauten Vierung zu finden. Dieses Problem war aufgrund des baulichen Zustandes des Gebäudes schon bekannt, als sich Brunelleschi nach Rom begeben hatte. Möglicherweise hatte sein Romaufenthalt etwas mit diesem Umstand zu tun, da es nur in Rom in Gestalt des Pantheons einen antiken Bau gab, dessen Kuppel Dimensionen hatte, die sich mit denen der noch zu leistenden Überwölbung der Vierung vergleichen liessen. Der 1418 ausgeschriebene öffentliche Wettbewerb basierte auf einem Baumodell, das Brunelleschi zuvor angefertigt hatte. Von den vielen eingereichten Modellen und Entwürfen wurden nur die Modelle von Brunelleschi und Ghiberti prämiert. Das Modell Brunelleschis zeichnete sich dadurch aus, dass es eine Wölbung „ohne jedes Gerüst” vorsah. Dem Auftrag zur Ausführung, den Brunelleschi am 16. April 1420 zusammen mit Ghiberti und Giovanni d'Antonio erhielt, ging ein weiteres Modell voraus, das "die Bauabsichten und den architektonischen Entwurf" klärte und das als Grundlage der Ausführung diente. Heute gilt es als das früheste Baumodell der neuzeitlichen Architektur.

Charakteristisch für Brunelleschis historische Stellung zwischen der mittelalterlichen Bauhüttenpraxis und einem auf exakter Messung und Planung, sowie auf statischer Berechnung basierenden Architekturpraxis ist der Umstand, dass er keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen hat. Er war ein Mann der Praxis, der sich auf experimentell erarbeitetes und demonstriertes Wissen stützte: „Man sah ihn nie dozieren oder Vorträge halten, aber im Bedarfsfall war er mit den Fakten zur Stelle.” Dies zeigt sich auch an einem Experiment, mit dem er eine Tat vollbrachte, deren Wirkung kaum geringer einzuschätzen ist als der Bau der Kuppel.

Dieses Experiment, das aufgrund bestimmter Umstände vor 1413 anzusetzen ist, galt der Demonstration der zentralperspektivischen Konstruktion, die unter dem von Alberti gewählten Begriff der costruzione legittima in die Geschichte der Malerei und in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Der Bericht über dieses Experiment findet sich in Manettis Biographie.

An einer modernen, nach Manettis Angaben gebauten Versuchsanordnung wird deutlich, dass Brunelleschi die Wirkungen zeigen wollte, die vom Maler mit der Zentralperspektive erzielt werden können. Ein von ihm selbst gemaltes Abbild des Baptisteriums, das ca. 29 cm im Quadrat maß, erhielt in der Mitte eine kegelförmige Durchbohrung, deren größere Öffnung sich auf der dem Betrachter zugewandten Rückseite befand. Das Loch markierte die Stelle, die der Maler beim Malen des Bildes und während des Experiments einnahm. Wer das Bild in einer Hand hielt und durch dieses Loch schaute, während er mit der anderen Hand einen Spiegel so vor das Bild hielt, dass es sich darin vollständig abbildete, erblickte das Spiegelbild des seitenverkehrt gemalten Abbildes, das dank der Spiegelung seitenrichtig erschien. Schwenkte man den Spiegel beiseite, war das Abbild nicht vom wirklichen Gebäude zu unterscheiden, abgesehen davon, dass das wirkliche Gebäude größer war als das aus dem Inneren des Doms aufgenommene Bild.

Manetti erwähnt ausdrücklich, dass das gemalte Bild so genau war, dass der beste Miniaturmaler es nicht besser hätte machen können. Einerseits konnte man mit Hilfe der schnellen Schwenkung des vorgehaltenen Spiegels Urbild und Abbild vexierbildartig miteinander vertauschen und vergleichen. Dies machte die Attraktion der Vorführung aus. Vergleichbar mit dem stufenlosen Zoomen heutiger Kameras ließ sich das Bild durch die Verschiebung des Spiegels auf der Geraden des zentralen Augstrahles verkleinern oder vergrößern, ohne dass sich die Proportionen veränderten. Außerdem rief das Spiegelbild bei vorschriftsmäßiger Betrachtung den Anschein der Dreidimensionalität hervor, eine Wirkung, die auf die Kegelform der Durchbohrung zurückzuführen ist. Denn beim zentralen Sehstrahl verstärkt die Pupillenverengung den Eindruck der Räumlichkeit. Die Illusion wurde weiterhin dadurch verstärkt, daß Brunelleschi die Fläche über dem gemalten Gebäude mit einer spiegelnden Schicht versehen hatte. Da der Handspiegel nur halb so groß war wie das Bild, spiegelte sich in ihr der wirkliche Himmel. Ob man nun durch das Loch das Spiegelbild des Gemäldes oder das wirkliche Gebäude betrachtete – beide Male war der wirkliche Himmel zu sehen, einmal als Spiegelbild, einmal in natura.

Die mathematische Grundlage und Rechtfertigung für dieses Experiment hat Alberti in seinem Traktat „De Pictura” geliefert, dessen italienische Fassung von 1436 er Brunelleschi gewidmet hat. Über die von Alberti beschriebene und gezeichnete Zentralprojektion, die eine Sehpyramide annimmt, die von einem Punkt des betrachtenden Auges ausgeht, ist viel geschrieben worden. Panofsky hat dargelegt, dass es sich hierbei vor allem um ein Hilfsmittel zur Herstellung eines „Systemraumes“ handelte, wobei von der wirklichen Wahrnehmung abstrahiert wird. Die Malerei wird damit zu einem fiktiven Ausschnitt der Wirklichkeit. Die oft gestellte Frage, ob Alberti der Erfinder dieses Verfahrens war oder Brunelleschi, ist angesichts der Folgen, die sich aus dieser Neuerung ergaben, letztlich irrelevant. Alberti spricht davon, dass er sich beim Malen eines Bildes vorstelle, dass die von ihm rechteckig eingerahmte Bildfläche ein geöffnetes Fenster sei, durch das er das betrachte, was er malen wolle. Diese Konzeption der Malerei als Fenster zur Wirklichkeit veränderte auf grundsätzliche Weise ihren Stellenwert, ihre Möglichkeiten und ihre Wirkung. Trotz der mathematischen Abstraktion, die dem von Alberti publizierten Projektionsverfahren zugrunde liegt, das allein deswegen nicht korrekt ist, weil das wirkliche Sehen nicht von einem Punkt ausgeht, erhielt der Maler ein Instrument, das es ihm ermöglichte, den Bildraum als ein zwar fiktives, aber konstruktiv berechenbares Spiegelbild der Wirklichkeit zu konzipieren.

zu 6. Von Ghiberti zu Piero della Francesca: Zentralperspektive und Bildgestaltung

Zentralperspektive, Linearperspektive

 

Alberti stellt sich das Bild als planen Durchschnitt der vom Auge ausgehenden Sehstrahlen vor, die sich mit markanten Punkten des darzustellenden Raumes und der in ihm befindlichen Gegenstände verbinden. Auf dieser ideellen Schnittfläche wird das perspektivische Abbild erzeugt, das die mit dem Abstand vom vorderen Bildplan zunehmende Verringerung der Größe der Gegenstände, die Verkürzung der Tiefenlinien und ihre Konvergenz in einem zentralen Fluchtpunkt malerisch fixiert, wobei die Entfernungen der Gegenstände untereinander mit einer Hilfskonstruktion (Sehpyramide im Aufriß) im Verhältnis zur gesamten Raumtiefe festgelegt werden. Der zentrale Fluchtpunkt wird durch das vom Auge auf die Projektionsfläche gefällte Lot bestimmt, in dem alle Tiefenlinien zusammenlaufen , weswegen man auch von Linearperspektive spricht, während alle zur Bildebene parallelen Linien unverändert bleiben.

Literatur: L.B. Alberti: La Pittura (lat. Version von 1436), ital. Übersetzung von Ludovico Domenichi, Venedig 1547, 22-24; Frank Büttner, Perspektive, in U. Pfisterer (Hg.): Metzler Lexikon der Kunstwissenschaft, Stuttgart Weimar 2003, 265-269 (hier 266).

Historia

 

Für L. B. Alberti ist historia ein Schlüsselbegriff der Malerei: "La maggior opra del pittore non è il colosso, ma l’historia" („De Pictura”, 1436, Ed. 1557, 25), s. Hans-Karl Lücke: Leon Battista Alberti, De re aedificatoria, Florenz 1485, Index Verborum. Müchen 1976 und: Thomas W. Gaehtgens, Uwe Fleckner (Hg.): Historienmalerei (Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Bd. 1). Berlin 1996, 78-83 (Gudrun Gorka-Reimus)

Manetti, Antonio

 

*1423; †1497

Manetti war ein italienischer Autor und Architekt, der sein Handwerk als Schüler von Filippo Bunelleschi (1377–1446) erlernte. Er erbaute bedeutende sakrale Bauwerke in Florenz, wie Santissima Annunziata oder San Lorenzo. Darüber hinaus war er auch am Bau des Domes von Florenz beteiligt.


Weiterführende Links:

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Brunelleschi, Filippo

 

* 1377 in Florenz; † 15. April 1446 in Florenz, italienischer Architekt und Bildhauer der Frührenaissance

 

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