Archivsplitter rund um den Globus

St. Petersburg: Museum für nonkonformistische Kunst nach oben

Kunst und Perestrojka - Leningrader unabhängige Künstler*innen im Kampf um offizielle Anerkennung

Die „Gemeinschaft für experimentelle angewandte Kunst (TEII)“ schloss sich 1981 in Leningrad zusammen. Zur gleichen Zeit entstanden mit dem Leningrader Rock-Klub und der Literaturvereinigung „Klub-81“ weitere Initiativen, die von Veränderungen im Verhältnis zwischen der Staatsmacht und unabhängiger Kultur- und Kunstszenen vor Ort zeugen. Vor allem die Künstlervereinigung TEII fiel durch ihre bisher unbekannt rigorose Haltung gegenüber offizieller Kulturbehörden auf. Indem sie sich die Losung sowjetischer Dissidenten auf die Fahnen schrieb, auf die Einhaltung geltender Rechte zu beharren, übernahm sie die Funktion einer unabhängigen Gewerkschaft und war Interessensvertretung für jene, die nicht im offiziellen Künstlerverband organisiert waren. So kämpfte sie um deren Anerkennung als Künstler, veranstaltete alternative Ausstellungen und versuchte Privilegien bereitzustellen und zu erwirken, wie sie auch für Mitglieder der offiziellen Verbände galten. Bis zum Ende der 1980er Jahre gelang es ihr, eine Reihe wichtiger Ausstellungen zu organisieren, die Höhepunkte der damaligen Leningrader Kunstszene darstellten.

Ihr Aufruf, der an Generalsekretär Michail Gorbatschow als höchstes Regierungsmitglied gerichtet war und auch der Lokalpresse zugespielt wurde, glich nicht nur einem mutigen Versuch, die Rechte von Künstler*innen durchzusetzen. Vielmehr muss der Brief – wie die Aktivitäten der Vereinigung allgemein – als Aktionskunst gewertet werden, mit deren Mitteln Künstlerinnen und Künstler auf die paradoxe Situation des Kunstschaffens in der Sowjetunion in den 1980er Jahren aufmerksam machten und ab absurdum führten. Obwohl der Aufruf ohne Resonanz blieb, stellte er einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Emanzipation unabhängiger Kunst in der Sowjetunion dar.

Wie die weiteren historischen Entwicklungen zeigten, sollten nach dem Ende des sowjetischen Regimes auch ihre Nachfolger die bestehenden Vorbehalte gegen Kunst, die nicht ihrer Kontrolle unterlag, beibehalten. Zwar wurden die von der „Gemeinschaft für experimentelle angewandte Kunst“ durchgeführten Ausstellungen gut geheißen, doch der Zugang zu weiteren Privilegien wurde nach wie vor verwehrt. In einem nächsten Schritt beteiligten sich die Künstler*innen an der Besetzung eines leerstehenden Hauses im Zentrum der Stadt und machten auf diese Weise ihr Recht auf einen eigenen Atelier- und Arbeitsraum geltend. Der Großteil dieser kollektiven Bemühungen fiel schon in die Transformationszeit nachdem die Sowjetunion das Zeitliche gesegnet hatte. Schritt für Schritt entstand in den 1990er Jahren aus dem besetzten Gebäudekomplex ein unabhängiges Kulturzentrum, die „Puschkinskaja 10“. Darin befindet sich neben Ateliers, Galerien und Ausstellungsräumen das Museum für nonkonformistische Kunst sowie das gemeinsame Archiv, deren Zeugnisse vom langjährige Ringen der Künstlerinnen und Künstlern um Anerkennung und Selbstbestimmung erzählen.

Anastasia Patsey (Museum für nonkonformistische Kunst)

Bremen: Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen nach oben

Die Samisdat-Zeitschrift Transponans

„Dichtung kann man zerknüllen, verbrennen, zertrampeln, zerschneiden, zerreißen, dividieren und multiplizieren, binden und weben, zerkratzen und sammeln, in einen Sack legen und auf den Schuhsohlen abdrucken…“ Dieses radikale Statement von Ry Nikonova und Sergej Sigej beschreibt nicht unterschiedliche Arten der Vernichtung von Kunst, sondern folgt jener Fliehkraft, die am Anfang des 20. Jahrhunderts zum Triebwerk der revolutionären historischen Avantgarde geworden war. Mehr als ein halbes Jahrhundert später wird in der tiefen sowjetischen Provinz, in der Stadt Jejsk am Asowschen Meer, die Avantgarde im Dienste einer ästhetischen Utopie wiederbelebt. Mit der Ausweitung der literarischen Arbeit auf Gebiete am Rand oder gar außerhalb traditioneller poetischer Techniken setzten die sogenannten Transpoeten  ganz neue Akzente in der experimentellen Kunst. Mit ihrer beispiellosen Kreativität gelang es ihnen in der ersten Hälfte der 1980er Jahre, viele Künstler der spätsowjetischen Neoavantgarde rund um die Samisdat-Zeitschrift „Transponans“ zu vereinen.

Die Gründer und Theoretiker der Gruppe, das Ehepaar Ry Nikonova und Sergej Sigej (Pseudonyme von Anna Tarschis und Sergej Sigow), sind auf dem Foto in der unteren Hälfte des Bildes zu sehen. Die Unterschrift auf dem Bild lautet: „Pneumatisches Duett mit phonetischen Marginalien, 1983/1984“. Das Wort Inspiration wird hier in seiner unmittelbaren Bedeutung genommen. Die Wörter „Atem“ (dychanie) und „Geist“ (duch) liegen im Russischen viel näher beieinander als im Deutschen, und die beiden Künstler bringen hier die Buchstaben zum Klingen durch bloßes Atmen. Selbstverständlich erfordert ein solches Duett das vorherige Präparieren speziell dafür gefertigter Bücher. Der Nachlass der 2014 verstorbenen Künstler, der zu einem großen Teil im Archiv der FSO aufbewahrt wird, beinhaltet hunderte Künstlerbücher, die, wie hier, durch Blasen oder auch durch Werfen, Trinken, Schütteln und, natürlich, ganz konventionell, durch Lesen und Betrachten zum Einsatz kommen.  Die in einer Auflage von fünf Exemplaren zwischen 1979 und 1987 entstandenen 36 Bände der Zeitschrift Transponans stechen nicht nur wegen des Inhalts, sondern auch wegen ihrer außergewöhnlichen der Form(en) ins Auge und wurden für Künstler*innen aus Leningrad und Moskau zu einer wichtigen literarischen Plattform. Die Verbindung von sprachlichen, visuellen und performativen Komponenten macht die Editionen zu einem echten Gesamtkunstwerk. 

Ilja Kukuj (LMU München)

Der Literaturalmanach MetrOpol

In den 1970er Jahren stießen sowjetische Künstler*innen und Literat*innen auf ihrer Suche nach alternativen Ausdrucksformen ständig an die Grenzen der Zensurbehörden. Angesichts des an den starren Vorgaben des sozialistischen Realismus festhaltenden offiziellen Literaturbetriebs verschwanden häufig auch Manuskripte anerkannter Mitglieder des Schriftstellerverbands mit einem Ablehnungsvermerk in der Schublade. Mit der Erstellung des Literaturalmanachs „MetrOpol“ versuchten zwei Dutzend Schriftsteller, diese Einschränkungen der künstlerischen Freiheit zu überwinden. Was als mutiges und enthusiastisches Vorhaben begann, endete 1979 mit der Metropol-Affäre als politischem „cause célèbre“ im Kalten Krieg.

Im Jahr 1978 schritt das Herausgeberkollektiv um Wassili Axjonow, Wiktor Jerofeew, Jewgeni Popow, Andrei Bitow und Fasil Iskander zur Tat. Für zwölf inoffiziell gefertigte Druckfahnen mussten etwa 12.000 maschinengeschriebene Seiten getippt, korrigiert und zusammengeklebt werden. Inhaltlich vereinte der Almanach so gegensätzliche Autor*innen wie die im Selbstverlag (Samisdat) publizierenden Dichter Genrich Sapgir und Jewgeni Popow mit offiziell anerkannten Poeten wie Andrej Wossnessenski und Bella Achmadulina. Der Bühnenbildner des Moskauer Theaters an der Taganka, David Borowski, konzipierte das Layout, während der Künstler Boris Messerer das Umschlagmotiv in Form eines Grammophons beisteuerte. Das Herausgeberkollektiv verschrieb sich ausdrücklich einem ästhetischen Pluralismus und erschuf mit seinem Gemeinschaftsprojekt „MetrOpol“ eine (künstlerische) Heimat, „ein hauptstädtisches Obdach über der weltbesten Metro“, wie sie es selbst nannten.

Zur für Januar 1979 geplanten Vernissage des Bandes im Moskauer Café Rythmus sollte es aufgrund einer Vorladung der Herausgeber vor den Schriftstellerverband nicht mehr kommen. Ihnen wurde vorgeworfen, den illegalen Selbstverlag institutionell verankern zu wollen. Das verhängte Publikationsverbot der Autor*innen zog Proteste Kulturschaffender im In- und Ausland nach sich und legte den Grundstein für die spätere Emigration einer ganzen Reihe von sowjetischen Schriftstellern in die USA und Europa. Das Schicksal der Druckfahnen ist nicht umfassend geklärt. Noch 1979 wurde MetrOpol im bekannten Ardis-Verlag in den USA veröffentlicht. Die Odyssee zweier Exemplare des Sammelbandes endete in Bremen. Eine der Originaldruckfahnen befindet sich im Nachlass von Genrich Sapgir. Kopien der Illustrationen seines ausschließlich im amerikanischen Ausgaben von MetrOpol veröffentlichten Gedichts „Fesseln“ zählen zum Nachlass des für seine freizügigen Grafiken bekannten nonkonformen Künstlers Anatoli Brusilowski.

Manuela Putz (FSO Bremen)