Rezension

Joanna Nowotny / Julian Reidy: Memes. Formen und Folgen eines Internetphänomens, Bielefeld: transcript 2022, 258 S., ISBN 978-3-8376-6124-8, 25.00 EUR
Buchcover von Memes
rezensiert von Verena Straub, Institut für Kunst- und Musikwissenschaft, Technische Universität, Dresden

Dass Memes nicht nur nerdige Internet-Trends oder harmlose Bildwitze sind, sondern mitunter einen entscheidenden Einfluss auf gesellschaftliche, kulturelle und politische Prozesse haben, kann mittlerweile kaum mehr geleugnet werden. Während sich die englischsprachige Forschung dem Thema schon seit mehreren Jahren widmet [1], hat die deutschsprachige Meme-Forschung erst seit Kurzem an Fahrt aufgenommen. Das umfassend recherchierte und kenntnisreiche Buch der beiden Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen Joanna Nowotny und Julian Reidy stellt daher einen wichtigen Beitrag dar, Memes als ernstzunehmendes Forschungsobjekt im deutschsprachigen akademischen Kontext zu etablieren.

Das Buch beginnt mit den Fragen: Was verstehen wir eigentlich unter Memes? Wie können wir dieses heterogene, mitunter sehr unübersichtliche Phänomen, greifbar machen? Nowotny und Reidy diskutieren einige der geläufigsten Definitionsangebote, die den Diskurs derzeit prägen. Statt jedoch der (immer wieder laut werdenden) Forderung nach einer einheitlichen Definition nachzugeben, betonen sie gerade die Notwendigkeit, dem Phänomen "terminologisch und konzeptuell vielmehr mit Offenheit und Kreativität [zu] begegne[n]". (13) So lautet die überzeugende Setzung gleich zu Beginn des Buches: "Wir verabschieden uns also von der Illusion definitorischer Uniformität und suchen weiter gefasste und dennoch präzise Kriterien, Konzepte und Kategorien, die dem Facettenreichtum der 'digitalen Substanzen' gerecht werden." (14) Durch Rekurs auf diverse medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven - etwa auf Peter Glasers Metapher einer instabilen, ständig neu kombinierbaren "digitalen Substanz" - gelingt es den beiden Autor*innen, gerade dem heterogenen Charakter des Phänomens gerecht zu werden, ohne dabei auf Allgemeinplätze auszuweichen.

Diesen Facettenreichtum ergründen die Autor*innen anhand von fünf Hauptkapiteln: Neben dem zentralen Charakteristikum der "Referenzialität" (Kap. 2) diskutieren sie die Rolle von "Humor" (Kap. 3), die Beziehung von Memes zu "Politik" (Kap. 4), deren Relation zum "Mainstream" (Kap. 5) sowie Entwicklungen einer "Kanonisierung" von Memes (Kap. 6). Die auf den ersten Blick vielleicht etwas unübersichtlich wirkende Buchstruktur wird durch schlüssige, immer wiederkehrende Themen zusammengehalten. Insbesondere die Mehrdeutigkeit und enorme Mutationsfähigkeit von Memes führt wie ein roter Faden durch die Studie.

Theoretischer Fixpunkt des Buches ist die von Felix Stalder ausgerufene "Kultur der Digitalität" [2], die Nowotny und Reidy am Beispiel von Memes "genauer kartographieren - und ihren Bildern, Motiven, Narrativen sowie Rezeptionseffekten mit dem Rüstzeug der Kulturwissenschaften auf den Grund gehen [wollen]". (9-10) Schon Stalder lässt sich in seinem Buch auf die inhärenten politischen Widersprüchlichkeiten der Kultur der Digitalität ein, wenn er einerseits die postdemokratischen Strukturen der sozialen Massenmedien beschreibt, andererseits aber auch auf das Demokratie erneuernde Potential digitaler Commons, also gemeinschaftlicher Produktions- und Handlungsformationen im Netz, verweist.

Diese politische Ambivalenz der "Kultur der Digitalität" weisen Nowotny und Reidy am Beispiel von Memes exemplarisch nach. Die differenzierte Argumentation der Autor*innen führt vor Augen, auf welch komplexe Art und Weise das Verhältnis von Memes zum Politischen gedacht werden muss. So zeigen sie, dass die politische Mobilisierung durch Memes "keineswegs einen Gewinn an Partizipation, Prägnanz und Engagement bedeuten" muss und teilweise sogar einer "Interpassivität" Vorschub leistet (119). Diese Sicht auf Memes als politische Ersatzhandlung stellt jedoch nur einen Pol auf einer "Skala memetisch-politischen Handelns" dar, den die beiden Autor*innen vorschlagen (120). In der Mitte einer solchen Skala verorten sie das Potenzial von Memes, demokratische Partizipationsmöglichkeiten zu erweitern und einen produktiven Beitrag zur politischen Kultur zu leisten (z.B. als Protest gegen Zensur). Das andere Ende dieser Skala beschreiben die beiden insofern als "besorgniserregend" als dass memetisch-politisches Handeln auch zu einer toxischen Form der Sabotage verkommen kann, indem demokratische Prozesse selbst zur Zielscheibe werden (z.B. rassistische Memes, 120). Statt sich auf die eine oder andere Seite der Debatte zu schlagen - also entweder den optimistischen oder pessimistischen Einschätzungen der Meme-Kultur Recht zu geben - liegt die Stärke des Buches gerade darin, diese bislang widerstreitenden Perspektiven zu einem heterogenen Ganzen zusammenzuführen. Memes, so wird nach der Lektüre des Buches unmissverständlich deutlich, können demokratische Prozesse befeuern ebenso wie behindern; sie können bestehende Machtverhältnisse subversiv unterlaufen aber auch stützen; sie können klare Botschaften formulieren, die Frage nach politischen 'Absichten' unter einer Vielzahl ironischer Schichten aber auch verstecken und ad absurdum führen.

Eine Leerstelle des Buches bildet hingegen die Frage nach dem methodischen Umgang mit Meme-Netzwerken. Gerade wenn wir es mit einer Vielzahl von Bildern zu tun haben, die in ein Geflecht von textuellen Bezügen und Metadaten eingebunden sind, sich teils über mehrere Plattformen erstrecken und ständig neue Aneignungen und Umdeutungen erfahren, bedeutet dies neue methodische Herausforderungen für die kultur- und bildwissenschaftliche Forschung. Auf welche digitalen Tools können wir zurückgreifen, um Memes überhaupt aufzuspüren und ihre Verbreitung nachzuvollziehen? Welche Memes werden uns in unseren Social Media Feeds angezeigt, welche nicht? Was sagen uns diese Sicht- bzw. Unsichtbarkeiten über die machtpolitischen Strukturen der Sozialen Medien? Und wie lassen sich Trends und Umschwünge innerhalb von Meme-Clustern (auch quantitativ) nachweisen? Wenngleich Nowotny und Reidy die Vielschichtigkeit einzelner Meme-Aneignungen meisterhaft auffächern und ihre Herangehensweise an Einzelbilder methodisch reflektieren (Kap. 3.1), bleiben die oben genannten Fragen nach dem Umgang mit Bild-Netzwerken weitestgehend unbeantwortet.

Obwohl das Buch erst im März 2022 erschienen ist, konnte es die jüngsten Debatten um Memes während des Russland-Ukraine Konflikts nicht mehr berücksichtigen. Dies macht sich insbesondere in der Einschätzung von TikTok bemerkbar, das von den Autor*innen noch lapidar als "Videoportal für die Lippensynchronisation von Musikvideos und anderen kurzen Videoclips" bezeichnet wird (20). Im Kontext der jüngsten Kriegsereignisse rückte TikTok jedoch als eine der wichtigsten Meme-Plattformen und medialen Akteure in den Fokus. Hier zeigt sich wie gering die Halbwertszeit einer Studie sein kann, die sich einem so aktuellen wie wandelbaren Phänomen widmet. Nowotny und Reidy nehmen dies "als einzige sichere Vorhersage" bereits selbstkritisch vorweg (15). Jede noch so aktuelle Analyse der Meme-Kultur ist notwendigerweise unvollständig und bestärkt somit einmal mehr das Anliegen des Buches, offene Beschreibungskategorien zu finden. In dem Bestreben, gerade den fluiden und widersprüchlichen Charakter der Meme-Kultur konzeptuell zu fassen, ist die Studie somit nicht nur eine gelungene Bestandsaufnahme bisheriger Meme-Phänomene, sondern stellt auch eine bereichernde Grundlage für weitere Forschungen bereit.


Anmerkungen:

[1] Zu nennen wären etwa die ersten vielbeachteten Studien von Limor Shifman und Ryan M. Milner. Limor Shifman: Memes in Digital Culture, Cambridge 2013; Ryan M. Milner: The World Made Meme: Public Conversations and Participatory Media, Cambridge 2016.

[2] Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Berlin 2016.


Verena Straub

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Empfohlene Zitierweise:

Verena Straub: Rezension von: Joanna Nowotny / Julian Reidy: Memes. Formen und Folgen eines Internetphänomens, Bielefeld: transcript 2022
in: KUNSTFORM 23 (2022), Nr. 7,

Rezension von:

Verena Straub
Institut für Kunst- und Musikwissenschaft, Technische Universität, Dresden

Redaktionelle Betreuung:

Kerstin Schankweiler