Rezension

Michael Hofstetter: VOL3 / 2011-2019 . , Freiburg: modo Verlag 2019, 296 S., ISBN 978-3-86833-264-3, 34.00 EUR
Buchcover von VOL3 / 2011-2019
rezensiert von Caroline Sternberg, Akademie der Bildenden Künste, München

Im 20. Jahrhundert gab es verschiedene avantgardistische Bewegungen, die den Kanon der Kunst(geschichte) neu definierten. Spätestens seit den 1960er Jahren hinterfragt die Kunst stetig ihre eigenen Grundsätze. Auch die Bilderstürme von der Antike bis in die Gegenwart werden unter ihrem schöpferischen Aspekt betrachtet. Gerade die zeitgenössische Kunst, die Zerstörung, Umdeutung und Verrückung als Arbeitsmethode sehen kann, trägt dazu bei, dass die wissenschaftliche Betrachtung Interaktionen und sogar zerstörende Eingriffe in bestehende Kunstwerke ernst nimmt und analysiert. [1]

Michael Hofstetter ist einer der Künstler, die zu diesem Diskurs beitragen. Sein 2019 erschienenes Buch "Michael Hofstetter: Vol3 / 2011-2019" sammelt Arbeiten, die sich mit der Immanenz von Dingen beschäftigen. Der Band beginnt ohne Vorwort, Vita des Künstlers und Inhaltsverzeichnis weniger als klassische Künstlermonografie, sondern ist als Künstlerportfolio angelegt. So betrachtet der Leser im ersten Teil Fotografien von ausgestellten Werken Michael Hofstetters. Diese Abbildungen werden zu wichtigen Zeugnissen seiner ephemeren Kunst. Für seine Arbeiten verwendet er Fundstücke, oft interveniert er künstlerisch in Texte. Zentral sind Textzitate, die in Form von Leuchtschrift, Luftballons oder sogar aus Sand geformt, spielerisch in neue Zusammenhänge treten.

Den zweiten Teil des Buches bilden vier Texte zu einzelnen Werken Hofstetters, die die theoretischen Zusammenhänge seiner Arbeit aufzeigen. Die Kunstwissenschaftlerin Dorothée Bauerle-Willert schreibt gemeinsam mit der Kulturantropologin und freien Kuratorin Shiva Lachen über die Ausstellung "Erspielen und Verspielen" im Münchner Kunstpavillon von 2012. Hier geht es den beiden ausstellenden Künstlern, Michael Hofstetter und Kay Winkler, um die Entlarvung eines "aufgeblasenen Kunstwollen[s]", das nicht zuletzt auch auf die Entstehungszeit des Baus in den 1930er Jahren verweist (182). Die am Boden liegende Taucherglocke Kay Winklers wirkt echt, ist aber ein Imitat aus Gips. Darüber schweben Hofstetters mit Helium gefüllte Ballons, die später "als schwarze Gummilappen" auf dem Boden liegen (189). Besonders durch den an antike Vasenzeichnungen erinnernden Aufdruck auf den Ballons wird deutlich, dass hier ein Geflecht von indexikalischen Verweisen und Assoziationsketten erzeugt wird. Die Autoren versuchen diesen Schritt für Schritt nachzugehen und bemerken am Ende selbst, dass im Zentrum der Arbeit "die Bewegung selbst" steht. (187).

In einem weiteren Beitrag widmet sich Karin Hutflötz Hofstetters Arbeit "Upcycling" von 2013. Was vorher BUDWEISER, EROS oder LIFT UP YOUR LIFE hieß, wird zu einem Zitat Theodor W. Adornos: Der Satz "Die Wirklichkeit der Kunstwerke zeugt für die Möglichkeit des Möglichen" stellt einen Kernsatz der ästhetischen Theorie Adornos dar. Die Philosophin Karin Hutflötz bringt dem Leser geglückt die Inhalte der Arbeit näher. Was ist die Wirklichkeit der Kunstwerke? Schon lange nicht mehr ihr Wirklichkeitscharakter, aber für Hofstetter sicher auch nicht ihr Marktwert. Die Arbeit will die Werke der Kunst, "Zweck und Wertzuschreibung ebenso dem Eindeutigen und Festlegbaren entziehen" (209). Auch Werbung und Propagandakunst geraten hier in den Blick. "Der [...] Satz Adornos [...] gerät in eine Fragwürdigkeit, die keine Antwort mehr zulässt" (211).

Der Historiker und Philosoph Karl Borromäus Murr schreibt in seinem Text "Stoff-Wechsel" über Hofstetters Arbeit "Webfalten" (2015) und deren Weiterverarbeitung zur Modekollektion KOPAKONA (2018 mit dem Designer Arnold Gevers entworfen). Hofstetter verhüllte in seinem Werk zwei Vitrinen im Augsburger Textilmuseum, die die Geschichte der europäischen Mode beleuchten. Aus einem ursprünglich industriell gefertigten Stoff wird Kunst. Bereits im Titel "Webfalten" sieht Murr Bezüge zu Michel Foucault und Gilles Deleuze, die die "Falte" als Metapher postmodernen Weltverständnisses sehen, das "sich in endlosen Differenzierungen [...] immer wieder neu" entfaltet (226). Passend dazu verschränken sich Aufdrucke mit Motiven aus der Geschichte der für die Baumwollindustrie ausgebeuteten Sklaven mit den in der Vitrine präsentierten, repräsentativen Kleidungsstücken der Modeindustrie. Durch die Weiterverarbeitung der Stoffe zur Modekollektion wird die Kunst in einem weiteren Schritt in den Zustand des Vergänglichen überführt. Murr sieht in diesem "Stoff-Wechsel" z.B. Jean Baudrillard folgend einen "Aufstand der Zeichen" (231). Oder er bezieht sich auf Gilles Lipovetskys Modetheorie, die das Ephemere als Charakteristikum unserer heutigen Gesellschaft sieht.

In einem letzten Beitrag schreibt Shiva Lachen, manches deutet darauf hin, es handle sich hierbei um Michael Hofstetter selbst, über die Intervention auf der IV. Biennale in Odessa 2015. Würde diese Mutmaßung stimmen, dann wäre der Perspektivwechsel, den der Künstler hier vornimmt, Teil seiner sich zwischen Theorie und künstlerischer Praxis bewegenden Gesamtstrategie. Im Zentrum seiner Arbeit in Odessa steht ein Schriftzug des Künstlers Kasimir Malewitsch: "Meine Philosophie ist: die Zerstörung der alten Städte und Dörfer alle 50 Jahre, die Vertreibung der Natur aus der Kunst, die Vernichtung von Liebe und Aufrichtigkeit in der Kunst, aber nicht die Abtötung des lebendigen Quells - des Menschen (Krieg.)" (262). Shiva Lachen stellt die Hintergründe der Arbeit dar: Die Suche nach dem zentralen Satz der Moderne sowie nach einem Material, das die Vergänglichkeit dieses "Ewigkeit beanspruchenden Satz[es]" darstellen kann, und die Einbindung des Betrachters als geplanten Akteur (263). Das Thema ist hier die Kunst an sich. Bereits auf der Eröffnung wurde die Arbeit von den Besuchern zerstört. Die zertretenen Buchstaben werden zur "Allegorie" zwischen "Idee, Material, Ewigkeit und Vergänglichkeit" (268f.).

Hofstetter steht in der Tradition der Konzeptkunst. Seine Werke bestehen aus Bezügegeflechten, mit denen sie gegen gängige Narrative der Kunst opponieren und über das Medium der Kunst am Diskurs um die Kunst teilhaben: Gegen eine Historisierung, gegen eine Musealisierung von Kunst, gegen den Kunstmarkt. [2] Vergänglichkeit und Bewegung sind sein Thema. Nichts ist festgezurrt. Gerade das bürgt für den utopischen Gehalt der Kunst.


Anmerkungen:

[1] Hier einige Beispiele: Martin Warnke: Bildersturm. Die Zerstörung des Kunstwerks, Frankfurt a. M. 1988; Dario Gamboni: Zerstörte Kunst. Bildersturm und Vandalismus im 20. Jahrhundert, London 1997, deutschsprachige Übersetzung, Köln 1998; Uwe Fleckner (Hg.): Der Sturm der Bilder. Zerstörte und zerstörende Kunst von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2011; Birgit Ulrike Münch / Andreas Tacke / Markwart Herzog / Sylvia Heudecker (Hgg.): Bildergewalt. Zerstörung - Zensur - Umkodierung - Neuschöpfung, Petersberg 2018.

[2] Zum Diskurs über die sich verändernden Beurteilungskriterien von Kunst siehe beispielsweise: Oskar Bätschmann: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997; Wolfgang Ulrich: Siegerkunst. Neuer Adel, teure Kunst, Berlin 2016; Markus Metz / Georg Seeßlen: Geld frisst Kunst. Kunst frisst Geld, München 2015.


Caroline Sternberg

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Caroline Sternberg: Rezension von: Michael Hofstetter: VOL3 / 2011-2019 . , Freiburg: modo Verlag 2019
in: KUNSTFORM 21 (2020), Nr. 7,

Rezension von:

Caroline Sternberg
Akademie der Bildenden Künste, München

Redaktionelle Betreuung:

Hubertus Kohle