Rezension

Karen van den Berg / Cara M. Jordan / Philipp Kleinmichel: The Art of Direct Action. Social Sculpture and Beyond, Berlin: Sternberg Press 2019, ISBN 978-3-95679-485-8, 22.00 EUR
Buchcover von The Art of Direct Action
rezensiert von Rebekka Marpert, International Graduate Centre for the Study of Culture, Justus-Liebig-Universität, Gießen

Es gilt als kunsthistorischer Konsens, dass Joseph Beuys mit seinem Konzept der Sozialen Plastik einen Grundpfeiler für das heutige Kunstverständnis gelegt hat. Kunst entsteht seither nicht mehr nur im Atelier, wo gesellschaftliche Konflikte in einem Objekt verarbeitet werden, sondern agiert direkt an den gesellschaftlichen Brennpunkten. Meist jenseits der großen Kunstschauen arbeiten heute Künstlerinnen und Künstler weltweit aus ihrem Selbstverständnis heraus für eine Verbesserung der Lebenssituation von Benachteiligten mit diesen zusammen. Doch wie präsent ist das Erbe von Beuys in dieser sozial engagierten Kunst noch und inwieweit war und ist der deutsche Künstler auch für die Entwicklung der Kunstströmung in den USA und anderen Ländern der Welt relevant? Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes "The Art of Direct Action. Social Sculpture and Beyond" nehmen sich in 16 Beiträgen dieser Fragen an, mit dem Ziel zu erörtern, was das Spezifikum der aktuellen sozial engagierten Kunst ist. Fünf kunstwissenschaftliche Aufsätze widmen sich den historischen Vorläufern und der Bestimmung der Begriffe Soziale Plastik (social sculpture) und der sozial engagierten Kunst (socially engaged art). Sie werden ergänzt von elf mit internationalen Kunst- und Kulturschaffenden geführten Interviews, die sich mit den Aufsätzen im Buch abwechseln. Die Beiträge basieren in Teilen auf dem Symposium "From Social Sculpture to Art Related Action", welches 2016 an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen abgehalten wurde.

Nach der Einleitung der Herausgeber eröffnet Karen van den Berg mit einer differenzierten Bestandsaufnahme des Diskurses über die zeitgenössische sozial engagierte Kunst. Anhand aktueller Werkbeispiele zum Themenkomplex Geflüchtete grenzt sie die Strömung von ähnlichen Phänomenen wie der New Genre Public Art ab. Wesentlich ist für sie, dass an die Stelle einer autorenzentrierten Arbeitsweise, die mit Werken über gesellschaftliche Gruppen einhergeht, die Arbeit mit diesen tritt. Als Wegbereiter benennt van den Berg zum einen Beuys' Konzept der Sozialen Plastik und sein in der Künstlerrolle vollzogenes gesellschaftspolitisches Engagement. Zum anderen führt sie die Gruppe der Situationisten und deren Forderung nach einer "Kreativität der Vielen" (36) an, die programmatisch eine Arbeit im Kollektiv verfolgten. Mit dem Fokus auf die historischen Vorläufer der sozial engagierten Kunst und der Frage nach der Aktualität der Sozialen Plastik legt van den Berg die zwei den Sammelband durchziehenden Leitgedanken dar.

Es folgt das erste Interview mit dem US-amerikanischen Künstler Dan Peterman über seine Kunstprojekte, die auf gesellschaftliche Problemlagen reagieren, wie beispielsweise das Betreiben einer offenen Fahrradwerkstatt für Kinder im Süden Chicagos. Das zweite Interview führt van den Berg mit Marina Naprushkina über ihr Projekt Neue Nachbarschaft // Moabit, einem Treffpunkt für Geflüchtete und Menschen aus der Nachbarschaft. Naprushkina erläutert dazu, wie sie als Künstlerin das gesellschaftspolitische Projekt betrachtet: "While painting still lifes, our teacher always said: 'Paint the apple exactly, but keep an eye on the whole still life'. For Neue Nachbarschaft, this means that I have to look at each individual and at the same time see the initiative as a whole, as a social organism." (61)

Der daran anschließende Aufsatz "Action and Critique of Action in Theodor W. Adorno and Joseph Beuys" von Grant H. Kester führt zurück in die Kunsttheorie. Kester erörtert die Differenzen zwischen Adornos Ästhetischer Theorie und Beuys' partizipatorischen Kunstprojekten sowie die Relevanz dieser gegensätzlichen Positionen für den aktuellen Kunstdiskurs. Die theoretische Beschreibung von Beuys Aktivitäten der 70er werden durch Interviews mit zwei Zeitzeugen weitergeführt. Rainer Rappmann berichtet über seine Teilnahme als junger Student an der Internationalen Sommertagung 1973 des Achberg-Kreises, in dem Beuys eine zentrale Rolle einnahm und unter anderem Lesungen abhielt. [1] Das nächste Interview lässt die einflussreiche Kuratorin und Filmemacherin Caroline Tisdall zu Wort kommen, die mit ihrer Arbeit seit den 70er Jahren das Bild von Beuys im englischsprachigen Raum prägt. Weiter erzählt der Künstler und Dozent Gregory Sholette im Interview über die sich wandelnde Bedeutung von Beuys in seiner Studienzeit in den 80ern hin zu seiner jetzigen Lehrtätigkeit.

Der Aufsatz von Cara M. Jordan "Joseph Beuys and Feminism in the United States: Social Sculpture Meets Consciousness-Raising" geht der Beuys-Rezeption feministischer Künstlerinnen nach. Beuys reiste 1974 das erste Mal nach Amerika, um Land und Leute besser kennenzulernen und um ihnen seine Ideen zur Sozialen Plastik vorzustellen. Beuys empfand die öffentlichen Gespräche sowie das Treffen mit einer Gruppe feministischer Künstlerinnen und Kritikerinnen, zu denen Lucy Lippard, Cindy Nemser, Faith Ringgold und Yoko Ono zählten, im Rückblick als fruchtbar und ebenbürtig. Diese jedoch warfen Beuys patriarchales Verhalten und Desinteresse an ihren Zielen vor. Auch die darauffolgende Generation feministischer Künstlerinnen in den USA rezipierte nur selten direkt Beuys. Dennoch beinhaltete ihre Kunst den Kerngedanken der Sozialen Plastik, so Jordans These, da sowohl Beuys als auch die Künstlerinnen an das revolutionäre Potential der Kunst glaubten. Mit Daniel Joseph Martinez wird im Anschluss ein Künstler interviewt, der als einer der Wenigen in den USA Beuys' Konzepte im Rahmen einer Assistenzstelle bei Klaus Rinke und nicht durch Lektüre studierte. Rinke wiederrum pflegte zu Beuys einen engen Kontakt und realisierte gemeinsam mit ihm mehrere Projekte. [2] In weiteren Interviews sprechen die Kuratorin Mary Jane Jacobs und der Mitbegründer des e-flux Journals Anton Vidokle jeweils über ihr Verständnis der Sozialen Plastik und welche Rolle diese für ihre eigene Arbeit spielt.

Von der Praxis springt Phillip Kleinmichels Aufsatz wieder zurück zu den übergeordneten, theoretischen Fragestellungen. In seinem Aufsatz "The Symbolic Excess of Art Activism" geht er der Frage nach, wie der politische Wert zeitgenössischer politisch engagierter Kunst bemessen werden kann. So produziert im Vergleich zu politischem Aktivismus der künstlerische Aktivismus einen "exzessiven Überschuss an Bedeutung und symbolischem Wert" (226), welcher sich in Publikationen, Ausstellungen, Lesungen etc. objektiv manifestiert. Der Wert der Kunst entsteht demzufolge aus der Kennzeichnung der politischen Protestformen und der Übertragung dieser in das Museum.

Auch John Roberts Beitrag "Art, Neoliberalism, and the Fate of the Commons" behandelt das Phänomen, dass sozial engagierte Kunstprojekte und politische Praktiken seit den 90er Jahren immer schwerer voneinander zu unterscheiden sind. Mit einem Exkurs in die Wirtschaft erklärt er, wie in Folge von Kapitalismus und Neoliberalismus Allgemeingüter von der öffentlichen Hand in den privaten Sektor übertragen wurden. Partizipatorische und sozial engagierte Kunst entwickelten ihm zufolge Modelle, die diese Privatisierungsprozesse negieren. Jedoch warnt Roberts davor, die künstlerische Praxis mit politischen Praktiken zu verwechseln. Trotz des Vorbildcharakters für alternative Gesellschaftsgestaltungen dürfe Kunst keinesfalls eine "politische Führungsrolle" einnehmen (247). Dies würde sie eben jener Fähigkeit berauben, die die Negation der kapitalistischen Marktlogik überhaupt erst ermögliche: Die Fähigkeit der spekulativen Vernunft, sprich der Imagination von Alternativen jenseits der realen Gesellschaftskonstitution.

Im Interview mit dem serbischen Künstlerkollektiv kuda.org wird deren Projekt Centar_kuda.org vorgestellt und das theoretische Gerüst ihrer Arbeiten diskutiert. Im nächsten Interview präsentiert sich der mexikanische Künstler Pedro Reyes. Er erzählt von seiner frühen Begeisterung für Beuys während seines Studiums in den 70ern, welche bis heute großen Einfluss auf seine Art zu arbeiten hat. Der Sammelband schließt mit einer kritischen Betrachtung von Beuys' Erbe durch Caroline Woolards sowie die Reflexion ihres Œuvres.

"The Art of Direct Action. Social Sculpture and Beyond" gibt eine Einführung in die Ursprünge der Sozialen Plastik und ihrer Weiterentwicklung unter dem Schirmbegriff der sozial engagierten Kunst bis in die Gegenwart. Die besondere Eigenart ist, dass Verbindungslinien zwischen zwei meist getrennt erforschten Phänomenen hergestellt werden: Dem deutschsprachig geprägten Diskurs über Beuys Soziale Plastik und dem englischsprachig dominierten Diskurs über socially engaged art. Die große Anzahl an Interviews bietet dabei einen Überblick über Künstlerinnen und Künstler, die aufgrund jahrzehntelanger Erfahrung im Feld die kunstwissenschaftlichen Texte mit einem Blickwinkel aus der Praxis erweitern. Zeitzeugen wie Caroline Tisdall und Rainer Rappmann schildern ihren Eindruck von Beuys aus erster Hand, während Künstlerinnen wie Marina Naprushkina die Relevanz und Aktualität der Bestimmung ihrer gegenwärtigen sozial engagierten Kunstprojekte diskutieren. Als kleiner Kritikpunkt ist das Ende des Bandes zu nennen, denn es schließt recht abrupt mit drei Interviews. Gleichzeitig zeigt sich, dass das Buch von seinem Anfang bis zum abschließenden Interview den zwei großen Leitthemen anhand klarer Fragestellungen folgt. So erhält die interessierte Leserin einen Überblick über die Kunst und den Diskurs in seiner Diversität.


Anmerkungen:

[1] Vgl. dazu auch Volker Harlan / Rainer Rappmann / Peter Schata (Hgg): Soziale Plastik - Materialien zu Joseph Beuys, 3. erw. und erg. Aufl., Achberg 1984.

[2] https://cafedeutschland.staedelmuseum.de/gespraeche/klaus-rinke [letzter Zugriff am 16.03.2020].


Rebekka Marpert

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Rebekka Marpert: Rezension von: Karen van den Berg / Cara M. Jordan / Philipp Kleinmichel: The Art of Direct Action. Social Sculpture and Beyond, Berlin: Sternberg Press 2019
in: KUNSTFORM 21 (2020), Nr. 5,

Rezension von:

Rebekka Marpert
International Graduate Centre for the Study of Culture, Justus-Liebig-Universität, Gießen

Redaktionelle Betreuung:

Hubertus Kohle