Rezension

Anne-Marie Sankovitch: The Church of Saint-Eustache in the Early French Renaissance. , Turnhout: Brepols 2015, ISBN 978-2-503-55514-0, 99.00 EUR
Buchcover von The Church of Saint-Eustache in the Early French Renaissance
rezensiert von Alexander Markschies, Institut für Kunstgeschichte, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule, Aachen

Mitten im "Bauch von Paris" gelegen, an der Südseite freigelegt durch den Abriss der Baltardschen Markthallen im Jahre 1972, ist Saint-Eustache, die zweitgrößte Kirche in der Metropole nach der Kathedrale Notre-Dame. Bei etwa gleicher Gewölbehöhe (34 m./35 m.) ist sie kürzer und schmaler (105 m./130 m. und 44m./48 m.), mithin kompakter, was vielleicht dem zur Verfügung stehenden Eckgrundstück zwischen Rue Coquillière, Rue Rambuteau und Rue Montmartre geschuldet sein mag. Auch in ihrem Typus mit fünf Schiffen, die von Kapellen in den Strebepfeilern umgeben sind, und dem für die Bauzeit ungewöhnlichen Triforium folgt Saint-Eustache Notre-Dame. Sichtbar appropriieren zudem die Querhausfassaden das Vorbild.

Der Forschungsstand war bis zu der hier zu würdigenden Monografie deplorabel, substantiell sind lediglich eine schmale Monografie und ein die Baugeschichte in den Blick nehmender Aufsatz. [1] Verantwortlich dafür waren vermutlich die Schwierigkeiten, die Architektur eindeutig stilistisch zu verorten, nicht Flamboyant, nicht Renaissance und auch nicht Gotik. Inzwischen hat sich das Label "Renaissance Gothic" etabliert .[2] Wenig hilfreich für eine tiefergehende Auseinandersetzung war wohl auch die 'fortuna critica', zunächst die Gotik-Kritik des Klassizismus und dann vor allem die saftigen Worte, die Viollet-le-Duc für den Bau fand: als "unentschlossen inspiriert, schlecht entworfen und schlecht gebaut" diffamierte er Saint-Eustache, als "ein verwirrter, von allen Seiten entlehnter Schutthaufen ohne Verbindung und ohne Harmonie; eine Art gotisches Skelett, das mit römischen Lumpen bedeckt ist, die wie die Stücke eines Harlekin-Kostüms zusammengenäht sind" [Übersetzung AM]. [3] Wie Anne-Marie Sankovitch in ihrem Kapitel über die Forschungsgeschichte deutlich macht, ist diese Haltung auch entscheidend für das Interpretament des Baus, das vor allem in Überblickswerken einen Antagonismus von Struktur versus Ornament konstruiert (9-11). Anthony Blunt etwa sieht eine "Gothic structure [...] clothed in Renaissance forms". [4] Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.

An die Forschungsgeschichte schließen zwei instruktive Kapitel über den Städtebau - inklusive einer knappen Zusammenstellung des Wenigen, was man über den Vorgängerbau von Saint-Eustache in Erfahrung bringen kann - sowie über die Patronage von Franz I. an: Bekanntlich machte der König Paris wieder zur Hauptstadt, verfügte den Umbau des Louvre-Palastes, verlangte die Sanierung des Rathauses und ordnete verschiedene städtebauliche Maßnahmen an, die zum Teil bis heute wirksam sind. Dass der anspruchsvolle Neubau von Saint-Eustache sich mit ihm auf das Engste verbindet, hat man immer vermutet, mit Sankovitch wird diese These jetzt vollkommen plausibel (33-42). Hier findet auch die Bezugnahme der Kirche auf die Kathedrale - die jede Notre-Dame-Rezeption in den Schatten stellt - ihre einleuchtende Begründung, verdankte sich ja bereits letzterer Bau der königlichen Patronage.

Das umfänglichste Kapitel des Buches widmet sich der Baugeschichte (44-133). Methoden der historischen Bauforschung finden keine Anwendung. Das war für das Buch, das auf eine Dissertation am Institute of Fine Arts in New York zurückgeht, auch gar nicht zu leisten. Die nahsichtige, anschaulich argumentierende und zugleich sprachmächtige Architekturgeschichte aus kunsthistorischer Perspektive erhellt die einzelnen Bauphasen und korrigiert dabei gründlich und überzeugend die bislang rekonstruierte Chronologie. Um nur einen Aspekt zu nennen: Baubeginn war im Norden und nicht am südlichen Querhaus. Besonders gewinnend wird das Kapitel, weil es ausführlich die anspruchsvolle, ja faszinierende Bauornamentik in den Blick nimmt und präzise die Rolle von Sebastiano Serlios Viertem Buch bestimmt, den "Regole generali di architettura". 1537 publiziert und Franz I. in einem persönlichen Exemplar gewidmet, diente es, exakt seiner Wirkungsabsicht gemäß, offenbar bereits bei Saint-Eustache - und nicht erst bei Pierre Lescots neuer Louvre-Fassade - als Vorlage für einen neuen, regelgerechten Formenkanon "all' antica". Die präzise Analyse der Schmuckformen des Baus hier genau nachzuverfolgen, macht es auch einfacher, die avancierte Ornamenttheorie zu verstehen, die Sankovitch im Schlusskapitel des Buches etabliert. Argumentiert wird der Wechsel eines ersten Systems, nach dem Formen lediglich repetiert werden, zu einem neuen Schema, das Varianzen möglich macht.

Das fünfte Kapitel versucht eine Zuschreibung an Jean Delamarre, der demnach auch der erste Leser Serlios in Frankreich gewesen sein muss. Überzeugend sind hier vor allem die ausführliche begründete stilistische Nähe zu Saint-Maclou in Pontoise (139-161) und die Analyse der 1811 zerstörten Kirche Saint-Victor in Paris (164-168). Kapitel sechs verdient es, auch unabhängig von der Baumonografie rezipiert zu werden, denn nichts weniger als eine Architekturgeschichte der Historismen im französischen Sakralbau wird hier versucht. Dass dieser tendenziell die konservativste Bauaufgabe war, hat man immer gesehen, geradezu begeisternd ist jetzt Sankovitchs konzentrierte Analyse mit zum Beispiel der durchaus überraschenden, aber sehr gewinnenden These, der Bau von Cluny III sei selbst noch für Saint-Eustache prägend gewesen.

Das Buch ist vorzüglich und reich mit Abbildungen ausgestattet, größtenteils von der Autorin selbst. Auch das Layout ist klug inszeniert. Erschienen in der renommierten Brepols-Reihe "Architectura Moderna", die Phänomene des Einflusses und Austausches in der Frühen Neuzeit untersucht, wird es zudem durch vier instruktive Vorwörter geadelt. Es geht sehr zu Herzen, hier bei Marvin Trachtenberg vom frühen Tod der Autorin Anne-Marie Sankovitch zu erfahren.


Anmerkungen:

[1] Adrien Le Roux de Lincy / Victor Calliat: Église Saint-Eustache à Paris, Paris 1850; Michel Ranjard: Saint-Eustache. Les campagnes de construction de 1532 à 1640, in: Congrès archéologique de France 104 (1946), 103-135.

[2] Ethan Matt Kavaler: Renaissance Gothic, New Haven / London 2012.

[3] Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc: Dictionnaire raisonné de l'architecture française du XIe au XVIe siècle, Bd. 1, Paris 1854, 240.

[4] Anthony Blunt: Art and Architecture in France 1500-1700, New Haven / London 41982, 60.


Alexander Markschies

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Alexander Markschies: Rezension von: Anne-Marie Sankovitch: The Church of Saint-Eustache in the Early French Renaissance. , Turnhout: Brepols 2015
in: KUNSTFORM 21 (2020), Nr. 3,

Rezension von:

Alexander Markschies
Institut für Kunstgeschichte, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule, Aachen

Redaktionelle Betreuung:

Sigrid Ruby