Rezension

Tino Mager / Bianka Trötschel-Daniels: (Hgg.) Rationelle Visionen. Raumproduktion in der DDR, Weimar: Bauhaus-Universität 2019, 212 S., ISBN 978-3-95773-251-4, 36.00 EUR
Buchcover von Rationelle Visionen
rezensiert von Annika Eheim, Bauhaus-Universität, Weimar

Mit der vorliegenden Publikation bündeln Herausgeberin Bianka Trötschel-Daniels und Herausgeber Tino Mager neueste Forschungsergebnisse zu Bedingungen und Theorien der Raumproduktion in der DDR, auch anhand konkreter (städte-)baulicher Beispiele. Bereits der Titel - "Rationelle Visionen" - setzt gängigen Implikationen des Bauens in der DDR - geprägt etwa durch Narrative des Mangels oder der industriellen Wohnraumproduktion - vielgestaltige Forschungszugänge entgegen. Hervorgegangen ist der Sammelband aus einem Workshop im Sommer 2017 unter dem Titel "Von Platten und Ideen - Raumproduktion in der DDR hinterfragen". Vierzehn Nachwuchswissenschaftler und Nachwuchswissenschaftlerinnen verschiedener Forschungsdisziplinen stellen ihre Betrachtungen vor. Dabei werden architektonische Klischees infrage gestellt, die Denkmalpflegepraxis in der DDR beleuchtet und die Rolle von bisher wenig betrachteten Akteuren und Akteurinnen und Bürgerinitiativen im Kontext bauhistorischer Forschung ins Spiel gebracht.

Das entstandene Werk gliedert sich in drei Großkapitel unterschiedlicher methodischer Zugänge und Zeithorizonte. Zunächst werden unter dem Begriff der "Visionen" theoretisch orientierte und auf bestimmte Zukunftsideen abzielende Beiträge zusammengeführt. Anschließend werden mit dem zweiten Kapitel "Situationen" bauliche Phänomene als Resultat eines politisch, gesellschaftlich oder durch Einzelpersonen getriebenen Prozesses beleuchtet. Mit dem abschließenden Kapitel "Revisionen" wird die Rezeption im Rahmen von Ausstellungen und popkulturellen Wiederaneignungen von DDR-Architektur im weitesten Sinne erschlossen. Der Betrachtungszeitraum schließt demnach nicht mit dem Ende der DDR, sondern wird mit der Erforschung künstlerischer Auseinandersetzung seit 1990 und heutiger alltäglicher Wiederaneignung bis in die Gegenwart überführt.

Andreas Putz eröffnet mit seinem Beitrag "Wo Paul und Paula lebten. Zur Erhaltung und 'Rekonstruktion' des Baubestandes in der DDR" einen Blick auf die "realsozialistische Lebensrealität" (81) des Wohnens. Diese zog statistisch betrachtet nicht überwiegend in Neubauten ein, sondern fand in gleichem Maße in Bestandsgebäuden statt. Putz beleuchtet den planerischen und baulichen Umgang und damit Maßnahmen zur Erhaltung jener Gebäude. Zur Durchführung und Entwicklung der Bauaufgaben spielte der Volkseigene Betrieb (VEB) Baureparatur eine zentrale Rolle (87). Dabei verbanden die angewandten baulichen Praktiken industrielle Methoden mit baudenkmalpflegerischen Lösungen. Der bereits im Beitragstitel genannte Begriff der "Rekonstruktion" wird mit Putz' Beitrag in einem breiten Spektrum zwischen Reparatur, Modernisierung und "Reproduktion des Bestands" (89) des DDR-spezifischen Kontexts betrachtet. Während die Themen der Altstadtsanierung in der Forschung bereits angelangt sind, ist es nicht zuletzt das Anliegen des Autors, die Bauerhaltung und 'Rekonstruktion' als Ausgangspunkt von bautechnischen Entwicklungen zu erklären, die schließlich auf weitere Bauaufgaben der DDR übertragen wurden.

Von gänzlich unterschiedlichen Ansätzen zum Umgang mit kriegszerstörten Gebäuden berichten zwei weitere Beiträge des Kapitels "Situationen" an zwei prominenten Beispielen in Dresden. In dem Artikel von Luise Helas wird das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Schloss betrachtet. Von aktiven Hobbydenkmalpflegern und Hobbydenkmalpflegerinnen im Rahmen von freiwilligen Arbeitseinsätzen gesichert, zogen bald unterschiedliche Institutionen - mit teils kuriosen Nutzungen wie einer Champignonzucht oder einer privat genutzten Autogarage - in die überkommenen und schuttberäumten Gebäudeteile der Ruine ein (102). Der offizielle Beschluss zum Wiederaufbau wurde schließlich 1978 verabschiedet. In weiten Teilen wurde dieser bis 1989 umgesetzt, die endgültige Fertigstellung sei jedoch erst für das Jahr 2021 vorgesehen. Im Vergleich dazu erscheint der Gegenstand des nachfolgenden Beitrags von Anna Brettl zum Umgang mit der Villa Rosa von Gottfried Semper am Rande der Dresdener Neustadt geradezu aberwitzig. Im Zweiten Weltkrieg ebenfalls teilzerstört, beschreibt die Autorin präzise den Zustand des Gebäudes nach den Aufzeichnungen des Dresdener Denkmalpflegers Walter von Fritschen im Jahr 1952. Dieser konstatierte, dass das Erscheinungsbild der Anlage weitestgehend erhalten sei (115). Obwohl das Gebäude bereits seit über 20 Jahren als Denkmal gelistet war, wird es in einer "Enttrümmerungseuphorie" im Jahr 1955 abgebrochen. Die Darlegung der Geschichte zur Villa Rosa lässt die Autorin damit abrupt und überraschend enden - das Bauwerk verhallt mit ihren Worten im luftleeren Raum: "Wie es tatsächlich zum Abbruch der Villa Rosa kam ist nicht bekannt, da keine Quellen dazu auffindbar oder zugängig sind" (120). Mit diesem Beitrag werden nicht nur Leerstellen der Forschung gefüllt, sondern auch ihre Grenzen dargestellt und als solche thematisiert. Die beiden hier beleuchteten Beispiele stehen in einem paradoxalen Nebeneinander.

Im letzten Kapitel "Revisionen" betrachtet Sarah Alberti mit ihrem Beitrag "Zur Lage des Hauptes. Via Lewandowskys Beitrag für das Ausstellungsprojekt Die Endlichkeit der Freiheit im Jahr 1990" eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Wendepunkt der deutschen Geschichte. Die Ausstellung wurde bereits seit 1987 von westdeutscher Hand geplant, fand schließlich aber zu einem Zeitpunkt statt, als die DDR rechtlich noch existierte und Berlin zwei Stadtzentren hatte, die Mauer aber bereits gefallen war. Bei dem Ausstellungsprojekt handelt es sich um eine allererste Aneignung der näheren Vergangenheit. Via Lewandowsky machte mit der Siegessäule und dem Haus der Ministerien zwei geschichtsträchtige und bedeutungsschwangere Orte zum Gegenstand seines "optischen Gleichnisses". Alberti nimmt dabei die "Aufgeladenheit der gewählten Orte" in den Blick (181). Sie analysiert überzeugend die symbolischen Bedeutungsebenen der räumlichen und bildlichen Interventionen.

Grundlegend hat die Forschung zur Architekturgeschichte (städte-)bauliche Phänomene der DDR-Zeit in unterschiedlichen Ausprägungen bereits dargelegt, während die Denkmalpflege an ihre Bedeutungsebenen appelliert und Möglichkeiten der Erfassung beleuchtet. Die nun vorliegende Publikation eröffnet mit ihren vielfältigen Zugängen überraschende und teilweise ungewöhnliche Positionen. Sie lenken den Blick auf bauliche und theoretische Zusammenhänge ebenso wie ihre Rezeption. Fernab von affirmativen Lippenbekenntnissen gegenüber dem Erbe jener Zeit entwickeln sich dabei wertvolle Blickwinkel, die - das bleibt zu hoffen - weiterverfolgt werden. In ihrer schlaglichtartigen Betrachtung bleiben sie jedoch teilweise monolithisch nebeneinanderstehen. Explizit innerhalb der einzelnen Beiträge zu verweisen, wäre dabei ein Ansatz, aus den wertvollen Forschungszugängen ein dichteres Netz herzustellen. Nicht ganz konsistent erscheint die begriffliche Doppelung der "Visionen" im Buchtitel und in der Überschrift zum ersten Kapitel - während sie dem Buchtitel folgend als Fixstern aller Beiträge gelten könnten, wird der Begriff offenbar nur im ersten Abschnitt produktiv gemacht.

Anders als die bisherigen Nummern der Reihe "Forschungen zum baukulturellen Erbe der DDR" erörtert dieser Band nicht per se ein klar umrissenes bauliches Phänomen. [1] Vielmehr zeigt sich ein durchaus gelungener Balanceakt zwischen dem Allgemeinen und dem Konkreten, dem Theoretischen und dem Gebauten. Damit ist er jeder Verallgemeinerung und Kanonisierung fern. Vielmehr zeigt er einmal mehr auf, dass das gebaute genauso wie das geplante Erbe der DDR als produktiver Forschungsgegenstand längst nicht erschöpft ist, aber methodisch immer wieder neu erfunden werden muss.


Anmerkung:

[1] Vgl. die Publikationsreihe "Forschungen zum baukulturellen Erbe der DDR", hg. von Hans-Rudolf Meier für das Bauhaus-Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Planung, Bauhaus-Universität Weimar. Bisher erschienene Bände: Eva Engelberg-Dockal / Kerstin Vogel (Hgg.): Sonderfall Weimar? DDR-Architektur in der Klassikerstadt, (Bd. 1), Weimar 2013 [vgl. die Rezension unter http://www.sehepunkte.de/2013/10/23610.html]; Kirsten Angermann / Tabea Hilse: Altstadtplatten. "Komplexe Rekonstruktion" in den Innenstädten von Erfurt und Halle, (Bd. 2), Weimar 2013; Luise Helas / Wilma Rambow / Felix Rössl: Kunstvolle Oberflächen des Sozialismus: Wandbilder und Betonformsteine, (Bd. 3), Weimar 2014; Frederike Lausch: Architektenausbildung in Weimar: 29 Lebensläufe zwischen DDR und BRD, (Bd. 4), Weimar 2015; Juliane Richter / Katja Weise: DDR-Architektur in der Leipziger Innenstadt, (Bd. 5), Weimar 2015; Simon Scheithauer / Mark Escherich / Jens Nehring / Daniela Spiegel / Hans-Rudolf Meier (Hgg.): Utopie und Realität. Planungen zur sozialistischen Umgestaltung der Thüringer Städte Weimar, Erfurt, Suhl und Oberhof, (Bd. 6), Weimar 2018; Eva Schäfer: Umnutzung von Kirchen. Diskussionen und Ergebnisse seit den 1960er Jahren, (Bd. 7), Weimar 2018.


Annika Eheim

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Empfohlene Zitierweise:

Annika Eheim: Rezension von: Tino Mager / Bianka Trötschel-Daniels: (Hgg.) Rationelle Visionen. Raumproduktion in der DDR, Weimar: Bauhaus-Universität 2019
in: KUNSTFORM 21 (2020), Nr. 2,

Rezension von:

Annika Eheim
Bauhaus-Universität, Weimar

Redaktionelle Betreuung:

Oliver Sukrow