Rezension
Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis einer Tagung, die im März 2014 in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und in der Bibliotheca Hertziana in Rom anlässlich des 250. Todesjahres von Heinrich Graf von Brühl (1700-1763) organisiert wurde. Diese wichtige und gleichsam umstrittene Figur des politischen und kulturellen Lebens im Europa des 18. Jahrhunderts kam mit 18 Jahren als Silberpage an den Dresdner Hof und machte dort schnell Karriere. August II. von Sachsen und Polen betraute ihn mit wichtigen Ämtern wie Obersteuereinnehmer und Direktor des Departements Inneres. Unter August III. wurde Brühl schließlich 1738 zum Premierminister ernannt und damit zum wichtigsten Mann im Reich nach dem König. Seine Bedeutung für Sachsen und Polen beschränkte sich jedoch nicht auf den politischen Bereich; vielmehr war Brühl auch einer der wichtigsten Sammler und Kunstmäzene des 18. Jahrhunderts, und seine Gemäldesammlung setzte Maßstäbe.
In sieben Kapiteln widmen sich insgesamt 30 Autorinnen und Autoren diversen Bereichen aus dem Leben des Grafen von Brühl. Sie verorten die historische Person im sozialen, politischen und kulturellen Geflecht des sächsisch-polnischen Hofes sowie in den europäischen Entwicklungen der Zeit. Erklärtes Ziel ist, das negative Urteil der Geschichtsschreibung gegenüber Brühl zu hinterfragen. Einleitend bieten die beiden Herausgeberinnen Ute C. Koch und Cristina Ruggero einen kurzen biografischen Abriss zur Hauptfigur des Bandes sowie einen Überblick über die darauffolgenden Untersuchungen.
Das erste Kapitel lenkt den Blick auf die öffentliche Wahrnehmung Brühls. Zunächst wird den Ursachen für den schlechten Ruf des sächsischen Premierministers auf den Grund gegangen - er gilt bis heute als listig, machthungrig und verschwenderisch (27f.). Jürgen Luh vertritt die These, dass dafür maßgeblich eine gezielte Rufmordkampagne Friedrichs II. von Preußen verantwortlich sei. Brühl und Friedrich hatten sich als junge Männer kennengelernt; in der Folge entwickelte der Preußenkönig eine tiefgreifende Aversion gegen den sächsischen Politiker. Frank Metasch versucht, das komplexe Finanzgeflecht des augusteischen Zeitalters, das bis heute nicht hinlänglich erforscht ist, zu entwirren. Er argumentiert, dass Brühls finanzpolitische Unternehmungen nicht aus Inkompetenz scheiterten, sondern als richtige Ansätze in einer Zeit zu verstehen sind, die jedoch noch nicht reif für seine Reformbestrebungen war.
Heinrich Graf von Brühl tat sich nicht nur durch seine politischen Leistungen hervor, sondern auch als versierter Kunstkenner, dessen Sammlung sich beinahe mit der des Königs messen konnte. Fünf Aufsätze behandeln verschiedene Aspekte der Brühlschen Sammlung: Ute C. Koch untersucht seine Tapisserien, Reino Liefkes einen Tischbrunnen aus Porzellan, Claudia Bodinek das Porzellanservice "Brühlsches Allerlei", Martin Schuster die Brühlsche Gemäldegalerie und Maria Lieber und Josephine Klingebeil-Schieke seine Bibliothek. Dabei wird deutlich, wie weit gestreut die Interessen des Premierministers waren und welch wichtige Rolle Brühl für das kulturelle Leben in Sachsen spielte.
Doch auch die Architektur in Sachsen und Polen prägte Brühl maßgeblich. Das Kapitel zu den Bauten des Grafen beginnt mit Cristina Ruggeros Aufsatz zur Brühlschen Terrasse in Dresden, untersucht in zwei Aufsätzen seine baulichen Stiftungen hinsichtlich ihres strukturellen Bezugs zur Residenzstadt Dresden (Jan Klußmann) und den Reiserouten des Königs (Tomasz Torbus) und schließt mit der detaillierten Studie Jakub Sitos zum heute zerstörten Warschauer Palais des Grafen Brühl.
Die Sammelleidenschaft der beiden sächsisch-polnischen Könige und des Grafen Brühl fand zahlreiche Nachahmer. Diesen sächsischen Sammlern widmen sich fünf Beiträge. Jenny Brückner stellt zunächst ein paar dieser Sammler vor und markiert für das augusteische Zeitalter einen Paradigmenwechsel in der Sammelkultur: Das Naturobjekt entwickelte sich vom Kunstkammerobjekt zum Studienobjekt. Ewa Manikowska rekonstruiert das Privatkabinett von Bernardo Bellotto und versucht, ausgehend davon das Sammlungswesen der Zeit zu charakterisieren. Sven Pabstmann stellt anhand der bürgerlichen Stadt Leipzig ein Gegenbeispiel zur Residenzstadt Dresden vor, und Anna Oleńska demonstriert, wie Brühl sein künstlerisches Mäzenatentum für politische Propaganda instrumentalisierte. Olga Popova untersucht die Rolle des russischen Kunstagenten Andre Belosselsky, der die Brühlsche Gemäldesammlung für die russische Zarin ankaufte, innerhalb des russisch-europäischen Kunsthandels.
Italien spielte als Ort der klassischen Bildung für junge Adelige (Stichwort "Grand Tour") und als Zentrum der Kunst eine bedeutende Rolle in Europa. Daher beleuchtet ein Kapitel die sächsisch-italienischen Beziehungen. Zunächst stehen einzelne Persönlichkeiten und ihre Beziehung zu Brühl im Fokus: Anton Raphael Mengs (Steffi Roettgen) und Johann Joachim Winckelmann (Lorenzo Lattanzi). Maureen-Cassidy Geiger wertet die Korrespondenz zwischen Brühl und dem Oberhofmeister Joseph von Wackerbarth-Salmour aus. Schließlich untersucht Veronika M. Seifert das Unterfangen, eine Mosaikfabrik nach vatikanischem Vorbild in Dresden zu errichten.
Aufbauend auf der engen Verbindung zwischen Italien und den sächsisch-polnischen Königen ist das folgende Kapitel den italienischen Agenten am Dresdner Hof gewidmet. Ismaele Chignola zeigt auf, dass Brühl engen Kontakt zu den Freimaurern hatte. Brühls Wirken auf dem Kunstmarkt in Bologna untersucht Thomas Liebsch. Zwei Aufsätze nähern sich Giovanni Lodovico Bianconi an, dem Minister-Resident in Rom: Giovanna Perini Folesani verortet seine Person am Dresdner Hof, während Giulia Cantarutti seine Stellung in Rom rekonstruiert.
Weitere fünf Beiträge gelten anderen internationalen Mäzenen im Europa des 18. Jahrhunderts. Dabei werden Schlaglichter auf verschiedene Sammler geworfen, um deren unterschiedliche Sammelmotivationen und Geschmäcker zu analysieren. Patrick Michel rekonstruiert die Sammlung des französischen Duc de Tallard und ordnet sie in den zeitgenössischen Pariser Kunstmarkt ein. Einen vergleichbaren Ansatz verfolgen François Marendet für den Grafen Hoym und Christophe Morin für den Marquis de Marigny. Gernot Mayer zeigt auf, dass das "Modell Brühl" durchaus Nachahmer fand, so zum Beispiel in Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg, der für Wien eine ähnliche Bedeutung hatte wie Brühl für Dresden. Zum Schluss wird noch einmal ein Blick nach Polen geworfen: Andrzej Betlej stellt Joseph Alexander Jabłonowski vor, der eine der ersten systematischen Sammlungen Polens aufbaute.
Die heterogenen Aufsätze zeichnen ein umfassendes Bild von Heinrich Graf von Brühl, das von den abschließenden Beiträgen zu seinen Zeitgenossen sinnvoll ergänzt wird. Das eingangs erklärte Ziel, den Grafen in ein besseres Licht zu rücken, wird dadurch erreicht. Der häufige Hinweis darauf, dass dieser Wunsch nach Rehabilitierung eine der Hauptmotivationen für die Tagung war, erscheint allerdings überflüssig. Viele der Autoren arbeiten zum ersten Mal bisher unbearbeitete Archivalien auf. Teilweise hätte die Ausdeutung dieser Quellen jedoch noch weiter ausgeführt werden können, einige Aufsätze bleiben allzu deskriptiv.
Bereits in der biografischen Einführung wird erwähnt, welch hohen gesellschaftlichen Status Brühls Ehefrau Maria-Anna Franziska Gräfin von Kolowrath-Krakowsky innehatte. In seiner Studie zum Warschauer Palais erwähnt Jakub Sito, dass der Umbau des Schlosses maßgeblich ein Projekt von Brühls Frau war. Leider wird dieser Aspekt der weiblichen Agency nicht weiter vertieft. Hier könnten weitere Forschungen ansetzen und genauer in den Blick nehmen, welche Rolle der Gräfin innerhalb des Brühlschen Imperiums zukam.
Insgesamt ist ein wichtiger Band über Heinrich Graf von Brühl gelungen, der viele neue Quellen vorstellt und der weiteren Forschung zum sächsischen Premierminister sicher lange als Referenz dienen wird.
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