Rezension

Kirsten Claudia Voigt: Joseph Beuys liest Friedrich Nietzsche. Das autopoietische Subjekt. Von der Artistenmetaphysik zur Freiheitswissenschaft, München: Schirmer / Mosel 2016, 303 S., ISBN 978-3-8296-0754-4, 58.00 EUR
Buchcover von Joseph Beuys liest Friedrich Nietzsche
rezensiert von Antje von Graevenitz, Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln
Er gilt als der wohl bedeutendste deutsche Künstler der Nachkriegszeit und einige Leute meinen: weltweit. Dabei hat sich Joseph Beuys (1921-1986) in großem Umfang und in kaum auslotbarer Weise von entlegenen Kulturbereichen inspirieren lassen: in erster Linie wohl von der Antike, nordischen Mythen, der Alchemie, der Medizin, Biologie, Physik, Religionen wie dem Katholizismus und Buddhismus, dem sibirischen Schamanismus, Anthroposophie und Philosophie. Auch die Reihe seiner Anreger war lang: Aristoteles, Dschingis Khan, Ignatius von Loyola, Leonardo da Vinci, Ritter, Goethe, Schelling, Wagner, Nietzsche, Steiner, Joyce, Klee, Duchamp ... und zu fast jedem dieser Inspirationsquellen gibt es bereits mehr oder weniger ausgiebige philosophische oder kunsthistorische Untersuchungen. In diese Liste reiht sich seit 2016 Kirsten Claudia Voigt mit einer intensiven Forschung über den Lebens-Philosophen Friedrich Nietzsche als Inspirationsquelle für Beuys ein, noch dazu mit der sehr schönen Buchausgabe des Münchner Verlages Schirmer / Mosel, der bereits nachhaltig und ruhmreich mit vielen Herausgaben zur Beuys-Forschung hervorgetreten ist. Fast jeder der Autoren, der sich mit einem der hier genannten Persönlichkeiten und seinem Einfluss auf Beuys und sein Œuvre befasste, tat es absolut: Immer erschien die jeweilige Publikation als das sine qua non des Beuys'schen Werkes. Kein anderer als - sei es Ignatius von Loyola, Wagner oder Joyce - hätte je einen so bestechend starken Einfluss gehabt, wie der jeweils genannte. Das liegt wohl in der Natur der Tunnelperspektive, und es gilt nun auch für Voigt: Seit ihrer Dissertation von 1996 beschäftigt sie sich mit dem Thema Beuys und zumeist in seinem Verhältnis zu Nietzsche. Kann der Leser nun glauben, mit dem vorliegenden Buch das non plus ultra aller anderen Inspirationsquellen in der Hand zu haben? Immerhin, was die Verfasserin vor allem vertiefend seit 2010/11 herauskristallisierte, ist so einschlägig und umfangreich, dass man sich kaum einen anderen Hauptgewährsmann für Beuys' Werk vorstellen kann als gerade Nietzsche, wüsste man nicht, dass es so viele andere gab. Wer sich heute noch mit Beuys beschäftigt, müsste all diese Inspiratoren-Verhältnisse miteinander vergleichen, um die jeweiligen Werke von Beuys richtig historisch verorten zu können. Es lockt als Mammutaufgabe. Mancher Autor machte einen Anfang, allen voran Dieter Koepplin, der Beuys' Zeichnungen und die Werke in Baseler Kunstbesitz in alle inspiratorischen Richtungen hinein auswertet. Zu Recht ließ sich Voigt von ihm zu etlichen Zeichnungen im Hinblick auf Nietzsche beraten. Vorab ist zu sagen, dass der Leser von Voigt reichlich belohnt wird: Als die Autorin vor 2011 im Beuys'schen Nachlass mithilfe von Eva Beuys dessen Marginalien am Rand der Schriften Nietzsches entdeckte, hatte sie ihren Schatz gefunden, mit dem sie nun wuchern konnte. Der Kenner des Œuvres von Beuys reibt sich die Augen, wieviel an Werktiteln, Motiven, Gedichten, Bedeutungen und Idealen irgendeiner Quelle in Nietzsches Gesamtwerk zu verdanken ist. Manches davon war allerdings schon von Rhea Thönges-Stringaris untersucht und gedeutet worden. Als Beuys-Zeugin, -Organisatorin und -Forscherin widmete sie bereits 2002 der Inspirationsquelle Nietzsche für Beuys ein umfangreiches Kapitel in ihrem Buch Je länger aber das Ereignis sich entfernt...Zu Joseph Beuys und Peter Handke. Voigt hat diese entscheidende vorangegangene Forschung übersehen. So hätte sie bereits einleuchtende Zeilen zum Apollinischen und Dionysischen bei Nietzsche und Beuys lesen können. Mag sein, dass sie der Buchtitel mit dem Hinweis auf Handke in die Irre führte. Oft können Buchtitel entweder zu essayistisch ausfallen oder so kompliziert, sodass man kaum versteht, worum es geht. So muss die Veröffentlichung von Voigt sogar mit zwei Untertiteln auskommen, die anscheinend einander erklären sollen und doch in ihrer Häufung zusammengesetzter und gestapelter Nomen eher verunklären. Schlägt man jedoch das Buch auf, gibt sich dieser Eindruck vollständig: Gewählt wurde eine klare Struktur bis in die Finessen der sprachlichen Form hinein, und sie lässt den Leser durchaus verstehen, warum sich Beuys mit dem Lebensphilosophen beschäftigte und was er daraus gewann. Am Ende lassen sich sogar die Wortmonster der beiden Untertitel deuten. Bereits in ihrem Vorlauf zu Quellen, Spuren und dem Forschungsstand zieht die Autorin einschlägige Werke von Beuys heran, die überzeugend zur Beweisführung für seine Inspirationsquelle und deren Transformationen dienen. Weitere Beweisstücke, die das Lesen ebenso amüsant wie kompliziert machen, sind die abgedruckten Seiten der Nietzsche-Lektüre mit den Beuys'schen Randbemerkungen; amüsant, weil man Beuys als Leser ganz nah erlebt, und kompliziert, weil man nun dreifach liest, was Nietzsche schrieb, was Beuys las, wie Voigt es las und wie wir es als vierte Partei lesen. Die Komplexität nimmt weiterhin zu, da sich Voigt auf Nietzsches wechselhaftes Freund-Feind-Verhältnis zu Richard Wagner einlässt, das nun wiederum Beuys wahrnahm, eigenständig deutete und in Kunstwerke umsetzte. Dieses unhistorische, sehr vielschichtige Dreierverhältnis wird von Voigt breit dargelegt, wobei sie die vorangegangene Forschung heranzieht. Erst nach diesen längeren Kapiteln zu Nietzsche / Wagner / Beuys widmet sie sich den philosophischen Einzelschriften und liest auch diese mit den Augen von Beuys, um sodann close-up in seinem Werk bildnerische Antworten zu suchen und glaubhaft zu machen. Das Resultat ist gelungen. Allerdings sind ausgiebige Werkanalysen Voigts Sache nicht. Die Beuys-Nietzsche-Vergleiche werden von ihr vorwiegend aneinandergereiht, jedoch nie in ermüdender Weise. Nur in einem Falle scheint die Gleichung Nietzsche = Beuys zu vorschnell gezogen und nicht ganz aufzugehen. Beuys Leitern: scala libera und scala napolitana sind mit dem Wort "Leiter" im Nietzsche-Zitat allein nicht zu erklären, sondern mit Vorläufern im Werk von Beuys und alchemistischen Illustrationen. Das hätte die Autorin in der vorliegenden Publizistik (2009) finden können. Trotz des kleinen Mankos am Ende des Buches überzeugt es insgesamt als bedeutender Zuwachs an neuen Erkenntnissen für die Beuys-Forschung, vor allem soweit sie Nietzsches philosophische Hauptprinzipien betrafen: Heilung und Kraft aus Niederlagen zu schöpfen ("Zeige deine Wunde") und Chaos und Ordnung (Dionysos und Apoll) als einander benötigende Energien zu verstehen.

Antje von Graevenitz

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Antje von Graevenitz: Rezension von: Kirsten Claudia Voigt: Joseph Beuys liest Friedrich Nietzsche. Das autopoietische Subjekt. Von der Artistenmetaphysik zur Freiheitswissenschaft, München: Schirmer / Mosel 2016
in: KUNSTFORM 18 (2017), Nr. 1,

Rezension von:

Antje von Graevenitz
Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln

Redaktionelle Betreuung:

Hubertus Kohle