Rezension

Cornelia Jöchner: Gebaute Entfestigung. Architekturen der Öffnung im Turin des frühen 18. und 19. Jahrhunderts, Berlin: de Gruyter 2015, 439 S., ISBN 978-3-11-034759-3, 99.95 EUR
Buchcover von Gebaute Entfestigung
rezensiert von Ulrich Fürst, Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Teilnehmern eines Studienkurses der Bibliotheca Hertziana über das Thema 'Römische Plätze' wurde im Jahr 1986 noch als methodische Richtlinie vermittelt, dass die baukünstlerische Gestaltung einzelner Gebäude nicht relevant sei, wenn es um die Geschichte urbanistischer Konzeptionen und um die programmatische Aussage von städtischen Plätzen gehe. Cornelia Jöchner markiert dazu in ihrer Hamburger Habilitationsschrift von 2012 eine konträre Position, wenn sie anhand zweier bedeutender architektonischer Ensembles in den Randbereichen der Residenzstadt Turin eine "Engführung von Stadt- und Architekturanalyse" (13) betreibt. Über die politische Ikonografie und die Bewirtschaftung von Funktionen hinaus befragt sie die Tatsachen architektonischer Gestaltung nach ihrem Bezug zu den anschaulichen Eindrücken, Bewegungen und dem Körpergefühl der Betrachter, und sie intendiert sogar, dass "sowohl ihr Inneres wie ihr Äußeres Bestandteil der Analyse" (19) werden. In diesem Ansatz werden stilgeschichtlich disparate Phänomene wie barocke Votivkirche und klassizistische Platzgestaltung kompatibel, auch wenn die Analyse dann einschlägige Unterschiede unter den Aspekten "Anschauungsraum" und "Aktionsraum" (21) herausarbeitet. Als übergreifender Begriff steht die in der Denkmalforschung eingeführte Rede vom "Wirkungsbezugsraum" (20).

Dessen Konstitution wird bei der Superga-Kirche im Szenario von Festigung und Ordnung eines dynastisch geformten Territoriums verhandelt. Während Elisabeth Wünsche-Werdehausen (Turin 1713-1730. Die Kunstpolitik König Vittorio Amedeos II., Petersberg 2009, 61-98) auf das architektonische Zitat von programmatischen Vorbildern fokussiert, argumentiert Jöchner zunächst werkimmanent. Kriterien der Analyse sind unter anderem Gerichtetheit und Zentralität in ihrer spezifischen Konkretisierung, Höhenentwicklung als gestalterisches Konzept einer Säulenrotunde, eine komplexe Dialektik von Schalenbauweise und Gliederbau, der Prospekt des Hochaltars, die jeweiligen ikonografischen Referenzpunkte dieser Gestaltungsmittel. In den Verdacht einer "formalistischen Kunstgeschichte" (15) kann die Verfasserin nicht geraten, denn die Analyse führt die formalen Kriterien hin auf ihren inhaltlich-konzeptionellen Gehalt: "Die Architektur der Superga im Innern zerlegt also die Aussage der Votivkirche in zwei semantische Einheiten und lagert sie in den beiden räumlichen Dimensionen ein: In der Höhe der Rotunde die dargebrachte architektonische Stiftung [...], als nicht hintergehbare Tiefe die Darstellung des Gebets an die Muttergottes für einen günstigen Ausgang des militärischen Schlages [...]" (123). Entsprechendes formuliert die Betrachtung des Außenbaus - Typus der Dreiergruppe aus Türmen und Kuppel, Gestalt und Rolle der Portikusfront, Mehransichtigkeit des Außenbaus, Stellenwert des hohen Sockels - und auch des Außenraums mit den für die Gerichtetheit maßgeblichen Raumkoordinaten des Turiner Territoriums. Die Verfasserin sieht hier eine Vorstellung von architektonischem Typus exemplarisch realisiert, der über den Begriff der typischen Raumgestalt nach Hubala weit hinausgeht: Stiftungszweck und Charakteristika der Gestaltung zusammengefasst unter dem Terminus einer herrschaftlichen Devotionsarchitektur, der "Votivkirche".

Die ambitionierte, Ansprüche an den Leser stellende Form der Abhandlung verknüpft die ausführliche Analyse mit zwei weiteren Komplexen. Einerseits werden Hinweise auf abstraktere Konzeptionen der Architekturtheorie eingearbeitet, die "den architektonischen Raum in seiner medialen Eigenart näher bestimmbar" (13) machen. Dabei reicht der Bogen von August Schmarsow und Herman Sörgel bis hin zu Erich Hubala und Tilmann Breuer. Andererseits zieht sie Alternativen und Parallelen in der Architekturgeschichte heran, um grundlegende Generalia in der Baukultur vergleichbarer Kuppelbauten wie auch individuelle Besonderheiten der Superga vor dieser Folie deutlicher herauszuarbeiten. Beide Stränge werden methodisch konsequent auf das Erkenntnisziel hingeführt: die beschreibende Analyse der Bauformen nicht als Selbstzweck oder als die Ermittlung einer Stilstufe in einem determinierten Stilgeschehen zu betreiben, sondern vielmehr über die medialen Qualitäten der architektonischen Gestalt die Gestaltung von politischem Raum zu erklären. Die Exkurse finden in aller Regel zurück in den Strang der Analyse, der hin und wieder prägnante Zusammenfassungen anbietet (insbesondere 191/193).

Ähnlich komplex angelegt ist auch die Analyse der Piazza Vittorio Emanuele, was nicht nur in deren sukzessiver Entstehung unter wechselnder napoleonischer und savoyardischer Herrschaft begründet ist. Denn dieses städtebauliche Ensemble ist, so die These, als "Eingangsplatz" in einem historisch wie topografisch weiteren Bezugsrahmen zu verorten, um "das bedeutungsstiftende Potential der baulichen Struktur zu erforschen" (199). Als Referat des bisherigen Forschungstands war zunächst die Typologie der Turiner Plätze des Barock zu behandeln: Rechteckplätze mit Arkadengängen als Öffentlichkeit eigener Art; ein Typus von Platzfassaden wie sie um 1606 von der herzoglichen Autorität etabliert wurde; die Portiken als planvoll gestalteter Übergangsbereich zwischen bürgerlichem Wohnraum und kommunaler Sphäre; die Ausprägung einer städtischen Physiognomie in Variationen dieses grundlegenden Ansatzes. Diese Traditionen verfolgt die Verfasserin bis in die Randbebauung der Piazza Vittorio Emanule, die darin einem "selbstreferentiellen Historisierungskonzept" (251) folgt, andererseits aber durch neuartige Formqualitäten neue Bezüge eröffnet.

Zwar gab es bereits Ansatzpunkte für eine Öffnung nach außen in Gestalt der Torplätze des 18. Jahrhunderts, überliefert und städtebaulich wirksam an dieser Stelle Guarino Guarinis Porta di Po, doch war die Verwandlung von Plätzen als "Anschlussstelle an ein bisheriges Draußen" (252), ein Phänomen der napoleonischen Ära, in Turin erstmals durch Pläne belegt in einem Wettbewerb von 1802. Der neue Typus des Eingangsplatzes war nicht mehr aus den sukzessiven Erweiterungen der Stadt heraus konzipiert, sondern eingebunden in die Ausgestaltung eines nach den Gesichtspunkten moderner Staatlichkeit strukturierten Territoriums, was sich in Turin konkret auf die Konzeption eines Doppelplatzes unter erstmaliger Einbeziehung des Po als urbanistischer Größe niedergeschlagen hat (Planung von Joseph-Henri-Christoph Dausse, 1805; Errichtung der großen steinernen Brücke 1809-14 als einzige Hinterlassenschaft der napoleonischen Ära in Turin).

Die savoyardische Restauration setzte dann andere Akzente, zunächst in der Konzentration auf die westliche Flussseite allein, dann durch den 1814 initiierten Kirchenbau der Gran Madre di Dio als Gegenüber. Auch hier war die Baugestalt entscheidend beteiligt daran, "einen Aktionsraum 'einzurichten', der die Öffnung der Stadt als dynastisch besetzten Prozess erscheinen lässt" (277). In kritischer Abgrenzung zu einem trivialen Verständnis als 'Pantheonskopie' pointiert die Analyse die Veränderungen an diesem Typus, die auf Qualitäten einer autonomen stereometrischen Masse in ihrer monumentalen Geschlossenheit zielen. Nach Charakterisierung dieses Bezugspunkts wird die Piazza selbst als "Sequenz einzelner, aufeinander bezogener Raumabschnitte" beurteilt, artikuliert in einem "ausgedehnten Bedingungsgefüge" mit "Umschlagpunkten" (303/304) für die Bewegung in diesem Ensemble. "Eingangsplatz" wäre also nicht nur funktional zu verstehen, sondern als eine Zone des Übergangs, die Geschichte, Tradition, Herrschaft und Öffnung in das Territorium hinein verknüpft für einen Betrachter, der nicht in den imaginären Standort barocker Szenografie gestellt, sondern als reflektiert betrachtender Spaziergänger unterstellt ist - ein für die Zeit um 1800 typischer, aber dank der konkreten Bezüge zu Stadtphysiognomie und Dynastie spezifisch Turiner "Aktionsraum".

Bei hohem Standard in Druck, Bebilderung und Formulierung - seltene Fehler wie Doppelung von Zahlen oder Zitaten ("1818" auf 298, zweimal das Zitat von Domenig auf 303 und 305) fallen nicht ins Gewicht - weist die Studie zwei wichtige Vorzüge auf. Zunächst erscheint die konsequente Konzentration auf die baukünstlerischen Objekte bemerkenswert: die Leistungen der Architektur werden nicht als etwas Anderes, als rhetorische Konzepte oder als politische Ikonografie zum Beispiel, dargestellt; die medialen Qualitäten von Baukunst werden auch nicht in einem abstrakten bildtheoretischen Diskurs verhandelt, der die Bedingungen der Möglichkeit des Bildhaften ventilierte. Es gelingt vielmehr der Nachweis, dass die Bildung spezifischer städtischer Räume der Öffnung und die medialen Qualitäten von Architektur im politischen Raum von klar benennbaren Eigenschaften der architektonischen Objekte ausgehen, mithin also auf baukünstlerischen Setzungen beruhen. Sodann fällt die Unbefangenheit der Autorin gegenüber Schulbildungen und Filiationen der Forschung auf. In einem weiten Horizont der Rezeption zieht sie auch "teilweise verschüttete" (13) Positionen oder Anstöße fachgeschichtlich so konträr ausgerichteter Autoren wie Martin Warnke und Erich Hubala 'sine ira et studio' heran. Zugleich erspart sie sich manchen akademischen Diskurs, der für ihr Ergebnis nicht wirklich ertragreich wäre, etwa eine Abgrenzung vom Postulat einer 'Strukturanalyse' nach Hans Sedlmayr. Zu einem postmodernen 'anything goes' führt diese bewegliche Anbindung an ältere Theoreme aber nie wegen der konsequenten Orientierung an den architektonischen Objekten und am konkreten historischen Kontext.

Fazit: eine Studie, die nicht nur zu ihren Objekten der Turiner Stadtarchitektur überzeugende und theoretisch reflektierte Resultate präsentiert, sondern auch als ein weiterer wichtiger Baustein gelten darf, mediale Qualitäten aus den genuin eigenen Möglichkeiten der Architektur heraus zu erklären und so die in der Architekturgeschichtsschreibung latent, aber hartnäckig wirksame Dichotomie von Form und Inhalt zu entkräften.


Ulrich Fürst

zurück zu KUNSTFORM 17 (2016), Nr. 2

Empfohlene Zitierweise:

Ulrich Fürst: Rezension von: Cornelia Jöchner: Gebaute Entfestigung. Architekturen der Öffnung im Turin des frühen 18. und 19. Jahrhunderts, Berlin: de Gruyter 2015
in: KUNSTFORM 17 (2016), Nr. 2,

Rezension von:

Ulrich Fürst
Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Redaktionelle Betreuung:

Hubertus Kohle