Rezension

Bernd Stiegler: Randgänge der Photographie. , München: Wilhelm Fink 2012, 308 S., ISBN 978-3-7705-5401-0, 39.90 EUR
Buchcover von Randgänge der Photographie
rezensiert von Martina Dobbe, Institut für Kunstwissenschaft und Ästhetik, Universität der Künste, Berlin

Mit "Randgänge der Photographie" legt Bernd Stiegler nach "Montagen des Realen" (2009) und "Theoriegeschichte der Photographie" (2006) bereits den dritten Aufsatzband zur Fotografie im Wilhelm Fink Verlag vor. Grundsätzlich den in den früheren Publikationen verfolgten Ansätzen der Medien- und Kulturwissenschaften verpflichtet, beschreibt Stiegler auch in seinem neu erschienenen Buch verschiedene Aspekte (der Geschichte) der Fotografie und des Fotografischen mit Blick auf die "Vielfalt höchst unterschiedlicher kultureller Praktiken, ästhetischer Diskurse und theoretischer Entwürfe". [1] Dabei ist es weniger die Bild- und Kunstgeschichte der Fotografie, die ihn interessiert, als vielmehr die Frage nach der "Bedeutung der Photographie als Reflexionsmedium" (ebd.), der Stiegler in immer neuen Anläufen nachgeht.

Dreizehn Texte - ein Originalbeitrag, drei verschriftlichte Vorträge und neun, bereits andernorts publizierte, zum Teil erweiterte Texte - sind in vier Kapiteln zusammengeführt. Die Kapiteleinteilung nimmt eher eine lose Gruppierung vor, die das Lesen des gesamten Buches erleichtert, als dass sie systematische Ansprüche formuliert. Hatte die "Theoriegeschichte der Photographie" nicht zuletzt mit dem Rückgriff auf ein gewichtiges Kapitel zur "Photographiegeschichte als Theorie- und Wahrnehmungsgeschichte" [2] aus Stieglers Habilitationsschrift noch versucht, "eine Darstellung aller maßgeblichen Positionen der Photographietheorie von der Daguerreotypie bis zur digitalen Photographie" [3] zu erarbeiten, tritt das neue Buch, ähnlich wie auch "Montagen des Realen", deutlich bescheidener auf: "Die Erkundungen dieses Bandes sind Randgänge" (7), heißt es gleich im ersten Satz der Vorbemerkung, die sich ansonsten darauf beschränkt, die "merkwürdigen und mitunter skurrilen Fragen und Themen" (ebd.) herauszustellen, denen im Buch nachgegangen wird. Sie reichen von "Warum photographiert man Wolken (geben sie doch wenig zu sehen)?" bis zu "Können Augen photographieren (und was sollen diese Bilder dann zeigen)?", oder von "Können Bilder zerstören?" bis zu "Gibt es eine Metaphysik der Photographie?".

Gleichwohl sollte man sich von den Bescheidenheitstopoi, die Stiegler einleitend setzt, nicht täuschen lassen. Tatsächlich verweist der Titel des Bandes auf eine einschlägig dekonstruktive Re-Lektüre der abendländischen Philosophiegeschichte, eben auf Derridas "Randgänge der Philosophie", mit denen der Franzose in den späten 1960er-/1970er-Jahren sein Konzept der "différe/ance" ausgearbeitet hatte. Dekonstruktiv im philosophischen Sinne kann man Stieglers Vorgehen nicht nennen, aber so wie Derrida an philosophischen Konzepten, darunter "Ursprung", "Grund" oder "Zentrum" Metaphysikkritik betrieb, legt auch Stiegler eine fotografietheoretisch und -historisch wirksame Struktur offen, in deren Mitte die Idee einer indexikalischen oder abbildlichen Wirklichkeitsbeziehung steht, welche diskursgeschichtlich wiederholt den "Umschlag von Physik in Metaphysik" (81) heraufbeschworen hat.

In gleicher Weise rhetorisch darf man wohl auch Stieglers Benjamin-Anspielung verstehen, wenn er mit einer "Kleinen Geschichte der Wolkenphotographie", einer "Kleinen Geschichte der Typenphotographie", einer "Kleinen Geschichte der abstrakten Photographie", der "Kleinen Metaphysik der Photographie" und schließlich ganz explizit in "Wege durch die Moderne" auf Walter Benjamins "Kleine Geschichte der Photographie" von 1931 verweist, die bekanntlich ein großer Wurf für die Darstellung der "Photographiegeschichte als Geschichte einer Kulturtechnik" war. [4]

Die Gegenstände von Stieglers Buch sind äußerst divers. Die Texte beziehen sich auf die Wolkenfotografie, die Typenfotografie, die abstrakte Fotografie (wobei sich hinter diesem Stichwort ein kurzer Katalogtext zu Lillian Bassman & Paul Himmel verbirgt), verschiedene Spielarten der okkulten und spiritistischen Fotografie, auf Elfenfotografien und Optogramme, des weiteren auf stereoskopische Reisefotografien, Handbücher zur fotografischen Fehlerkunde und andere Ansätze einer Fautografie, die Bürgerkriegsfotografie von Alexander Gardner und Robert Capa, die fotografische Bildpraxis von Cyborgs (in "Blade Runner") und von ikonophoben Autoren, aber auch auf die "Praxis des Schnitts" (266) und den "Bewußtseinsfilm" (269) bei Rolf-Dieter Brinkmann sowie die Moderne-Konzeptionen von Walter Benjamin und Albert Renger-Patzsch.

Ein roter Faden ergibt sich in dem Buch folglich nicht von den Gegenständen oder den Fotografien her. Eher ist es die Zugangsweise von Stiegler, welche die (Gelegenheits-)Texte zusammenbringt. Drei wiederkehrende Merkmale der Argumentation seien erwähnt: Erstens Stieglers Vorliebe für "allerlei obskure Vorstellungen" (80) und okkulte Moden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts; "transzendentalfotografische" (81) Theorien unterschiedlichster Couleur werden herangezogen, nicht, um "die mitunter befremdlichen Theoreme zu widerlegen" (80), sondern um sie als eine "andere Geschichte der Photographie" (81) auszuweisen. Die Wertschätzung für Geimers "Bilder aus Versehen" ist mehrfach dokumentiert. [5] Stiegler geht es aber weniger um wissenschaftsgeschichtliche Details, als dass er auf der Basis seiner profunden Kenntnis der Diskursgeschichte der Fotografie deren "phantasmatischen Überschuß" (201) herausstellt; nicht zuletzt, um dieses Wissen jenen Autoren mit auf den Weg zu geben, die in der jüngeren Bildwissenschaft "die Theorie eines regelrechten Bildhandelns und eines höchst aktiven Lebens der Bilder [...] hoffähig" (80) gemacht haben - eine Aktualisierung bildmetaphysischer Topoi, die bei Stiegler kritisch angerissen, dann aber bedauerlicher Weise nicht weiter verfolgt wird.

Ein zweites Merkmal seines Denkens ist ein "taxonomisches" Vorgehen, ein instruktives Differenzieren von Phänomenen und Theorien, das oft genug, sobald es entworfen ist, in seiner Vorläufigkeit und Unvollständigkeit benannt wird. "Plötzlich diese Übersicht" mag man erfreut feststellen, etwa wenn Stiegler aus Anlass eines Beitrags zu Andreas Züst fast en passant eine "Kleine Geschichte der Wolkenphotographie" auf der Basis von Krauss, Dubois, Starl, Stückelberger und anderen skizziert (11-26), oder wenn er einen Überblick über das Genre des fotografischen Fehlerbuches mit einer Typologie produktiver Fehler in der Fotografiegeschichte flankiert. Schließlich - und dies sei als drittes Merkmal benannt - beweist Stiegler, wie fruchtbar es ist, die "Paratexte" (152) von Fotografie zu berücksichtigen, etwa wenn er für Gardner und Capa die Kontexte von Bildentstehung und Bildpublikation bedenkt und fragt, welche "epistemischen wie diskursiven Bedingungen [...] erfüllt sein müssen, damit Photographien [...] als Medien visueller Authentizität gedeutet [...] werden" (218) können.

In der Summe liegt ein Buch vor, mit dem Stiegler erneut unter Beweis stellt, dass Randgänge oft einen besonders klaren Blick auf das vermeintliche Zentrum eröffnen und dass die Frage nach der "Deut- und Lesbarkeit" (164) von Fotografien auch in postfotografischen Zeiten aufschlussreich ist.


Anmerkungen:

[1] Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie, München 2006, 10.

[2] Bernd Stiegler: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert, München 2001, 17-141.

[3] Stiegler 2006 (wie Anm. 1), 12.

[4] Bernd Stiegler: Montagen des Realen. Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik, München 2009, 185.

[5] Peter Geimer: Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Hamburg 2010.


Martina Dobbe

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Martina Dobbe: Rezension von: Bernd Stiegler: Randgänge der Photographie. , München: Wilhelm Fink 2012
in: KUNSTFORM 14 (2013), Nr. 9,

Rezension von:

Martina Dobbe
Institut für Kunstwissenschaft und Ästhetik, Universität der Künste, Berlin

Redaktionelle Betreuung:

Stefan Gronert