Rezension

Viola Hildebrand-Schat: Literarische Aneignung und künstlerische Transformation. Zur Literaturrezeption im Werk von Marcel Broodthaers, München: Verlag Silke Schreiber 2012, 368 S., ISBN 978-3-88960-127-8, 49.00 EUR
Buchcover von Literarische Aneignung und künstlerische Transformation
rezensiert von Michael Glasmeier, Hochschule für Künste, Bremen

Das Werk des belgischen Künstlers Marcel Broodthaers (1924-1976) hat in den letzten Jahren auch von der Kunstwissenschaft größere Aufmerksamkeit erfahren. Diese ist zu begrüßen, gerade weil es ist nicht so einfach ist mit diesem Künstler, dessen Strategien oft hermetisch erscheinen. Marcel Broodthaers in Sichtbarkeit überführte Überlegungen zum Museum, zur Illustrationskultur des 19. Jahrhunderts, zur Politik und Poesie der Bilder, zur Funktion von Kunst und zu Fragen der Autorschaft treffen jedoch auf einen zeitgenössischen Diskurs jener Kunstwissenschaft, die mit dem Analyseinstrumentarium hauptsächlich französischer Denker des Poststrukturalismus an den Grenzen zur Bildwissenschaft operiert, und es scheint oft so, als ob solches Denken trotz poetischer Transformationen sich im Werk dieses Künstlers widerspiegeln könnte.

Was dieses Werk jedoch vor allem auszeichnet, ist die dominierende Abhängigkeit von Sprache, von Worten und der dahinter sich verbergenden poetischen Kraft, die Marcel Broodthaers, der erst im Alter von 40 Jahren vom Dichter zum Künstler mutierte, auch in seinem Bildwerk weiter forciert, wobei seine nicht nur visuelle, sondern auch theoretische Auseinandersetzung insbesondere mit der symbolistischen Poesie eines Stéphane Mallarmé auffällig ist und von allen Interpreten neben den Verweisen auf René Magritte rezipiert wird.

Doch dass es noch um mehr geht, zeigt nun im Detail die Habilitationsschrift "Literarische Aneignung und künstlerische Transformation. Zur Literaturrezeption im Werk von Marcel Broodthaers" von Viola Hildebrand-Schat. Das Buch geht mit größter Akribie den Spuren und Verweisen nach, die Marcel Broodthaers in seinem bildnerischen und theoretischen Werk selbst gelegt oder aber als offenes Geheimnis verschlüsselt hat. Entstanden ist eine absolut notwendige Publikation, die in alphabetischer und damit nahe am Lieblingsmodus des Künstlers operierenden Reihenfolge jene Autoren abhandelt, die dem "Denker-Künstler" [1] nicht nur Vorbild, sondern vor allem auch Quelle der Inspiration, Transformation und künstlerischer Handlung waren, wobei die Autorin neben den literarischen Autoren auch Theoretiker mit einbezieht. Es entsteht somit ein Kompendium, das die jeweiligen Autoren in gebotener Kürze vorstellt und gleichzeitig ihre Verankerung im Werk klärt.

Der intellektuelle Kosmos, der sich hier auftut, ist großartig, weil nun überdeutlich wird, dass Marcel Broodthaers seine künstlerische Strategien direkt aus einer intensiven Beschäftigung mit Positionen von Literatur und Philosophie bezieht und parallel einerseits durch Verfahren der Reduktion, andererseits mit der Ausweitung des medialen Raums auf Film, Fotografie, Environment, Grafik, Multiple und nicht zu vergessen Künstlerbücher zerdehnt. Seine Zitate mutieren zu Methoden, mit denen unterschiedliche Medien künstlerischer Produktion punktgenau eingesetzt und reflektiert werden. So können seine Transformationen letztendlich auch als künstlerische Interpretationen der Werke etwa von Heinrich Heine oder Charles Baudelaire verstanden werden, also als eine um das Argument Bild erweiterte Literaturwissenschaft.

Das Alphabet der Namen verweist neben den schon genannten auf Jeremy Bentham, Jacques Derrida, Max Ernst, Jean de La Fontaine, Michel Foucault, André Gide, Lucien Goldmann, Jaques Lacan, André Malraux, Jean Paulhan, Edgar Allan Poe, Arthur Rimbaud, Stendhal, Paul Valéry und Ludwig Wittgenstein, also auf eine illustre Clique, die immer noch durch die Diskurse von Kunst-, aber auch Literaturwissenschaft geistert. In diesem Sinne kann das Buch auch als Einführung und Vergewisserung der Standards gelesen werden. Präzisiert wird aber auch, dass Marcel Broodthaers alles andere als ein Diskursillustrator war, wie es heute oft bei den sogenannten Kontextkünstlern der Fall ist, sondern wesentlich Literatur und Theorie in Verknappung überführt und sich nimmt, was er braucht, um seine bildnerisch-literarische Produktion vorwärts zu treiben. Denn der Künstlerschriftsteller zitiert nicht von Fall zu Fall, sondern mixt und erweitert seine literarischen Bezüge durch die Medien, sodass wir etwa in "Un Film de Charles Baudelaire" von 1970 mit den stummen Einzelbildern von Begriffen, die zunächst wenig mit der Poesie des Dichters zu tun haben, auf Edgar Allan Poe, die Frühgeschichte des Films und der bewegten Bilder, auf Lewis Carroll, das Museum als Institution oder literarische Reisen gestoßen werden. Die Komplexität der Verweise führt in immer andere, neue Gefilde, bezieht das Werk und die Person des Künstlers mit ein, landet beim Anekdotischen, sodass ein Denkraum entsteht, der über die visuelle Betrachtererfahrung weit hinausgeht und gerade durch die Reduktion einen Kosmos eröffnet, der interpretatorisch nie zur Ruhe kommt, "besteht doch ein wesentlicher Zug des Gesamtœuvres gerade darin, daß es sich einer abschließenden Erfassung entzieht" (27).

Aber mit dem Buch von Viola Hildebrand-Schat bekommen wir zumindest einen Führer in die Hand, mit dem wir einigen intellektuellen Spuren nachgehen können. Darin unterscheidet sich diese Arbeit von den bisherigen Untersuchungen zum Werk von Marcel Broodthaers, die verdientermaßen in der instruktiven Einleitung der Verfasserin vorgestellt werden. Im Gegensatz zu Einzelinterpretationen oder Darstellungen von bestimmten künstlerischen Manifestation oder Strategien des Künstlers, setzt Viola Hildebrand-Schat auf ein offenes Oszillieren der Referenzen und belegt somit "dass es nicht die Theorie gibt und geben kann, die Broodthaers' Kunst umfassend erklären könnte" (12), wie der Kunsthistoriker Gregor Stemmrich in seiner Einleitung schreibt. Und man muss hinzufügen, dass es deshalb äußerst sinnvoll ist, die unterschiedlichsten Referenzen im Werk aufzuspüren, zu benennen und damit den Interpretationsspielraum zu erweitern; denn darum geht es in diesem Buch letztendlich.

Marcel Broodthaers bleibt eben zutiefst ein Poet. Um diese Rolle im richtigen Maß zu würdigen, beginnt Viola Hildebrand-Schat ihren Diskursdurchlauf mit einer außergewöhnlich breiten und sorgfältigen Analyse des dichterischen Werks, so wie es in einigen Gedichtbänden vor dem "Wechsel" zum bildenden Künstler vorliegt. Diese absolut verdienstvolle Würdigung eines doch recht unbekannten Materials entführt den Leser in ein Reich experimenteller Literatur, in dem sich überraschenderweise schon fast alle Themen und Strategien des späteren Künstlers in nuce auffinden lassen. Vor allem aber in der Arbeit an den Leerstellen, an den Nullpunkten des Schreibens, die dann zum Bild werden sollten, zeigt sich, dass die poetische Kraft, die das Werk Marcel Broodthaers in den verschiedensten Medien weiterhin bestimmen wird, hier ihren Ausgangspunkt hat.

Viola Hildebrand-Schats Buch ist somit ein Basiswerk für eine weitere, offene und gründliche Auseinandersetzung mit dem Werk eines Künstlers, das für die Kunstgeschichte nach 1945 singulär ist. Es bietet nicht eine Interpretation, sondern bündelt verschiedenste und differenzierte Ansätze für eine analytische Zukunft, in der hoffentlich bald auch der hintergründige und subtile Humor des Künstlers gebührende Beachtung finden wird.


Anmerkung:

[1] Vgl. Michael Glasmeier: "Drei Denker-Künstler: Magritte, Foucault, Broodthaers", in: Foucault und die Künste, hg. von Peter Gente, Frankfurt am Main 2004, 98-121.


Michael Glasmeier

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Empfohlene Zitierweise:

Michael Glasmeier: Rezension von: Viola Hildebrand-Schat: Literarische Aneignung und künstlerische Transformation. Zur Literaturrezeption im Werk von Marcel Broodthaers, München: Verlag Silke Schreiber 2012
in: KUNSTFORM 13 (2012), Nr. 9,

Rezension von:

Michael Glasmeier
Hochschule für Künste, Bremen

Redaktionelle Betreuung:

Hubertus Kohle