Rezension

Ilka Becker: Fotografische Atmosphären. Rhetoriken des Unbestimmten in der zeitgenössischen Kunst, München: Wilhelm Fink 2010, 215 S., ISBN 978-3-7705-4707-4, 29.90 EUR
Buchcover von Fotografische Atmosphären
rezensiert von Alexander Streitberger, Département d'archéologie et d'histoire de l'art, Université catholique de Louvain

In ihrem Buch Fotografische Atmosphären geht Ilka Becker der Frage auf den Grund, ob "das Atmosphärische [...] eine Affinität zu fotografischen Bildern" (10) habe. Dabei geht es der Autorin weniger um eine endgültige Definition als vielmehr um die Frage, inwiefern das Atmosphärische als ein "Modus des Fotografischen" (183) in Produktion, Rezeption und auf der Diskursebene fotografischer Bilder verstanden werden und somit historisch und kontextuell analysiert werden kann. Ein großes Verdienst der Autorin liegt sicherlich darin, sich nicht auf den Begriff der Atmosphäre zu beschränken, sondern mit diesem verbundene Begriffe wie Ambient, Milieu, Stimmung, Aura und Glamour mit zu berücksichtigen und damit das Atmosphärische als komplexes, weit verzweigtes Diskursfeld zu begreifen, das ästhetische, mediale, soziale, psychologische und politische Aspekte impliziert. Dementsprechend breit ist das theoretische Spektrum, das Becker ausschöpft, um die fotografischen Atmosphären in der zeitgenössischen Kunst auszuloten. Von Walter Benjamins Aurabegriff und dessen postmodernistischer Rezeption durch Douglas Crimp über Gernot Böhmes naturästhetischen Atmosphärebegriff und Peter Sloterdijks Sphärologie bis hin zu Jean Baudrillards Überlegungen zur Stimmung (Ambiance) werden philosophische, ästhetische, medien- und zeichentheoretische Ansätze ausgeschöpft und an einzelnen Fallbeispielen auf ihre Relevanz für die Entstehung und das Erleben fotografischer Atmosphären überprüft.

Dass die Vielfalt teilweise grundverschiedener Ansätze nicht zum methodologischen Problem wird, ist der an poststrukturalistischer Diskurskritik geschulten Grundausrichtung der Studie zu verdanken. Atmosphäre wird demnach nicht lediglich als Eigenschaft des Bildes selbst definiert, sondern als Resultat einer historischen und kontextuellen Konstellation untersucht. Folgerichtig verfolgt Becker eine "Archäologie" (Foucault) des Atmosphärischen, in der es darum geht, "Atmosphären als Effekte im Zusammenwirken von künstlerisch-ästhetischer Bildproduktion, Rezeption und Diskursen sowie der performativ-rhetorischen Funktion der Begriffe anhand eines systematischen (Fotografie) und zeitlichen (Gegenwart) Schnitts herauszuarbeiten" (16). Damit schließt Beckers Ansatz an Arbeiten der neueren Forschung zur Fotografie an, in denen das fotografische Bild nicht ontologisch bestimmt, sondern im Hinblick auf seine Funktion und Wahrnehmung innerhalb eines bestimmten kulturellen Kontexts interpretiert wird. [1]

Indem sie den einzelnen Begriffen Fallbeispiele zuordnet, gelingt es der Autorin, Theorie und Bildanalyse in einen fruchtbaren und aufschlussreichen Dialog zu stellen, anstatt sie schematisch in zwei verschiedene, inkonsumerable und schwer verdauliche Blöcke auseinander fallen zu lassen. So werden im ersten Kapitel Sugimotos Seascapes und Theaters mit Aurakonzepten von Fürnkäs, Benjamin, Groys und Didi-Huberman in Verbindung gebracht, um der "Temporalität der Unbestimmtheit" (46) des Fotografischen auf den Grund zu gehen. Die Frage, wie diese "Temporalität der Unbestimmtheit" mit der "Überlagerung natur- und kunstästhetischer Vorstellungen von Atmosphäre und Aura" (49) in der Rezeption von Sugimotos Bildern zusammenhängt, ergibt sich zwar fast automatisch aus dem Argumentationsverlauf, wird dann allerdings leider nicht konsequent zu Ende gedacht.

Der Blickwinkel, von dem aus sich das nächste Kapitel den fotografischen Atmosphären nähert, könnte entgegengesetzter kaum sein. Auf Sugimotos zwischen Kontemplation und Medienreflexion oszillierende Fine Print Abzüge folgen Larry Clarks autobiografische Fotobücher, die einen direkten, ungeschönten Einblick in das von "sex, drugs and rock'n'roll" geprägte Teenagermilieu, in dem der Fotograf selbst aufwuchs, versprechen. Dementsprechend geht es hier weniger um die Bestimmung von Atmosphäre durch die Kopplung der Begriffe der Unbestimmtheit und der Dauer mit demjenigen der Aura, als um die Evozierung von Stimmung durch die Authentizität suggerierende Inszenierung eines spezifischen Milieus. Auch wenn die vorwiegend poststrukturalistisch inspirierte theoretische Verknüpfung von Stimmung, Verstimmung (Derrida) und Milieu in Bezug auf Larry Clarks Werk durchaus erhellend ist, stellt man sich bei der Lektüre dieses zweiten Kapitels die Frage, ob der Begriff des Atmosphärischen genügend theoretisches Potential hat, um so unterschiedliche Werke wie die von Sugimoto und Clark auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Auf theoretischer Ebene lässt sich fragen, inwiefern es Sinn macht, den auf Sugimoto angewandten ästhetisch und meteorologisch motivierten Aurabegriff und den für Clark relevanten sozio-psychologischen Milieubegriff unter dem Begriff des Atmosphärischen zusammenzufassen. Der Hinweis auf Alexander Kluges Konzept der "im Zuschauer bereits vorhandenen Aura" (91) vermag aufgrund seiner Vagheit nicht vollständig zu überzeugen.

Unter dem Titel Compositing-Ästhetik und die Idiome des Malerischen untersucht das dritte Kapitel, wie Thomas Ruff in seinen nudes und JPEG-Bildern Atmosphäre zitiert, indem er in seinen großformatigen Foto-Tableau zahlreiche Verweise auf die Tradition der Malerei (Genres des Akts und des Landschaftsbilds) und ihrer Gegenwart (Gerhard Richters Fotobilder) unterbringt. Besonders in den nudes führe die Konfrontation des "fetischistischen Sichtbarkeitsregime[s] der Internetpornografie" mit "den Surplus-Effekten der Kunst" (125) zu einer Zurschaustellung malerischer und fotografischer Darstellungskonventionen des Atmosphärischen um "den Sex zum Sprechen zu bringen". (124) Auch wenn die Schlusspointe in seiner Metaphorik wenig Aussagekraft besitzt, ist die an philosophisches Gedankengut zur Ökonomie der Arbeit (Deuleuze) und zum "photogenic dispositif" (Foucault) anknüpfende Argumentation durchaus überzeugend.

Sind die bisherigen Analysen der Erzeugung von Atmosphäre im Bild bzw. in Bildsequenzen gewidmet, erweitert sich das Spektrum im vierten Kapitel um den Raum, der das Bild einschließt und mit dem es in Dialog tritt. Wolfgangs Tillmans räumliche Inszenierungen von Fotografien werden mit Theorien des Innenraums von Benjamin und Simmel sowie mit dem Ambiance-Begriff Baudrillards in Verbindung gebracht, um "die 'Atmosphäre' bei Tillmans nicht als homogenisierendes, sondern als heterogenes Konzept lesbar [zu machen]". (151) Überzeugend stellt Becker dar, auf welche Weise die Wechselwirkung von Bild, Raum und institutionellen Rahmenbedingungen in Tillmans Installationen eine "zweite Ordnungsebene des Atmosphärischen" (154), welche die verschiedenartigen Atmosphäre-Effekte der Bilder in ihrer Widersprüchlichkeit umfasst, erzeugt. Das letzte Kapitel ist schließlich der Frage nach der Rolle des Atmosphärischen bei der Konstruktion von Identität über Rasse und Geschlecht gewidmet. Anhand von Zoe Leonards Arbeit The Fae Richards Photo Archive untersucht Becker, wie die von Hollywood zur Auratisierung des weißen Stars eingesetzten Glamour-Techniken im Rahmen postkolonialer, feministischer Kunst appropriiert und umgewertet werden, um eine kritische Auseinandersetzung mit konventionalisierten Atmosphäre-Codes zu ermöglichen.

Die Breite und Vielfalt der behandelten Themen und Theorien wie auch die überzeugende Art und Weise Werkanalyse, Rezeptionsdiskurse und theoretische Fragestellungen zu verbinden machen Ilka Beckers Buch zu einem wertvollen Forschungsbeitrag zur Frage des Atmosphärischen in der fotografischen Kunst der Gegenwart. So zeigt die Studie die immens wichtige Rolle auf, die das Atmosphärische für die Bedeutungskonstitution und die Rezeptionsbedingungen von Fotografien haben kann. Allerdings fällt die Bestimmung von Atmosphäre als ein "Modus des Fotografischen" (183) nicht ganz überzeugend aus. Abgesehen davon, dass Atmosphäre wohl ganz grundsätzlich ein Modus jeglicher Form der Repräsentation sein kann, würde eine umfassende Studie des Atmosphärischen in der Fotografie eine konsequente Untersuchung von nichtkünstlerischen Anwendungen des Mediums erfordern, wie zum Beispiel Modefotografie, Dokumentarfotografie, wissenschaftliche Fotografie, Fotoreportage usw. Die Beschränkung auf rein künstlerische Ansätze lässt dagegen nur bedingt Aussagen über das Atmosphärische als Modus der Fotografie zu. Nichtsdestotrotz handelt es sich um ein höchst lesenswertes Buch, das über den Begriff des Atmosphärischen neue Einsichten in die Bedeutungskonstitution und Wahrnehmung von Fotografie erlaubt. Durch höchst unterschiedliche theoretische und künstlerische Kontexte mäandernd, entspricht Beckers Text letztlich auf kongeniale Weise ihrer eigenen, das Buch abschließenden Definition von Atmosphäre: "Sie ist weniger als ein vereinheitlichendes Amalgam vorstellbar, denn als ein bruchstückhaftes, zeitlich in sich paradoxes und mehrdimensionales Gebilde, das sich als Ausgangsmaterial für weitere Forschungen nutzen lässt." (190)


Anmerkung:

[1] Zuletzt z.B. in: Hilde Van Gelder / Helen Westgeest: Photography Theory in Historical Perspective, Boston (MA) 2011.


Alexander Streitberger

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Empfohlene Zitierweise:

Alexander Streitberger: Rezension von: Ilka Becker: Fotografische Atmosphären. Rhetoriken des Unbestimmten in der zeitgenössischen Kunst, München: Wilhelm Fink 2010
in: KUNSTFORM 12 (2011), Nr. 9,

Rezension von:

Alexander Streitberger
Département d'archéologie et d'histoire de l'art, Université catholique de Louvain

Redaktionelle Betreuung:

Stefan Gronert