Rezension

Ellen Spickernagel: Der Fortgang der Tiere. Darstellungen in Menagerien und in der Kunst des 17.-19. Jahrhunderts, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, 185 S., ISBN 978-3-412-20454-9, 29.90 EUR
Buchcover von Der Fortgang der Tiere
rezensiert von Petra Lange-Berndt, Kunstgeschichtliches Seminar, Universität Hamburg

Weltweit ist nicht mehr zu verbergen, dass wir uns inmitten einer von Menschen gemachten Krise befinden. Nach feministisch motivierten kunsthistorischen Projekten, die sich den vielfältigen Modifizierungen von Körpern widmeten, haben seit einiger Zeit die sogenannten Animal Studies Konjunktur: Unsere Physis ist in größere Zusammenhänge, in Ökosysteme oder eben das Chaos von dem, was unbeholfen Umwelt genannt wird, eingebunden. Die Beschäftigung mit Affen, Katzen, Insekten oder Bakterien ermöglicht es, diese problematische Trennlinie zwischen dem menschlichen Tier und dem Rest der Fauna zu diskutieren - wie es Donna Haraway und kürzlich Giorgio Agamben gezeigt haben, handelt es sich um eine äußerst politische Frage, die neben Hierarchien und Zentrismen Rassismus thematisiert.

Ellen Spickernagels Buch widmet sich diesem noch jungen Forschungszweig und bietet einen äußerst anregenden Überblick über ein größeres Feld, indem es aus einer ethischen Perspektive, die sich emphatisch dem Tier als Subjekt zuwendet, historische Mensch-Tier Beziehungen und entsprechende Darstellungen des 17. bis 19. Jahrhunderts fokussiert. Im Mittelpunkt steht die These, dass bereits der lebende Organismus nur als Inszenierung zu erfahren ist. Von Interesse sind daher "die Orte und Medien [...], die unsere Bilder vom Tier hervorbrachten" (11): In zehn Kapiteln, die westeuropäische Stationen vom Absolutismus bis zur bürgerlichen Gesellschaft untersuchen, werden die Jagd, die Präsentation in Menagerie oder Zoo, Haustiere und ländliches Leben behandelt, wobei der Schwerpunkt auf der Malerei liegt.

Die ersten vier Kapitel widmen sich mit dem äußerst lohnenden Beispiel des Jagdschlosses, der feudalen Menagerie sowie dem bürgerlichen Zoo architektonischen Ensembles, die teilweise in der Tradition des durch Michel Foucault beschriebenen Panoptikums und seinen Zurichtungsmechanismen stehen. Das Jagdschloss verdeutlicht die symbolisch aufgeladene Inszenierung des Tötens von Tieren innerhalb einer feudalen Gesellschaft; eine vergleichbare Glorifizierung des Monarchen lässt sich anhand der berühmten Menagerie beobachten, die Louis Le Vau im 17. Jahrhundert in Versailles errichtete. Diese Anordnung änderte sich erst mit der französischen Revolution: Auf dem Gelände des Pariser Jardin des Plantes wurde 1794 der erste bürgerliche Zoo gegründet und Tiere galten nun offiziell als Mitbürger der neuen Gesellschaft. Es ist ein großes Verdienst, die mit dieser Institution einhergehende Rhetorik der Freiheit - auch in Hinsicht auf das Berliner Beispiel - zu kritisieren. Tatsächlich stand der Jardin des Plantes seit der französischen Herrschaft in Ägypten und spätestens mit der Besetzung Algiers im Dienst französischer Kolonialherrschaft; erst die Zerstörung außereuropäischer Biotope simuliert die Vorstellung politischer Gleichheit.

Die folgenden sechs Kapitel widmen sich mit Tierdarstellungen in der Malerei verstärkt der Frage nach einem möglichen (bürgerlichen) Subjektstatus der porträtierten Lebewesen; im Mittelpunkt stehen vorrangig quasi-familiäre Kontexte. Erhielten die berühmten monumentalen Tierporträts, die der Hofkünstler Jean-Baptiste Oudry im 18. Jahrhundert in Menagerien fertigte sowie englische Porträts von Menschen mit ihren Haustiere bereits einige Aufmerksamkeit, so ist es erstaunlich, dass Gemälde von Charles Jacques, Jean-Francois Millet und Gustave Courbet bislang vernachlässigt wurden. Jacques, der sich auf Nutzvieh spezialisierte, siedelte sich wie Millet nach der Revolution von 1848 in Barbizon an. In Zeiten der Intensivierung der Viehwirtschaft sowie der Etablierung einer neuen Käuferschicht zeigt er eine veränderte Sensibilität gegenüber dem Tierkörper, so unterhielt er selbst einen Geflügelhof. Gustav Courbet hingegen setzt sich deutlich von solch marktgängiger Kunst ab: Er bezieht sich vielmehr auf Tagespolitik. So thematisierten seine Werke den Bruch mit tradierten Gesellschaftsordnungen; vor dem Hintergrund eines staatlich sanktionierten Tierschutzes verhandelt er das Prinzip der Gleichheit zwischen Mensch und Tier, indem er die angedeuteten Konflikte in die Betrachter seiner Bilder verlagert.

Eine vergessene Arbeit Adolph von Menzels, die Gouachen des "Kinderalbums", fasst schließlich die Kernthesen der Untersuchung zusammen. Der Künstler war Gehegen und Käfigen gegenüber äußerst kritisch eingestellt, denn diese Mittel der Zurschaustellung galten ihm als Ausdruck einer autoritären Gesellschaft und ihrer Disziplinierungsmaßnahmen. Doch reflektiert Menzel, dass bildnerische Mittel die Funktion der Gitterstäbe übernehmen können. Es wird, wie auch im Buch insgesamt, in romantischer Tradition suggeriert, dass jenseits der Erscheinungen von Kunst und Kultur eine ganz andere, uns notwendigerweise verborgene Tierwelt existiert.

Das vorliegende Buch macht eine Fülle von textuellem wie visuellem Material zugänglich. Oft werden neue Sichtweisen angeboten, und die durchgängig formulierte Kritik an kolonialer Machtpolitik bietet eine erfrischende wie notwendige Perspektive, auch wenn dieser Aspekt methodisch forciert werden könnte. Allerdings wird die Auswahl der besprochenen Kunstwerke nie eingehend erläutert, und so schafft die Untersuchung durch ihre Auswahl - vielleicht ohne es zu wollen - einen normativen Kanon: Offenbar favorisiert der Text die Einbindung von Vögeln und Säugetieren in quasi-familiäre Strukturen, ihre Vereinzelung und Anthropomorphisierung. Wo sind die Hybridwesen, die tollwütigen Hunde, unheimlichen Paarungen, die Spinnen, Insektenschwärme und Mikroben? Auch steht, ohne dass es explizit erläutert wird, ökofeministischen Ansätzen folgend das Konzept einer friedlichen Natur im Mittelpunkt. Es wird zwar der Versuch unternommen, Jean-Francois Millet mit evolutionären Theorien und "Bilder[n] des evolutionären Prozesses" (147) in Verbindung zu bringen. Doch leider ist dieses Kapitel wenig überzeugend. Millet präsentiert ursprüngliche Kreaturen, aber nicht jede Generationenfolge stellt eine evolutionäre Entwicklungsstufe dar. Im Gegenteil ist Millets Fauna unveränderlich, ja zyklisch - Kämpfe, Zufall und Mutationen sind gerade kein Teil des von ihm rezipierten Naturverständnisses. Insgesamt finden statt evolutionärem Chaos vor allem distanzierte Mensch-Tier-Interaktionen Erwähnung. Unbequemes, etwa das Tabu explizit sexueller Begegnungen mit den dazugehörigen pornografischen Bildwelten, bleibt ausgespart. Dabei gäbe es durchaus alternative Perspektiven. Gilles Deleuze und Félix Guattari erhofften sich von theoretischen Modellen, die Tiere nicht als Individuen sondern als schwärmende und rudelbildende Blöcke verstehen, anarchische Qualitäten, die bürgerliche Ordnungen mitsamt ihren Hierarchien zersetzen können. Warum sollen wir den christologisch aufgeladenen Hirsch bemitleiden, wenn wir Teil einer Mensch-Tier-Maschine mit den komplexen Interaktionen von gut 200 Pferden nebst Reitern sowie einer entfesselten karnivoren Hundemeute sein könnten? Doch diese und viele andere Fragen aufzuwerfen, stellt genau die Qualität von Ellen Spickernagels Buch dar.


Petra Lange-Berndt

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Empfohlene Zitierweise:

Petra Lange-Berndt: Rezension von: Ellen Spickernagel: Der Fortgang der Tiere. Darstellungen in Menagerien und in der Kunst des 17.-19. Jahrhunderts, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010
in: KUNSTFORM 12 (2011), Nr. 2,

Rezension von:

Petra Lange-Berndt
Kunstgeschichtliches Seminar, Universität Hamburg

Redaktionelle Betreuung:

Hubertus Kohle