Rezension

Tim Ayers: (ed.) The History of British Art 600-1600. , London: Tate Publishing 2008, 295 S., ISBN 978-1-85437-650-3, 25.00 GBP
Buchcover von The History of British Art 600-1600
rezensiert von Antje Fehrmann, Freie Universität Berlin

295 Seiten sind nicht viel für 1000 Jahre britische Kunst und Architektur in Mittelalter und Renaissance, zuzüglich Mittelalterrezeption, und doch ist den Herausgebern und Autoren der neuen History of British Art ein großes und zugleich großartiges Buch fernab jeder Coffetable-Romantik gelungen. Dieser Auftakt einer Serie von drei Bänden zu britischer Kunst von 600 bis heute schließt, anders als seine Nachfolger, auch die Architektur mit ein.

Dass dieser Überblick tatsächlich anspruchsvoll einerseits wissenschaftlichen Kriterien genügt und zugleich einen gut lesbaren Überblick über die englische Kunst- und Forschungsgeschichte geben kann, liegt nicht nur an der Diskussionsfreudigkeit der fachlich ausgewiesenen Autoren und an der methodischen Schärfe der Texte, sondern auch an der durchdachten und übersichtlichen thematischen Gliederung mit Querverweisen, Belegen in Fußnoten, gutem Druckbild, guten Abbildungen und einem Register am Ende des Buches. Die begründete Entscheidung der Herausgeber David Bindman (für die Serie) und Tim Ayers (für diesen Band) gegen eine stringent chronologische oder gar gattungsgebundene Ordnung mit enzyklopädischem Charakter macht den Reiz dieses Werkes aus.

Der Band ist in neun thematische Kapitel gegliedert, geleitet von aktuellen Fragestellungen der mediävistischen Kunstgeschichte. Jedem Thema ist ein längerer, bebilderter Aufsatz zugeordnet; dazu kommen "im Fokus" zwei bis sechs sorgfältig ausgewählte, zentrale Objekte oder Objektgruppen aller Gattungen auf jeweils ein bis zwei graugrün unterlegten Seiten, die von jeweils anderen Autoren besprochen werden. Welche Werke in diesen farblich hervorgehobenen Katalog mit ausgewählter Literatur aufgenommen wurden, entscheidet sich nicht nur nach ihrer jeweiligen Bedeutung, sondern auch nach neueren Forschungsergebnissen und Neuentdeckungen, etwa im Fall der kürzlich restaurierten Wandmalerei zum Jüngsten Gericht in Coventry oder des 2005 vom Fitzwilliam Museum in Cambridge angekauften Macclesfield-Psalter. So begleiten zum Beispiel den Aufsatz zur kulturellen Identitätsfindung der britischen Inseln (Jane Geddes) der Teppich von Bayeux und die Kathedrale von Durham, den Aufsatz im Kapitel zum künstlerischen Austausch und zur kulturellen Abgrenzung Englands (Ute Engel) die Kathedrale von Canterbury und das Alabaster-Retabel mit dem hl. Georg in der dänischen Pfarrkirche von Borbjerg. Weitere Kapitel beleuchten monastisches und höfisches Patronat (Julian Luxford und John Goodall), Künstler- und Werkstattorganisation (Phillip Lindley), religiöse Bildthemen wie die Kreuzigung, die liturgische Nutzung der Kirchenräume sowie gesellschaftliche wie künstlerische Randfiguren (Jennifer O'Reilly und Robert Mills). Den Schluss des Bandes bilden Aufsätze zu Kunst und Reformation im 16. Jahrhundert (Maurice Howard) und zur Rezeption englischer mittelalterlicher Kunst bis heute (Alexandrina Buchanan).

Auffällig ist, dass die Autoren Erklärung wie Bewertung mit wissenschaftlichem Anspruch vorantreiben und die Werke auch im europäischen Zusammenhang betrachten. Man erfährt außerdem viel über die Kontinuität englischer Kunstproduktion bis ins 16. Jahrhundert. Das Westminster-Retabel, das Wilton-Diptychon und der Macclesfield-Psalter werden zu Recht als technisch herausragende Arbeiten ihrer Zeit in Nordeuropa gerühmt, aber auch zum Anlass genommen, den Stand der Forschung kurz und kritisch zu reflektieren. Die große Dominikanerkirche in Norwich beschreibt Linda Monckton exemplarisch für die Bauten des Ordens in England, die gut dokumentierte Pfarrkirche von Long Melford dient Anna Eavis als Beispiel für die typische Ausstattung einer mittelalterlichen englischen Pfarrkirche. Alixe Bovey hebt hervor, dass Illustrationen der Artusepik ausgerechnet in England überraschend wenig verbreitet waren.

Wissenschaftsgeschichte wird in allen Beiträgen, aus kontinentaler Sicht insbesondere bei Ute Engel und Alexandrina Buchanan behandelt (54f., 248ff.). Über Werkstattorganisation, Kunstexport und künstlerische Medien dieses Exports wie Zeichnungen und Modelle erfährt man viel in den Aufsätzen von Ute Engel und Phillip Lindley (62-67, 152, 160-163, passim). Nicola Coldstream verweist in ihrem Katalogtext zur Lincoln Cathedral auf lange diskutierte Vermutungen, die einen direkten Einfluss der Tierceron-Gewölbe auf die Zisterzienserkirche in Pelplin und die Briefkapelle der Marienkirche in Lübeck annehmen (72f.). Der Blick über den Kanal ist vielen, aber nicht allen Kapiteln und Katalogtexten anzumerken. So könnte man beispielsweise die Modernität der New Hall von Hardwick Hall, Wohnsitz der Gräfin von Shrewsbury, mit ihrer gut dokumentierten Ausstattung im europäischen Vergleich sogar noch stärker hervorheben: die symmetrische Anordnung der Raumfolge, die dem Perpendicular-Style entspringende Auflösung der Wand in Fensterflächen ohne weitere Gliederung und die verhaltene Antikenrezeption im Giebel.

Wenn in der englischen Forschung bisher den Baumeistern und Künstlern viel Anteil an der Erfindung neuer Formen und Stile zugeschrieben wurde, was auch daran liegt, dass viele von ihnen namentlich aus den Dokumenten bekannt sind, so fokussieren die Autoren dieses Bandes mehr auf den Kontext künstlerischer Produktion und Rezeption. Julian Luxford, ausgewiesen durch seine Dissertation zum Patronat englischer Benediktiner, diskutiert das ästhetische Verständnis englischer kirchlicher Auftraggeber, hebt aber auch die Warnung des Chronisten Matthäus Paris hervor, dass Äbten oft aus Respekt die Rolle der Bauherren zugeschrieben wurde, ob sie nun in die Planung involviert waren oder nicht. Tim Ayers erläutert auf einer Seite nicht nur Datierung, biblische Lesart und Welterklärung der Hereford-Weltkarte, sondern auch deren ehemalige Anbringung unter schützenden Flügeltüren und schließt daraus auf die Möglichkeiten ihrer Rezeption in lautem Lesen, Diskutieren und öffentlicher Präsentation.

Kaum ein Band kann die Öffnung der britischen Mediävistik nach außen so gut illustrieren wie dieser, auch wenn die Literaturauswahl dem Überblick angemessen überwiegend englische Literatur nennt. Die Edinburgher Tafeln mit den Bildnissen des Stifters Edward Bonkil und des schottischen Königspaars, die Hugo van der Goes zugeschrieben sind, würde man in einem Band zu britischer Kunst trotzdem nicht unbedingt erwarten, selbst wenn zu vermuten ist, dass Bonkil selbst nach Flandern gereist ist. Dass dieses Buch ausgerechnet jetzt, wo die mediävistischen kunstgeschichtlichen Lehrstühle der britischen Universitäten in Frage stehen, die Kunst der Insel derart qualitätvoll präsentiert und ihren gesamteuropäischen Anspruch so auffällig herausstellt, lässt hoffen, dass es noch nicht zu spät ist. Das aufwendig produzierte Buch, das die Herausgeber zu Recht unter die wichtigen Überblickswerke zu englischer Kunst und Architektur einreihen, sollte in keinem Seminarapparat und keiner Bibliothek fehlen. [1]


Anmerkung:

[1] Vergleiche T. S. R. Boase (ed.): The Oxford History of English Art, Oxford 1949ff.; Leslie Webster / Janet Backhouse (eds.): The Making of England: Anglo-Saxon Art and Culture A.D. 600-900, Toronto 1991; J. J. G. Alexander / Paul Binski (eds.): Age of Chivalry. Art in Plantagenet England, 1200-1400, London 1987; Richard Marks / Paul Williamson (eds.): Gothic. Art for England 1400-1547, London 2003.


Antje Fehrmann

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Empfohlene Zitierweise:

Antje Fehrmann: Rezension von: Tim Ayers: (ed.) The History of British Art 600-1600. , London: Tate Publishing 2008
in: KUNSTFORM 12 (2011), Nr. 12,

Rezension von:

Antje Fehrmann
Freie Universität Berlin

Redaktionelle Betreuung:

Ute Engel