Rezension

Michael Früchtel: Der Architekt Hermann Giesler. Leben und Werk (1898-1987), Unterwössen: Edition Altavilla 2008, 429 S., ISBN 978-3-938671-04-7, 58.00 EUR
Buchcover von Der Architekt Hermann Giesler
rezensiert von Ralf Dorn, Fachbereich Architektur, Technische Universität, Darmstadt

"Hitlers Architekten", unter diesem Titel läuft nicht nur ein DFG-Projekt der TU München, betreut von den Professoren Winfried Nerdinger und Raphael Rosenberg. So könnte auch eine spannende Fernsehdokumentation zur besten Sendezeit lauten, deren erste Teile von den beiden bedeutendsten NS-Architekten handeln: dem bereits 1934 verstorbenen "Vordenker" Paul Ludwig Troost sowie dem späteren Generalbauinspektor und Rüstungsminister Albert Speer. Wer aber folgte auf Speer in dieser Hierarchie? Wer wurde mit bedeutenden Bauaufträgen bedacht und arbeitete sich sukzessive in den Wahrnehmungshorizont Adolf Hitlers? Wer kennt den Architekten Hermann Giesler, den "Generalbaurat der Hauptstadt der Bewegung"?

Die Beschäftigung mit Giesler erwies sich als umfangreiche und zugleich unangenehme Aufgabe, der sich Michael Früchtel in seiner 2008 publizierten Münchner Dissertation widmete. Umfangreich, weil die Bauprojekte Gieslers ähnlich groß waren wie die seines Konkurrenten Speer. Unangenehm, weil sich Giesler wie dieser im Laufe seiner Tätigkeit zusehends in den NS-Macht- und Unterdrückungsapparat verstrickte.

Betrachtet man Gieslers architektonisches Werk, die Ordensburg Sonthofen, das Weimarer Gauforum oder die Stadtplanungen für München und Linz, so wird schnell klar, welch große Lücke bis heute in der Erforschung dieses Architekten klaffte. Früchtel nahm sich der Person Gieslers in sechs chronologisch aufeinander folgenden Kapiteln an. Ziel seiner Arbeit war es, "das Leben und architektonische Werk Hermann Gieslers auf der Basis wissenschaftlicher Objektivität bei der Zusammenstellung der Fakten nachprüfbar und objektivierbar exakt zu rekonstruieren, bestehende Lücken zu schließen, Widersprüche und falschen Zuordnungen zu bereinigen und Gieslers Biographie in den Kontext zum Zeitgeschehen zu stellen" (9).

Die Probleme, denen sich Früchtel ausgesetzt sah, waren zum einen die Bewertung der Schriften Gieslers, die als "gefärbte" Quellen nur bedingten Zeugniswert besitzen, zum anderen der Umfang seiner städtebaulichen Arbeiten, die in der Untersuchung einen geringeren Detaillierungsgrad erfuhren. Methodisch konzentrierte sich Früchtel auf ein Vorgehen in drei Schritten: der "Bewertung verfügbarer Aussagen und Fakten", einer "Rekonstruktion" der Abläufe und einer abschließenden "Analyse". Ein starres Schema, das den Autor manchmal in die Enge trieb: "Eine Rekonstruktion ist nicht erforderlich, es wird auf das Literaturverzeichnis verwiesen" (112) und zu ermüdenden Redundanzen führte.

Den Jugendjahren Gieslers, seinem Studium, vor allem seinem radikalen politischen Wandel von einer linkspolitischen Orientierung hin zu einer nationalsozialistischen Gesinnung ist das erste Kapitel gewidmet. Mit der Machtergreifung 1933 erlangte Giesler seinen ersten Bauauftrag, die Ordensburg Sonthofen. Der mit zeitgenössischem Bildmaterial unterlegten Rekonstruktion lässt Früchtel eine sehr zurückhaltende Analyse folgen: "Die folgende Wertung geht von objektiven Bewertungen aus, moralische Aspekte wie z.B. die politische Dimension des Bauvorhabens werden nicht berücksichtigt." (115, Anm. 108). Dies irritiert, waren doch die Ordensburgen als NS-Schulungszentren eine genuin politische Bauaufgabe des Regimes und sollten daher auch so gewertet werden.

Im Wettbewerb um das Weimarer Gauforum tritt Hitler als entscheidende Instanz auf und setzt den weitgehend unbekannten Giesler gegen eine starke Konkurrenz als Architekten des künftigen Forums durch. Es folgen weitere Bauten im Auftrag des thüringischen Gauleiters Fritz Sauckel. Mit Blick auf den Umbau des Weimarer Hotels Elephant schreibt Früchtel: "Die heute immer noch präsente NS-Symbolik erschließt sich erst bei genauerem Hinsehen und ist (wie jede Symbolik) nur verständlich, wenn der Betrachter sie auch kennt." (105) Man fragt sich, ob sich hier tatsächlich eine genuine NS-Symbolik oder vielmehr die Formensprache traditionalistischer und / oder neoklassizistischer Baukunst zeigt, die immer wieder mit NS-Architektur gleichgesetzt wird? Im dritten Kapitel zeichnet Früchtel die Beschleunigung der Karriere Gieslers anhand der ihm übertragenen Planungen für das Augsburger Gauforum und die "Hohe Schule" der NSDAP am Chiemsee nach. Mit dem Planungsauftrag für München, der "Hauptstadt der Bewegung", und der Verleihung des Titels "Generalbaurat" (GBR) in Anlehnung an Speers Titel "Generalbauinspektor" (GBI) erreicht Giesler den Höhepunkt seiner Karriere.

Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs stellte sich der Architekt mit seinem Planungsstab als "Baugruppe Giesler" kriegswirtschaftlichen Aufgaben zur Verfügung. Spätestens hier kam es zu den unvermeidbaren Folgen seiner Tätigkeit für das NS-Regime: dem systematischen Einsatz von Zwangsarbeitern und anderen Kriegsverbrechen. Früchtel trennt Gieslers Tätigkeit als Einsatzgruppenleiter für die Organisation Todt von seiner Tätigkeit als Architekt für Hitler ab. Dies mag aus arbeitsökonomischen Gründen praktisch gewesen sein, doch ist es gerade diese Verquickung, die vielen Architekten Hitlers zum Sündenfall geriet. Die Untrennbarkeit beider Tätigkeiten voneinander zeigt allein schon die Tatsache, das Giesler Teile seines Büros mit nach Russland nahm, um dort die Linzer Planungen fortzusetzen (238f.). Früchtel findet für Giesler die durchaus treffende Charakterisierung als "ideologischer Bauprojektmanager" (132).

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Giesler festgenommen, als Kriegsverbrecher zu lebenslanger Haft verurteilt, jedoch 1952 begnadigt und vorzeitig entlassen. Er gründete in Düsseldorf ein Architekturbüro, das in der Folgezeit nur durch künstlerisch belanglose Aufträge ehemaliger NS-Größen überlebte. Gieslers alter Konflikt mit seinem Konkurrenten Speer brach nach dessen Entlassung und publizistischem Erfolg Ende der 1960er-Jahre erneut aus und ließ den bis dato unauffällig agierenden Giesler selbst zur Feder greifen. Das Endprodukt, "Ein anderer Hitler" (1977), entlarvt Giesler als einen bedingungslosen Gefolgsmann Adolf Hitlers, der auch in der Rückschau auf die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs sein kritikloses Verhältnis zum sogenannten Führer aufrecht erhielt.

Zu den Mängeln von Früchtels Arbeit gehört eine manchmal unreflektierte Wortwahl. So bezeichnet er die Pogrome der "Reichskristallnacht" als einen "Meilenstein der nationalsozialistischen, antijüdischen Repression" (125). Auch die Titulierung Hitlers als "Mentor" (369) Gieslers und Speers trifft nicht ganz den Kern. Unangenehm fallen die häufigen Rechtschreibfehler ins Auge. Hier hätte ein sorgfältiges Redigieren Abhilfe geschaffen. Das Layout ist mangelhaft, und auch die Auflockerung des Textes mit qualitätvollen Abbildungen kann den Eindruck völliger Überfrachtung nicht verhindern. Der eng gesetzte, monotone Blocksatz ist gespickt mit manchmal willkürlich wirkenden Fettsetzungen. Der Anmerkungsapparat ließe sich böswillig als "Verschleierungstaktik" kritisieren, so klein sind die Anmerkungsziffern gesetzt. Hier hingegen hätte eine Fettsetzung der Ziffern Abhilfe geschaffen.

Zu Früchtels unbestrittenen Leistungen gehört es jedoch, erstmalig eine geschlossene Zusammenschau von Gieslers Arbeiten und Tätigkeiten anhand quellenkritischer Analysen vorgenommen sowie die personelle Struktur und Arbeitsweise des Büros Giesler offengelegt zu haben. Diese geschlossene Betrachtung gilt es nun in weiterführenden Einzeluntersuchungen wieder zu weiten und in Kontext zu setzen mit der Tätigkeit deutscher Architekten für das NS-Regime.


Ralf Dorn

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Ralf Dorn: Rezension von: Michael Früchtel: Der Architekt Hermann Giesler. Leben und Werk (1898-1987), Unterwössen: Edition Altavilla 2008
in: KUNSTFORM 11 (2010), Nr. 4,

Rezension von:

Ralf Dorn
Fachbereich Architektur, Technische Universität, Darmstadt

Redaktionelle Betreuung:

Julian Jachmann