Rezension

Steffen Krämer: Herrschaftliche Grablege und lokaler Heiligenkult. Architektur des englischen Decorated Style, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2007, 456 S., ISBN 978-3-422-06729-5, 58.00 EUR
Buchcover von Herrschaftliche Grablege und lokaler Heiligenkult
rezensiert von Jens Rüffer, Institut für Kunstgeschichte, Universität Bern

Forschungsarbeiten zur englischen Architektur des Mittelalters sind im deutschen Sprachraum relativ selten, obwohl sie interessante Themenfelder bereithält. Steffen Krämer hat sich intensiv mit dem Einfluss herrschaftlicher Grablegen und lokaler Heiligenkulte auf die Architektur des Decorated Style ca. 1255-1345 (12) auseinandergesetzt. Die Studie ist das Ergebnis einer Habilitationsschrift, die 2004 an der Ludwig-Maximilians-Universität angenommen wurde. Die Kombination von Titel und Untertitel ist provokant und spiegelt bereits die Hauptthese Krämers wider, dass sich das Verständnis der Formensprache des Decorated Style erst wesentlich aus den Funktionen der herrschaftlichen Grablege und der lokalen Heiligenkulte ergebe. Die Inszenierung dieser Funktionen beschränke sich nicht auf Kleinformen wie Reliquienschreine, Grabmäler oder Chantry Chapels, sondern bestimme die Großform, d.h. die Sakralarchitektur, maßgeblich mit.

Die Arbeit gliedert sich in zwei große Teile, in denen exemplarisch je zwei Bauwerke analysiert werden. Für die Grablegen sind dies der Chor der ehemaligen Stiftskirche der Augustinerchorherren in Bristol sowie der Chor der ehemaligen Benediktinerabtei in Tewkesbury, für den Heiligenkult der Angel Choir der Kathedrale von Lincoln und der Retrochor der Kathedrale von Wells. Diesen Hauptkapiteln sind jeweils ein einführendes zu herrschaftlichen Grablegen und eines zum Heiligenkult in England vorangestellt. Am Ende der Studie werden die Ergebnisse übergreifend zusammengefasst.

Am Beginn stehen Ausführungen zum Stilbegriff des Decorated sowie methodische Überlegungen. Im ersten Hauptkapitel wird die Geschichte des Stilbegriffs Decorated Style minutiös nachvollzogen. Die profunde Analyse der Begriffsgeschichte und ihrer Interpretationen bis in die Gegenwart offenbart die vielen methodischen Fallstricke derartiger Epochenbegriffe. Der Begriff des Decorated Style bleibt nicht nur inhaltlich und zeitlich umstritten, sondern auch in seiner Anwendung problematisch, weil hier eine Begrifflichkeit, die aus der Analyse ornamentaler Detailformen wie dem Maßwerk gewonnen wurde, auf die Architektur im Allgemeinen übertragen wird und schließlich als stilistischer Epochenbegriff alle Genres fassen soll. Krämers Replik, die weitgehend im Historiografischen verharrt, zeigt, dass der Begriff weder präzise zu handhaben, noch inhaltlich genau zu bestimmen ist. Dieses eher deskriptive Ergebnis hätte durch eine erweiterte allgemeine methodische Reflexion zum Problem der Stilbegriffe mehr Schärfe gewinnen können, wie auch ein pointiert vorgetragener eigener Standpunkt wünschenswert gewesen wäre, gerade weil der Begriff Decorated Style Teil des Thematik ist und in der Arbeit weiter benutzt wird.

Im folgenden Kapitel setzt sich Krämer mit den wissenschaftlichen Analysemethoden von Architektur und ihren Protagonisten auseinander (u.a. Krautheimer, Bandmann, Warnke) und umreißt die Ziele seiner Studie. Kernpunkte sind die Fragen, warum eine bestimmte Baugestalt gewählt wurde, welche Bedeutungen damit transportiert werden sollten und wie diese methodisch zu erschließen sind. Zugespitzt wird gefragt, "inwieweit die Funktion die architektonische Erscheinungsform beeinflusst und in welcher Weise sich diese Funktion in architektonischen Formen baukünstlerisch artikuliert hat" (49). Der methodische Weg des Autors besteht darin, mit einer "historischen-formalen Interpretation" die "mittelalterliche Architektur im englischen Decorated Style" zu analysieren (54), wobei mit herrschaftlicher Grablege und lokalen Heiligen- bzw. Reliquienkulten die ins Zentrum der Untersuchung gestellten Funktionen benannt werden.

Die detaillierten Analysen der einzelnen Objekte sollen hier nicht weiter kommentiert werden. Die wissenschaftliche Erschließung des historischen Materials sowie die Aufbereitung desselben sind Ausweis handwerklicher Solidität und sprachlicher Kompetenz. Kritische Einwände dürften jedoch vor allem in methodischer Hinsicht erhoben werden und zwar nicht mit Blick auf den interdisziplinären Ansatz, der sehr willkommen ist und auch überzeugend vorgetragen wird, sondern in der Art und Weise, wie aus den einzelnen Analysen Argumente für die Kernthese abgeleitet werden: Dass gerade die Architektur des Decorated Style durch die Errichtung herrschaftlicher Grablegen und die Förderung lokaler Heiligenkulte in besonderer Weise beeinflusst worden sei. Ich beschränke mich im Folgenden auf den ersten Teil, die herrschaftlichen Grablegen. Krämer hat zweifellos eine beeindruckende Fülle an historischen Informationen zusammengetragen, das zur Verfügung stehende Quellenmaterial umfassend und kritisch ausgewertet sowie die Architektur in jeder Hinsicht kontextualisiert und damit eine solide Basis für Interpretationen gelegt. Die Frage, die sich jedoch stellt, ist, ob die äußerst ausführlich dargelegten Analysen zu Bristol und Tewkesbury seine Hauptthese überzeugend stützen. Hier kommen dem Rezensenten erhebliche Zweifel, denn die Bedeutung, die den architektonischen Formen unterstellt wird, lässt sich aus zeitgenössischen Dokumenten keineswegs so extrapolieren, wie es der Autor dem Leser nahelegt. Es bleibt eine Lücke, die bereits die ältere Forschung, wie sie Günther Bandmann begründete, nicht zu schließen vermochte. Damit die These überzeugt, wäre der Befund in einen größeren Kontext zu stellen und zwar sowohl im historischen Längsschnitt als auch für die Untersuchungszeit. Es wäre deshalb erhellender gewesen, anstelle des zweiten Teils zu Reliquien- und Heiligenkult die Hypothesen des ersten Teils umfassend zu prüfen. Denn herrschaftliche Grablegen gab es sowohl vor dem Decorated als auch später im Perpendicular Style, und dies gilt auch für lokale Heiligenkulte.

Das methodische Dilemma wird gerade im Zwischenresümee besonders deutlich. Krämer dürfte sich dieses Defizits auch bewusst gewesen sein, wie seine vorsichtigen und ausgewogenen Äußerungen zu Forschungsmethoden und deren Stärken und Grenzen, die im dritten Kapitel erläutert werden, belegen. Im Zwischenresümee wird konstatiert: "Das Spektrum jener Sakralbauten, in denen diese Funktion baukünstlerisch umgesetzt wurde, ist dabei nicht nur auf Stifts- oder Abteikirchen begrenzt, sondern umfasst die Kathedralen gleichermaßen wie die Kollegiats- oder Pfarrkirchen." Da im Rahmen der Zusammenfassung "die einzelnen Beispiele nicht näher untersucht werden" könnten, solle mit ihrer Auflistung wenigstens "die erstaunliche Vielfalt der Sakralbauten und damit zugleich die Bedeutung der Bestattungsfunktion in der Architektur des Decorated Style" (168) veranschaulicht werden. Abgesehen davon, dass für England der überlieferte Denkmälerbestand, wie der Autor selbst bemerkt, äußerst dezimiert ist, bleiben die Ausführungen gerade hinsichtlich der Hauptthese entweder im Konjunktiv, wie zu Westminster: "Eine ausführliche Untersuchung könnte klären, inwieweit die Bestattungsfunktionen auf die Architektur mit ihren spezifischen Detailformen eingewirkt hat" (169); - oder enden in allgemeinen Schlussfolgerungen: Da eine Grablege intendiert oder eingerichtet worden sei, sei die Architektur darauf bezogen. Der Nachweis der Bestattungsfunktion und die Besonderheit der Form, die vordergründig nicht anders erklärt werden kann, genügen als Indiz für die These. Im Umkehrschluss hieße dies: Wenn Stifter oder Bauherren keine Grablegen in den von ihnen initiierten Kirchen geplant hätten, hätten diese Bauten anders ausgesehen und wären wohl weniger anspruchsvoll gewesen.

Ist die Multifunktionalität des Kirchenraumes in dieser Weise erst einmal auf die Grablegen fokussiert, wird auch die Vorbildhaftigkeit eines Designs nur noch dort verortet, wo ebenfalls die Funktion einer Grablege angenommen werden kann - ohne dass damit bewiesen wäre, dass im Vergleichsbeispiel die besondere architektonische Gestaltung ihre Ursache in dieser spezifischen Funktion habe. Die Argumentation wird noch komplexer, wenn besondere formale Eigenheiten, die mehr oder weniger Unikatcharakter haben, wie das Oktogon in Ely, als vorweggenommene Schreinarchitektur für das später darunter eingerichtete Bischofsgrab interpretiert werden, ohne die strukturellen Hintergründe dieser faszinierenden Konstruktion oder liturgische Dispositionen näher zu erläutern.

Krämers These würde erheblich an Plausibilität gewinnen, wenn er hätte nachweisen können, dass sich der Gestaltungswille von Bauherrn und Stiftern in früheren oder späteren Zeiten in Bezug auf die Konzeption ihrer Grablegen grundlegend von dem unterschiede, was er für die Periode des Decorated annimmt. In Analogie zu Krämers Argumentation ließe sich nämlich genau so gut behaupten, dass sich sowohl der Neubau des Südquerhauses von York Minster (ca. 1220/1240) durch Walter de Grey (1215-1255) in seiner besonderen architektonischen Ausprägung der später dort eingerichteten Grablege dieses Erzbischofs verdanke, als auch der Neubau des Presbyteriums von Rievaulx Abbey in Yorkshire (begonnen um 1220) als ein überdimensionierter Reliquienschrein für die hinter dem Altar deponierten Gebeine Aelreds von Rievaulx (1147-1167) verstanden werden könne - und dass beide Funktionen ein besonderes Kennzeichen des Early English seien.

Trotz dieser kritischen methodischen Einwände sind die Einzelanalysen von Bristol, Tewkesbury, Lincoln und Wells mit Gewinn zu lesen. Der Autor referiert die Forschungsgeschichte, wertet akribisch die bauhistorischen Quellen aus, rekonstruiert kritisch die Baugeschichte, analysiert umfassend das jeweilige historische Umfeld und beschreibt präzise den Formenapparat, einschließlich den der Vergleichsbauten.


Jens Rüffer

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Jens Rüffer: Rezension von: Steffen Krämer: Herrschaftliche Grablege und lokaler Heiligenkult. Architektur des englischen Decorated Style, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2007
in: KUNSTFORM 10 (2009), Nr. 7,

Rezension von:

Jens Rüffer
Institut für Kunstgeschichte, Universität Bern

Redaktionelle Betreuung:

Ute Engel