Rezension

Jürg Glauser / Christian Kiening: (Hgg.) Text - Bild - Karte. Kartographien der Vormoderne, Freiburg/Brsg.: Rombach 2007, 530 S., ISBN 978-3-7930-9346-6, 65.00 EUR
Buchcover von Text - Bild - Karte
rezensiert von Karsten Labahn, Forschungsstelle Universitätsgeschichte, Universität Rostock

Als offensichtlich bedeutendstes Medium der Raumrepräsentation sind Karten insbesondere im Zuge der "räumlichen Wende" in den Fokus der Kulturwissenschaften getreten. Die Grundthese des neuen Raumverständnisses lautet, dass Raum nichts einfach so Gegebenes ist, kein starrer Behälter, in dem Dinge und Personen vorkommen und Handlungen stattfinden, sondern etwas durch Menschen Geschaffenes, kulturell, sozial, mental Konstituiertes, das selbst eine Geschichte hat, die erforscht und erzählt werden kann. [1] Dies erscheint heute als eine nahezu unhinterfragbare Wahrheit, die gleichwohl in ihren theoretischen Bedingungen wie Konsequenzen nur schwer zu fassen ist und so einer weiteren Klärung bedarf. Hierzu leistet der auf einen Zürcher Graduiertenkurs 2002 zurückgehende Sammelband einen wichtigen Beitrag. Er beschäftigt sich mit Raum, Raumvorstellungen, Raumrepräsentation in verschiedenen Medien und nähert sich diesem Thema zumeist in Fallstudien vom konkreten historischen Gegenstand, einzelnen oder mehreren Landkarten, Gemälden oder Texten.

Die Lektüre der Einleitung überzeugt den Leser schnell davon, sich mitten im Zentrum aktueller kulturwissenschaftlicher Debatten zu befinden, ihn in diesem Feld zu orientieren gelingt allerdings weniger. Auch dienen die Titel der fünf Abschnitte weniger der Übersichtlichkeit, wenn sich etwa hinter "Ränder - Richtungen - Lektüren" die Beiträge zu mittelalterlichen Weltkarten verbergen; zumal die Gruppierung der insgesamt 19 Aufsätze nach chronologischen und systematischen Gesichtspunkten durchaus sehr gelungen ist.

Hingegen bietet der Beitrag von Winfried Nöth eine auch bei der weiteren Lektüre immer wieder nützliche Einführung in die verschiedenen semiotischen Dimensionen von Karten, die als Zeichen sowohl ikonisch, indexikalisch und symbolisch funktionieren. Neben Aufsätzen von Florian Mittelhuber zu Inhalt und Aufbau von Ptolemaios "Geografie" und Philippe Forêt, der Verbindungslinien zwischen ostasiatischen Kartogrammen und postmodernen Stadtrepräsentationen aufzuzeigen sucht, enthält der erste Abschnitt Jess Edwards' Beitrag "Wie liest man eine frühneuzeitliche Karte?". Nach einem Überblick zur Kartografiegeschichtsschreibung unterbreitet Edwards einen eigenen Vorschlag zur Interpretation von Karten, wonach die Rolle der Geometrie und Mathematik - verstanden als diskursive Praxis gerade auch einer populären jenseits der gelehrten Mathematik - stärker zu beachten ist. Wenn "Karten mehr als bemaltes Papier sind", so sei dieses Mehr "stets irgendeine Phantasie - wie populär und unwissenschaftlich auch immer - über die Mathematik" (128). Diese Phantasie der Hersteller und Nutzer konstituiert die Bedeutung und den Wert der Karten in der Welt.

Im zweiten Abschnitt finden sich eine Einführung zu den "mappae mundi" von Hartmut Kugler sowie zwei weitere Beiträge zu Weltkarten von Marina Münkler und Cornelia Herberichs. Münkler interpretiert die Darstellungen von monströsen Völkern an den Rändern der Weltkarten, die zumeist als dekoratives Beiwerk "argumentativ wegerklärt" werden, aus dem Ordnungssystem der Karte selbst heraus: Diese Geschöpfe repräsentieren eine Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden in mehrfacher Hinsicht, entsprechend der verschiedenen Sinnebenen (räumlich, zeitlich, theologisch, anthropologisch) der Karten. Herberichs fragt nach der "Lesbarkeit der Ebstorfer Weltkarte" vor dem Hintergrund ihrer offensichtlich großen Unübersichtlichkeit. Diese erfordert eine bestimmte, performative Lektürepraxis: eine aktive Bilderschließung, eine visuelle Dynamik, eine suchende Erkundung durch den Betrachter, gleichzeitig aber auch eine Rückbindung an bekanntes Wissen.

Text-, Bild- und Kartenwerke des 16. Jahrhunderts werden im dritten Abschnitt behandelt. Christian Kiening verfolgt das Verhältnis und die vielfältige Verschränkung von "Erfahrung" (Augenzeugenschaft, Bericht individuellen Erlebens) und "Vermessung" (mathematische Berechnung, geometrische, geografische Verzeichnung) in zahlreichen literarischen und geografischen Publikationen. In den folgenden Beiträgen fragt Natalie Schweizer nach der Verortung Amerikas in Sebastian Münsters geografischer Weltbeschreibung und Maria Snyder stellt Werke von Schedel, Münster, Dürer und Specklin insbesondere hinsichtlich ihrer Entstehungs- und Gebrauchskontexte vor. Holm Graessner entwickelt anhand kartografischer Aufnahmen in Württemberg aus dem 16. und dem 17. Jahrhundert die These, dass die Geometrisierung der Kartografie eine historische Zäsur darstellt, weil in der geometrischen Karte als Repräsentation des Territoriums zusätzlich zum "traditionellen juridischen Wissen um den (Territorial)Staat jetzt auch nichtjuridisches, empirisches Wissen" (292) tritt.

Im vierten, kunstgeschichtlichen Abschnitt relativieren Tanja Michalsky und Ylva Gasser in ihren Beiträgen zu niederländischen Landschaftsbildern bzw. zu Brasilien-Darstellungen von Frans Post die Interpretation der holländischen Malerei als von Naturwissenschaft und Optik geprägter "Beschreibung" der Welt ähnlich der Kartografie und betonen dagegen die der Malerei je eigenen ästhetischen Mittel und Inhalte. Die Einbindung von Landkarten in Gemälden Johannes Vermeers analysiert Thierry Greub und führt dies hauptsächlich auf bildkompositorische und weniger auf thematische Motive zurück. Michael Gamper untersucht den mit der "Gartenrevolution" des 18. Jahrhunderts von regelmäßigen Anlagen zu Landschaftsgärten verbundenen Wandel der Darstellungsweisen von Vogelschauplänen über Vedutenserien zu Gartendichtung. Hiermit im Zusammenhang stehen wiederum die veränderte Funktion von Gärten auf der einen und der Wandel der der medialen Repräsentation zugrunde liegenden Wissensdispositive auf der anderen Seite.

Der letzte Abschnitt versammelt Beiträge zur Literatur des 17. bis 19. Jahrhunderts. Ursula Kundert klärt die Funktion von geometrischer Metaphorik in einer von Catharina Regina von Greiffenbergs "Zwölf Andächtige[n] Betrachtungen" (1678), Thomas Mohnike befragt die autobiografische Schilderung der schwedischen Adeligen Agneta Horn aus dem 17. Jahrhundert nach zugrunde liegenden Raumvorstellungen und Carl Jung untersucht, wie in der Reiseliteratur zweier schwedischer Autoren dem Raum Bedeutung gegeben wird. Eine eingehende Untersuchung der Funktion von fiktionaler Literatur beigegebenen Karten nimmt Christina Ljungberg anhand von Defoes "Robinson Crusoe" vor. Neben der Orientierung des Lesers in der Romanwelt und der Authentisierung der erzählten Geschichte dient die Inselkarte dazu, dem Text weitere Bedeutungsdimensionen hinzuzufügen. Karte und Text ergänzen sich gegenseitig in ihrem semiotischen Potential und so kann die Inselkarte "als kartographischer Akt von Crusoes verbaler Population des leeren Raumes interpretiert werden" (489).

Die echte Interdisziplinarität mit differenzierten methodischen und theoretischen Perspektiven ist eine Stärke des Bandes. Konsequent sind in den Fallstudien allgemeine Überlegungen zum Thema Raum mit konkreten historischen Kontexten konfrontiert worden. Viele Beiträge bemühen sich um solche Untersuchungsobjekte, die unterschiedliche Medien verbinden, etwa Landkartendarstellungen in Gemälden oder Illustrationen von Karten. Eine systematische Behandlung des Problems der Intermedialität [2], das sich vielleicht als einheitlicher Untersuchungsrahmen geeignet hätte, ist allerdings nicht vorgenommen worden.

Um übergreifende Aspekte des Sammelbandes zu formulieren, können drei Untersuchungsebenen unterschieden werden, die immer wieder eine Rolle spielen. Zum Ersten ist dies das Objekt Karte selbst, ihr materieller und medialer Status im historischen Kontext, ihre Produktion und ihr Gebrauch, ihre Hersteller und Auftraggeber, Käufer und Nutzer. Zum Zweiten wird gefragt nach der Zeichenhaftigkeit der Karte, danach, wie die Zeichen funktionieren und wie ein Raumbezug entsteht (Kartensemiotik). Dies führt zum dritten Bereich, dem Problem der Referenz: Was steht hinter der Karte? Ein geografisches Gebiet oder Territorium, eine Raumvorstellung oder -wahrnehmung, politische Diskurse, Wissensordnungen, Machtstrukturen?

Gemeinsam ist allen Beiträgen, dass Karten und andere Raummedien Räume nicht nur repräsentieren, sondern dass sie selbst bedeutungsvolle Raumordnungen herstellen. Immer wieder klingt die Ansicht an, dass mit der Entwicklung der mathematisch-geometrischen Kartografie bzw. der Praxis des Kartierens in der Frühen Neuzeit ein spezifisches Denken von Raum, Räumlichkeit und Territorialität verbunden war. Jörg Dünnes kürzlich an anderer Stelle formulierte These von der Karte als "intermediale[r] Imaginations-Matrix auch für qualitative Operationen der Raumkonstitution" [3] findet hier Beispiele und Bestätigung.


Anmerkungen:

[1] Siehe jetzt umfassend: Jörg Döring / Tristan Thielmann (Hgg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008.

[2] Vgl. die konzeptionellen Überlegungen von Birgit Emich: Bildlichkeit und Intermedialität in der Frühen Neuzeit. Eine interdisziplinäre Spurensuche. In: Zeitschrift für Historische Forschung 35 (2008), 1, 31-56.

[3] Jörg Dünne: Die Karte als Operations- und Imaginationsmatrix. Zur Geschichte eines Raummediums. In: Döring / Thielmann: Spatial Turn (wie Anm. 1), 49-69, hier 55.


Karsten Labahn

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Empfohlene Zitierweise:

Karsten Labahn: Rezension von: Jürg Glauser / Christian Kiening: (Hgg.) Text - Bild - Karte. Kartographien der Vormoderne, Freiburg/Brsg.: Rombach 2007
in: KUNSTFORM 9 (2008), Nr. 11,

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Karsten Labahn
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Redaktionelle Betreuung:

Hubertus Kohle