Rezension

Alexandre Gady: Jacques Lemercier. Architecte et ingénieur du Roi, Tours: Maison des Sciences de l'Homme 2005,
Buchcover von Jacques Lemercier
rezensiert von Kristina Deutsch, Institut für Kunstgeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster

Bei der Grundsteinlegung zu der nahe dem Louvre gelegenen Pfarrkirche Saint-Roch am 28. März 1653 wurde Jacques Lemercier (um 1585-1654) dem jungen Louis XIV als "le plus excellent architecte de Sa Majesté" vorgestellt. Es war das letzte Bauwerk des Mannes, der 1639 zum Premier architecte du Roi ernannt worden und an den größten Bauunternehmen während der Regierung Louis' XIII beteiligt gewesen war und dem Richelieu seine architektonischen Projekte beinahe exklusiv anvertraute. Als einziger unter den herausragenden französischen Architekten seiner Zeit hatte Lemercier die antiken und modernen Bauwerke Roms vor Ort studiert, wo er sich mindestens von 1607 bis 1610 aufhielt. Entsprechend behandelte er das klassische Formenvokabular nicht als einen Fundus, aus dem es sorglos zu schöpfen galt. Wissend um die der antiken und klassizistischen Architektur zu Grunde liegenden Prinzipien machte er sie fruchtbar für eine neue französische Bauweise, die ihrerseits auf eigenen Traditionen aufbaute. Wie die meisten Baumeister des frühneuzeitlichen Frankreich - die Androuet Du Cerceau oder die Mansart - entstammte Lemercier einer seit Generationen im Bauwesen tätigen Familie. Er selbst war jedoch kein Handwerker mehr, sondern ein gelehrter Architekt im modernen, in Frankreich zuerst von Philibert Delorme formulierten Sinne. [1]

Doch führte wohl gerade diese Gelehrsamkeit dazu, dass Jacques Lemercier nach seinem Tod am 13. Januar 1654 von einem "homme illustre" zu einem "illustre inconnu" wurde - erklärt Alexandre Gady in der ersten Werkmonografie zu dem Architekten (2). Denn Jacques Lemercier war kein exzentrisches Künstlergenie wie François Mansart, und dementsprechend wurde seiner Architektur von den nachfolgenden Generationen stets mangelnde Originalität vorgeworfen. Von Pierre-Jean Mariette über Dézallier d'Argenville und Quatremère de Quincy bis hin zu Henry Lemonnier und Anthony Blunt wurde sein Stil gemeinhin mit Kälte und Steifheit assoziiert. Vor allem aber lässt sich Lemerciers Werk nicht ohne weiteres einordnen in eine genealogische Auffassung der französischen Architektur, der Vorstellung einer Mitte des 16. Jahrhunderts mit Philibert Delorme und Pierre Lescot einsetzenden und im Werk von Ange-Jacques Gabriel ihren Höhepunkt erreichenden Entwicklung, wie sie Jacques-François Blondel hundert Jahre nach Lemerciers Tod begründete. [2] Jacques Lemercier entzieht sich einer Einfügung in diese geradlinige Geschichtskonstruktion, denn seine Modernität durchziehen archaische Momente, die dem Bild von seinem Werk am stärksten anhaften und der Nachwelt ein Indiz für mangelnde Genialität waren. So hat laut Pierre Francastel neben François Mansart und Louis Le Vau zwar auch Jacques Lemercier die französische Klassik vorbereitet, allerdings ohne über deren Genie zu verfügen. Und für Anthony Blunt ist es diesem Architekten nie gelungen, die in Rom erfahrenen Impulse mit der französischen Tradition zu vereinbaren. Diese vermeintliche Diskrepanz von archaischen und modernen Elementen begreift Gady als positive Dualität. Seine sowohl chronologische als auch typologische Untersuchung offenbart Lemerciers virtuosen Umgang mit Stilformen: "Selon l'aspect que l'on voudra éclairer, Lemercier sera donc moderne ou ancien, mais à la vérité il est évidemment les deux [...]" (189). Und es ist gerade dieser Eklektizismus, der Richelieus repräsentativen Anliegen gelegen kam und der Jacques Lemercier zum bevorzugten Architekten des Cardinal-Ministre machte.

Alexandre Gadys Monografie ist ein Werkkatalog angeschlossen. In der Zusammenschau beider Teile entsteht ein präzises Bild von Leben und Werk dieser bislang so vernachlässigten Figur der frühneuzeitlichen Architekturgeschichte. Das vom Autor formulierte Anliegen, eine Grundlage für anknüpfende Studien zu schaffen, muss als voll und ganz erfüllt betrachtet werden. Mehr noch: Dieses Buch wird fortan unumgänglich sein für jeden, der sich mit französischer Architektur beschäftigt. Denn der monografische Ansatz gereicht hier zugleich zur Gelegenheit, einen Blick auf den frühneuzeitlichen Baubetrieb zu werfen, dessen Organisation und Prinzipien verständlich zu machen und berufsgeschichtliche Aspekte zu beleuchten. So gibt es beispielsweise einen Anhang zu dem Unternehmer Jacques Thiriot (um 1590-1647), einer der Hauptfiguren in der Baulandschaft zur Zeit Louis' XIII, der fast alle Baustellen Kardinal Richelieus leitete und mit dem Lemercier seit 1630 enge berufliche Verbindungen unterhielt. Bereits auf der Baustelle des Palais de Luxembourg der Marie de Médicis waren sich die drei Männer begegnet. Bis zu seinem Tod 1627 ist Salomon de Brosse dort der leitende Architekt, danach übernimmt Lemercier die Funktion und steht von nun an als architecte ordinaire des bâtiments du roi in den ersten Reihen der königlichen Baubehörde. Weil Richelieu das gesamte Bauteam des Luxembourg für den Umbau seines Pariser Hôtel, des zukünftigen Palais Cardinal, übernimmt, steht Lemercier ab 1628 auch in seinen Diensten. Von nun an wird er rund fünfzehn Jahre lang beinahe exklusiv für Richelieu arbeiten. In der Forschung hat dies laut Gady dazu geführt, dass Lemercier vor allem als Diener des "homme rouge" betrachtet wurde (4). Dem entgegenwirkend möchte der Autor die künstlerische Leistung losgelöst von ihrer politischen Instrumentalisierung betrachten. Doch stellt sich die Frage nach dem Erkenntnisgewinn einer solchen Ausklammerung. Denn Lemerciers Eklektizismus, den Gady ja als seine Stärke herausstreicht, kam mit dem inhaltlichen Anspruch Richelieus perfekt zur Deckung. Form und Inhalt gingen hier eine untrennbare Synthese ein. Gady selbst beobachtet an Lemerciers Entwurf für Stadt und Schloss Richelieu "une série d'archaïsmes recherchés par Richelieu" (146), doch zieht er keine weiteren Schlüsse daraus. In der heutigen Tourraine besaß Richelieus Familie eine kleine seigneurie von geringer Bedeutung, die durch Richelieus systematische Landerwerbungen und die Erhebung zum Herzogtum durch den König 1631 eine Aufwertung erfuhr. Lemercier war dort nicht nur ab 1631 am Bau des großen Schlosskomplexes beteiligt, sondern errichtete nebenan zugleich eine ganze Stadt ex nihilo. Richelieu war es mit seiner Prachtentfaltung mitten in der Provinz um die Nobilitierung seiner Herkunft zu tun. Seinem Aufstieg aus dem verarmten Landadel in die höchsten Kreise der Aristokratie und Politik sollte der Anstrich der "ancienneté" (269) verliehen werden. Dass Lemerciers Verdienst gerade darin lag, hierfür passende formale Strategien entwickelt zu haben, übersieht der Autor. Im Ausgleich kann er aber einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der Genese der Schlossanlage leisten, indem er mit unveröffentlichten Zeichnungen aus dem Besitz des Musée des Beaux-Arts in Tours aufwartet, die den Herrschaftsbau vor Lemerciers Eingriffen zeigen und damit das bisher allzu vage Bild der von Bauherr und Baumeister vorgefundenen Situation erfreulich präzisieren können.

Kann die künstlerische Leistung im Falle der im Auftrag des Kardinals verwirklichten Projekte auch nicht losgelöst von dessen repräsentativen Anliegen verstanden werden, so erweist es sich bei der Analyse des Gesamtwerks jedoch als sehr ergiebig, den Blick einmal dezidiert an der roten Kardinalsrobe vorbei gleiten zu lassen. Bislang hatte man den Tod Richelieus 1642 mit dem Ende der Karriere Lemerciers gleichgesetzt. Gady setzt stattdessen bereits 1639 einen Einschnitt: Von nun an ist Lemercier nicht mehr nur "l'homme de Richelieu" (55), sondern wird auch von dessen Parteigänger Sublet de Noyers gefördert. Dieser war im September 1638 zum surintendant des Bâtiments du Roi ernannt worden und initiierte die Wiederaufnahme der Arbeiten an der Vervierfachung der Cour Carrée des Louvre, die ab 1639 Lemercier unterstanden. Die Errichtung des Mittelpavillons des Westflügels war der größte Auftrag, den dieser je für die Krone verwirklichte. Gady vermag es nicht nur, die formalen Innovationen zu veranschaulichen, die den Entwurf für den so genannten Pavillon d'Horloge auszeichnen. Er weiß dessen Errichtung auch präzise einzuordnen in die komplizierte Baugeschichte des königlichen Palastes, deren kunsthistorischer Behandlung hiermit ein weiteres Kapitel hinzugefügt wurde. Gady zeigt weiter, dass auch der Tod des Kardinals, das unmittelbar darauf folgende Ableben des Königs sowie die Amtsenthebung Sublet de Noyers keineswegs einen Bruch in Lemerciers Berufsausübung herbeiführten. Nicht nur wurden alle Bauprojekte Richelieus unter Lemerciers Führung weitergeführt, auch unterhielt er während des Interregnums der Anne d'Autriche weiterhin seine zentrale Position im königlichen Bauwesen. Und auch als mit dem Ausbruch der Fronde 1648 der Bau von Val-de-Grâce, der Votivkirche der Königinmutter, den Lemercier nach der Entlassung François Mansarts 1646 weitergeführt hatte, zum Erliegen kam, bedeutet dies im Gegensatz zur bisherigen Annahme keineswegs das Ende seiner Karriere. Gady weiß dem letzten Lebensabschnitt des Architekten einige weitere Projekte zuzuordnen: "Les renseignements épars tirés des anciens auteurs et des archives permettent au contraire de mettre en lumière sept chantiers, dont trois importants." (64) [3] Warum aber Jacques Lemercier trotz seines bis zum Lebensende ungebrochenen beruflichen Erfolges in Armut verstarb, bleibt das Geheimnis des Mannes, den Philippe de Champaigne in einem Porträt aus dem Jahr 1644 als "Mona Lisa architecte" (9) inszenierte und dessen diesbezügliches Schweigen das einzige bleibt, das Alexandre Gady nicht zu durchbrechen vermag.

Anmerkungen:

[1] Lemerciers Bibliothek umfasste mehr als 3.200 religiöse, geschichtliche, literarische, juristische Werke, Reisebeschreibungen, wissenschaftliche und architektonische Abhandlungen, "ce qui en fait de loin la plus grande bibliothèque d'architecte du siècle." (79)

Erstmals in Frankreich forderte Philibert Delorme in seinem 1567 (2. Aufl. 1568, 3. Aufl. 1626, 1648) erschienenen Traktat "Le Premier tome de l'architecture", für den Architekten neben einer praktischen auch eine wissenschaftliche Bildung. Untermauert wird sein progressives Berufsbild am Ende des Traktats von den beiden berühmten allegorischen Darstellungen des guten und des schlechten Architekten.

[2] Vgl. Blondel, Jacques-François : Architecture françoise [...], Paris: 1752-1756, 4 Bde.

[3] Neben den Entwürfen für zwei Kirchen in Paris - Saint-Roch und Saint-Nicolas-du-Chardonnet - ist in dieser letzten Schaffensphase auch noch ein weiterer Einsatz des Architekten am Louvre hervorzuheben, wo er für die Einrichtung des Winterappartements der Königinmutter verantwortlich zeichnet.


Kristina Deutsch

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Empfohlene Zitierweise:

Kristina Deutsch: Rezension von: Alexandre Gady: Jacques Lemercier. Architecte et ingénieur du Roi, Tours: Maison des Sciences de l'Homme 2005
in: KUNSTFORM 7 (2006), Nr. 5,

Rezension von:

Kristina Deutsch
Institut für Kunstgeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster

Redaktionelle Betreuung:

Sigrid Ruby