Rezension

Eric Hazan: Paris. Kein Schritt ist vergebens. Aus dem Französischen von Michael Müller und Karin Uttendörfer, Zürich: Ammann 2006, 631 S., ISBN 3-250-10485-x, 39.90 EUR
Buchcover von Paris
rezensiert von Kristina Deutsch, Institut für Kunstgeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster

Ein Mann, eine Frau, ein Kuss. Sonst nichts. "C'était trop facile, la photo de Doisneau, beaucoup trop à tout le monde," heißt es in einem Roman von Philippe Delerm über Robert Doisneaus berühmte Fotografie aus dem Jahr 1950. Dennoch geht von dem "Kuß vor dem Rathaus" eine Faszination aus, die auch seiner massenhaften Reproduktion standhält. Denn tatsächlich ist da noch viel mehr: "...une table, une chaise de café, l'Hôtel de Ville, la calandre d'une automobile." Es ist "toute une époque", die aus dieser Szene spricht; es ist das Paris der Nachkriegszeit, eine Facette des großen Mythos, der Paris - Massentourismus und Musealisierung zum Trotz - eine ebensolche Magie verleiht wie Doisneaus Fotografie. [1] Und wer durch die Straßen von Paris spaziert, spürt ihn bei jedem Schritt, diesen Mythos, den die Geschichte in die Steine eingeschrieben hat. Sie sind die Zeugen jener sich über Jahrhunderte vollziehenden "Erfindung von Paris", die Eric Hazan in seinem nun in einer deutschen Übersetzung vorliegenden Buch beschreibt. [2] "Kein Schritt ist vergebens" verspricht Hazan darum im Untertitel, der auf ein Zitat aus André Bretons Roman "Nadja" verweist ("Les Pas perdus? Mais il n'y en a pas."). Den Beweis liefert der Autor auf einem rund 600 Seiten andauernden Spaziergang durch die "Geschichte der Stadt Paris", auf dem er "neben der politischen Entwicklung die Architektur und die Kunst, die Technik, die Literatur und die Gesellschaft behandelt" (24). Dabei wird im heutigen Stadtbild die Genese des Mythos Schicht für Schicht sichtbar, bleibt aber letztlich doch - es liegt in der Natur der Sache - unfassbar. Das Phänomen zu erklären ist aber auch nicht Hazans Ziel; es geht ihm darum zu beschreiben, zu erzählen, zu zeigen, während er im Geiste durch die Straßen seiner Stadt flaniert.

Die eigentlich kaum zwischen zwei Buchdeckeln zu bewältigende Materie behandelt Hazan tatsächlich en flanant und vermag sie dennoch anschaulich zu vermitteln. [3] Das liegt in erster Linie an der von ihm gewählten Art der Gliederung: Die Möglichkeiten einer chronologischen oder topografischen Aufteilung verwerfend, findet Hazan in der "Abfolge der Stadtbefestigungen, die vom Zentrum zur Peripherie hin immer weitere Kreise zogen"

(15). ein brauchbares Gerüst für seine Stadtgeschichte. Die unter Philipp II. Augustus um 1200 errichtete Stadtmauer erweiterte König Karl V. auf der rechten Seineseite. Im 16. und 17. Jahrhundert wurden die mittelalterlichen Mauern durch Bastionen verstärkt. Ludwig XIV. ließ dann in den 1670er-Jahren die gesamten Befestigungsmauern schleifen und an ihrer Stelle "rund um die gesamte Stadt einen von Bäumen gesäumten Corso anlegen", der als die boulevards bekannt wurde. (20) "Wie bei einem Baumstamm die Jahresringe sind die Gebiete" innerhalb dieser ersten Umfassungsringe "gleichzeitig", wenn auch nicht "überall mit der gleichen Geschwindigkeit" bebaut worden, woraus sich eine "Reihe von Gemeinsamkeiten" zwischen den Vierteln ergibt, die Hazan als "das Alte Paris" zusammenfasst (17).

Diese quartiers stehen im Mittelpunkt des dem Alten Paris gewidmeten Kapitels, dem der Autor die nur scheinbar einfache Frage nach der Bestimmung ihrer Grenzen voranstellt. "Der Zuschnitt durch die Stadtverwaltung - achtzig Quartiers, also je vier in den zwanzig Arrondissements - liefert zunächst nur eine Antwort ex negativo: Eine [...] dermaßen schematische Aufteilung ergibt nur für das Finanzamt und die Polizei einen Sinn. [...] Denn der Begriff ‚Quartier' bezeichnet [...] keineswegs immer etwas Homogenes und Vergleichbares" (13-14). Die Grenzen zwischen den Quartiers können durchaus sehr klar verlaufen und sogar von Monumenten markiert sein: "Wer das Standbild Dantons hinter sich läßt und an der großen Mauer hinter der Ecole de médecine entlanggeht, weiß, daß er Saint-Germain-des-Prés verläßt und das Quartier Latin betritt" (9). In anderen Fällen sind die Übergänge jedoch fließend oder ganz und gar unbestimmbar, sodass dadurch zuweilen "die Identität des Quartiers selbst infrage" gestellt wird (12). So mag Montmartre durch "die Grenzen des gleichnamigen Dorfes vor seiner Eingemeindung" historisch klar definiert sein, doch spricht die topografische Situation dafür, den Übergang sehr viel weiter südlich zu suchen. Walter Benjamin, den Hazan als den "unübertroffenen Wanderer in der Stadt" (13) zitiert, bemerkte einst über die Wahrnehmung des vom Zentrum nach Norden Flanierenden: "Er steht vor Notre Dame de Lorette und seine Sohlen erinnern: hier ist die Stelle, wo man ehemals das Zusatzpferd - das cheval de renfort - vor den Omnibus schirrte, der die rue des Martyrs nach Montmartre hinaufstieg." [4] Beginnt Montmartre also bereits jenseits der Grands Boulevards im neunten Arrondissement? Eine verbindliche Antwort gibt es nicht, kann es nicht geben, denn die Stadt ist im immer währenden Wandel.

Wiederholt begegnen wir Walter Benjamin in Hazans Paris, vor allem im Quartier de la Bourse zwischen dem Palais Royal und den Boulevards, wo er in der Salle Labrouste der Bibliothèque Nationale seine einzige wirkliche Pariser Wohnung fand. Nicht weit von hier befinden sich jene Passagen, von denen Benjamin in seinem Aufsatz "Paris, die Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts" von 1935 schrieb. Als Grund für diese Mode der Geschäftspassagen nennt Hazan die Möglichkeit den berüchtigten Ärgernissen zu entkommen, mit denen der Fußgänger im Paris des 19. Jahrhunderts zu kämpfen hatte und die Charles Baudelaire in einem Gedicht beschrieb: "Tout à l'heure, comme je traversais le boulevard, en grande hâte, et que je sautillais dans la boue, à travers ce chaos mouvant où la mort arrive au galop de tous les côtés à la fois..." [5]

Zwischen den Boulevards und der Zollmauer der Generalpächter, die Claude-Nicolas Ledoux in den 1780er-Jahren errichtete, bildete sich aus den einstigen Vorstädten allmählich der "erste Ring des Neuen Paris" (184). Im typischen Fall entwickelten sich diese Viertel über Jahrhunderte entlang der ländlichen Ausfallstraßen, die in ihrer "prägenden und strukturierenden Funktion" einen faubourg ausmachen. (218) "Im Norden und Osten bildeten die alten einfachen und vom Handwerk geprägten Vororte seit langem einen festen Gürtel um die Stadt", während es dagegen im Westen nur eine einzige Ausfallstraße gab, "die den Namen Faubourg trug: die rue du Faubourg Saint-Honoré." (184) Und bereits im 17. Jahrhundert, als "die Champs-Elysées kaum mehr als namenlose, sumpfige Wiesen" waren, (188) entwickelte sich der Faubourg Saint-Antoine zu einem Zentrum des Handwerks. Dort betrieben die berühmten Ebenisten des 18. Jahrhunderts ihre Werkstätten, und noch heute finden sich viele Möbelschreiner, aber auch weniger charismatische Möbelläden, in der Gegend hinter der Bastille-Oper. Wer die Rue du Faubourg Saint-Antoine entlang geht, übersieht dabei leicht jene manchmal sogar verschlossenen Tore zu den Höfen, Sackgassen und Passagen, in denen Hazan im Rekurs auf Marcel Duchamp "neue Dosen mit Pariser Luft" füllen würde: Hinter den quietschbunten Ladenfronten entfalten sich zuweilen wie ein geheimes Labyrinth jene "Höfe, die sich Graphikdesigner und Informatiker, chinesische Handwerker und Fotografen teilen", woraus "dieses einzigartige Gemenge" resultiert, in dem das Viertel seinen "volkstümlichen und gewerblichen Charakter" bewahrt (197).

In einem weiteren Kapitel zum "Neuen Paris" widmet Hazan sich den Dörfern, deren Eingemeindung auf den neuen Befestigungsring folgte, den Ministerpräsident Adolphe Thiers zwischen 1840 und 1843 errichten ließ. Sein Verlauf entspricht dem der heutigen Boulevards des Maréchaux. Ihren "ländlichen Ursprung" mit einer "industriellen Entwicklung" verbindend, haben einige dieser vormals selbstständigen Gemeinden, wie Montmartre oder Belleville, "immer eine gewisse Distanz zur Stadt" beibehalten (280). Neben dem hieraus resultierenden "ganz besonderen Charme" des dörflichen Paris beschäftigt Hazan auch die Rolle Bellevilles während der commune. Sowohl hier, als auch in den Faubourgs du Temple und Saint-Antoine und dem dazwischen liegenden Quartier Popincourt "ballten" sich im 19. Jahrhundert "die proletarischen Unterschichten" und ließen diese Viertel im Pariser Nordosten zu den Schauplätzen des "Roten Paris" werden (205). Dessen Geschichte erzählt Hazan ausgehend von der Kommune 1871 bis hin zum Mai 1968 im zweiten Teil seines Buches.

Im dritten und letzten Teil geht es um das Paris der Flaneure und schließlich um das der Maler und Fotografen, deren Bilder - wie Doisneaus "Kuß vor dem Rathaus" - einen so wichtigen Anteil an der "Erfindung von Paris" hatten. [6] Letztere ebenso aufschlussreich wie unterhaltsam nachvollziehbar gemacht zu haben, ist das Verdienst Eric Hazans, der ein Buch vorgelegt hat, in dem wahrlich keine Seite vergebens ist.


Anmerkungen:

[1] Robert Doisneau, "Le Baiser de l'Hôtel de Ville", 1950; Philippe Delerm: Les amoureux de l'Hôtel de Ville, Paris: Éditions du Rocher, 2. Aufl. 2001 [1993], 12.

[2] Die Übersetzung besorgten Michael Müller und Karin Uttendörfer; die französische Ausgabe (L'invention de Paris) ist 2002 in Paris (Éditions du Seuil) erschienen.

[3] Trotz aller Anschaulichkeit empfiehlt sich bei der Lektüre einen aktuellen Stadtplan zu konsultieren. Auch der gelegentliche Blick auf historische Stadtpläne, wie sie Pierre Pinon (Les Plans de Paris. Histoire d'une capitale, Paris: Le Paysage 2004) publizierte, ist zuweilen hilfreich. Hazans Buch selbst ist immerhin an entscheidenden Stellen mit handgezeichneten Plänen einzelner Straßenzüge illustriert, die deren vergangene Anordnung skizzieren.

[4] Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 524, zit. nach Hazan 2006, 13.

[5] Baudelaires Zeilen aus dem Gedicht "Perte d'auréole" zitiere ich nach der französischen Version von Hazans Buch, weil die deutsche Übersetzung leider Baudelaires Verweis auf den berühmten Pariser Schlamm einfach auslässt und sich auf das "bewegte Chaos" der Straßen beschränkt.Vgl. Hazan 2002, 58 und Hazan 2006, 60.

[6] Der "Kuß vor dem Rathaus" selbst spielt bei Hazan keine Rolle, der stattdessen andere Beispiele zitiert, die von der Bedeutung der Fotografie für den Mythos von Paris zeugen, wie etwa Doisneaus Aufnahme des nächtlichen Treibens auf dem Plateau Beaubourg, einem Ableger von Les Halles. Eine besondere Stelle des Buches ist jene, wo der Autor darauf hinweist, dass der auf einer Fotografie Eugène Atgets verewigte Kalvarienberg noch immer im Quartier L'Evangile, gelegen zwischen den Gleisen des Gare du Nord und des Gare de l'Est, zu finden ist , 14-15.


Kristina Deutsch

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Kristina Deutsch: Rezension von: Eric Hazan: Paris. Kein Schritt ist vergebens. Aus dem Französischen von Michael Müller und Karin Uttendörfer, Zürich: Ammann 2006
in: KUNSTFORM 7 (2006), Nr. 12,

Rezension von:

Kristina Deutsch
Institut für Kunstgeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster

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Sigrid Ruby