Rezension

Hans Veigl: Der Friedhof zu St. Marx. Eine letzte biedermeierliche Begräbnisstätte in Wien. Mit Fotos von Lisl Waltner, Wien: Böhlau 2006, 203 S., ISBN 3-205-77389-6, 24.90 EUR
Buchcover von Der Friedhof zu St. Marx
rezensiert von Thomas Blisniewski, Institut für Kunst und Kunsttheorie, Universität zu Köln

Spätestens seit Philippe Ariès' großartigem Buch "L'Homme devant la mort" von 1977, dessen deutsche Übersetzung 1980 unter dem Titel "Geschichte des Todes" erschien [1], sind Sterben, Tod und Trauer wieder verstärkt zum Forschungsgegenstand geworden. Hans Veigl legt mit seinem Buch eine Monografie über den Friedhof zu St. Marx in Wien vor, auf dem seit 1784 bis zur Eröffnung des Wiener Zentralfriedhofes 1874, Tote bestattet wurden.

Friedhofsforschung ist stets aufs Engste mit lokalhistorischen Gegebenheiten (z.B. rechtliche Bestimmungen, topografische Verhältnisse usw.) gekoppelt, die jeweils berücksichtigt werden müssen. So widmet Veigl das erste von fünf Kapiteln seines Buches folgerichtig einer "Reise durch das biedermeierliche Wien". Mit Akribie und Fleiß hat der Autor Zitate, beginnend mit Friedrich Nicolai, der 1781 Wien besuchte (7), zusammengestellt. Dutzende Namen bedeutender und weniger bedeutender Dichter und Denker, die mehr oder weniger mit Wien in Verbindung standen, werden genannt. Es wirkt, als habe sich der Autor nicht entscheiden können, auch nur einen Namen zu opfern. So aber opfert er seiner Sammelleidenschaft die Struktur des Werkes.

Die direkten und indirekten Zitate werden nicht in Anmerkungen nachgewiesen, doch findet sich die zitierte Literatur in einem Verzeichnis. Die Regeln aber, nach denen Veigl die Genannten im Literaturverzeichnis aufführt, bleiben undurchsichtig. Seume etwa, der wiederholt erwähnt wird (3, 31, 39, 167) findet sich nicht, und die Erwähnung auf Seite 3 fehlt wiederum im verdienstvollen Personenregister. Es wäre die Aufgabe eines verantwortungsvollen Lektorates gewesen, bei Struktur und formalen Unzulänglichkeiten einzugreifen. So ist auch Wilhelm von Humboldt (9) in der Literaturliste nicht auffindbar, und auch der Soziologe und Philosoph Maurice Halbwachs (79) fehlt.

Wer in dieser "Reise" schnell an das Friedhofsziel gelangen möchte, muss sich bis Seite 17 gedulden, wo zum ersten Mal ein Bezug zu Vergänglichkeit und Tod hergestellt wird. Zuvor erfährt der Leser viel Wissenswertes über Wiener Essgewohnheiten (7-8). Wie selbstverständlich folgen Ausführungen über die Wiener Kaffeehauskultur (14 ff.), der ein paar Bemerkungen zu den napoleonischen Kriegen vorangingen. Erweitert wird diese bunte Kulturgeschichte Wiens mit Ausführungen über die wirtschaftlichen Verhältnisse im frühen 19. Jahrhundert, wobei der Leser erfährt, dass der Fleischverbrauch in Wien "vier- bis achtmal höher lag als im übrigen Land" (20), und er fragt sich, was dies alles mit einem Buch über den letzten erhaltenen Biedermeierfriedhof Wiens zu tun hat, zumal eine Verbindung zur Sepulkralkultur nicht hergestellt wird. Dafür weist der Autor auf das "ausufernde Kunsthandwerk" hin und berichtet von der Produktion von "Glückwunschkarten in all ihren verschiedenen Formen" (21) - über Bildhauer aber, die auf dem Friedhof gearbeitet haben, verliert Veigl hingegen kein Wort.

Mittlerweile durfte der Leser sich an schönen, braunen Duoton-Fotografien erfreuen, die Lisl Waltner aufgenommen hat. Leider werden die Fotos nicht beschriftet, was sich, zugegeben, manchmal erübrigt, da die Namen der Beigesetzten oft lesbar sind.

Zensur (32 ff.), Theater (36), nochmals Kaffeehäuser (38-39) und Wiener Musikleben (40) erweitern das Kapitel, das zudem noch die Beerdigungen Beethovens und Schuberts schildert - allerdings mehr von der kulinarischen Seite (45).

Veigl vergibt die Chance, ein umfassendes Bild des biedermeierlichen Wien zu zeichnen. Stattdessen verliert er sich in der Fülle des Materials, das wildwüchsig zwischen politischen Wertungen und Anekdoten oszilliert. An Wertungen ist der Text reich: Seume ist ein "nörgelnde(r) Sachse" (7), und ob der Autor Karl Marx gerecht wird, wenn er - rhetorisch durchaus geschickt - schreibt: "der Vollbart ist das Erkennungszeichen des Demagogen" (24) und im nächsten Satz den "vollbärtigen Mann", nämlich Karl Marx, erwähnt, ist fraglich. Zudem mögen "die Gefühlsduselei der romantischen Oper, Wagners deutschtümelndes Gesamtkunstwerk" (37) als Belege solch misslungener Wertungen dienen.

Das zweite Kapitel "Der Tod der Friedhöfe" bietet eine komprimierte Geschichte des abendländischen Bestattungswesens, wobei richtigerweise das christliche Bestatten seit dem frühen Mittelalter im Vordergrund steht (57 ff.). Allerdings bemüht sich der Autor nicht um terminologische Genauigkeit, wie sie das Thema gebietet. Kirchhöfe, die um Kirchen gelegenen innerstädtischen Begräbnisstätten, werden von Veigl als Friedhöfe bezeichnet (z.B. 57). Die Neuerung, die durch Joseph II. und seine Bestattungsreform ausgelöst wird, dass nämlich die Toten vor den Städten begraben werden, mithin das Entstehen der Friedhöfe allerorten, wird so begrifflich nicht fassbar.

Im folgenden Kapitel "Ein Freythof außer der Linie" ist auch dem Friedhof zu St. Marx gewidmet. Nun endlich auf Seite 67 erfährt der Leser die Belegungsdauer des Friedhofs (bis 1874). Aber schon am Ende der Seite schwenkt Veigl zur sozialen Situation der Studenten zu Beginn des 19. Jahrhunderts über (67-68), um dann Wiens Juden zu erwähnen. Das wäre der Ort gewesen, um den zweiten erhaltenen biedermeierlichen Friedhof von Wien, den ebenfalls 1784 eröffneten und bis 1880 belegten, Währinger jüdischen Friedhof zu erwähnen, der gleichsam das jüdische Pendant zum Friedhof zu St. Marx ist. [3] Dass getaufte Juden ab 1835 auch auf den christlichen Friedhöfen beigesetzt werden durften, findet der Leser erst sehr viel später (78).

Spätestens jetzt fragt sich der Leser: Welche Zielgruppe hatte Veigl als Lesende vor Augen? Dass er in leichtem Plauderton schreibt, den er perfekt beherrscht, ist kein Mangel. Dass sich das Buch wohl nicht an den Historiker oder Kunsthistoriker wendet, ist auch kein Fehler. Dass der Autor aber unstrukturiert und zum Teil auch redundant arbeitet, ist ein übergroßer Mangel dieses schön gestalteten Buches, das so nun auch als Coffee-Table-Book kaum (be-)nutzbar ist.

Der Hauptteil des Bandes ist den "Erinnerungen an die stillen Bewohnern" gewidmet. Veigl zählt nun so ziemlich alle Bestatteten auf, über die er etwas in Erfahrung bringen konnte. Mal sind es ein oder zwei Sätze, mal einige Seiten, die über die Beerdigten berichten. Deren Grabsteine allerdings werden nur marginal beschrieben, wobei dem Autor vermeidbare Ungenauigkeiten unterlaufen. So wird der Schmetterling als Grabessymbol bei ihm zu einem "Symbol des rasch dahineilenden Lebens" (129). Das mag so sein, doch ist der Schmetterling, griechisch Psyche genannt, vor allem ein Symbol für die unsterbliche Seele des Menschen, was in der Stadt Sigmund Freuds doch bekannt sein müsste. Lessings epochale Schrift: "Wie die Alten den Tod gebildet: eine Untersuchung" von 1769, die sich wie keine zweite Abhandlung im 18. und 19. Jahrhundert auf die Bestattungskultur ausgewirkt hat, wird von Veigl mutig ignoriert.

Ob Friedrich Wilhelm Otto Ludwig Freiherr von Reden (1804-1857) wirklich erwähnenswert ist (93), nur weil er ein Enkel des Freiherrn von Knigge war? Spannender ist da schon Johann Adam Freiherr Wetzlar von Plankenstern (1771-1866), der aus jüdischem, geadelten Hause stammte (127 ff.). Dieser Oberleutnant entdeckte seine Liebe zu den Türken, richtete sein Haus türkisch ein und trat zum Islam über, was sein Sohn ihm gleichtat, der als "Sabit-Bey" im heutigen Albanien als "kaiserlich-türkischer Major" verstarb (129). Auch die Geschichte der berühmten Bugholzmöbelhersteller Thonet, die aus dem Rheinland eingewandert waren, wird ausführlich berichtet (94-96). Dies soll an Beispielen genügen, denn die allermeisten Erwähnten, Kaffeehaus- und Brauereibesitzer, Offiziere und auch Totengräber sind eher Personen der Wiener Lokalgeschichte. Zudem sind die meisten "berühmten" Toten auf den Zentralfriedhof übergeführt worden.

Das letzte Kapitel des Buches (157 ff.) ist schließlich dem Grabe Mozarts gewidmet, das sich einst auch auf dem Friedhof zu St. Marx befand ("Auf der Suche nach Mozarts Grab"). Veigl versteht es, dessen verwickelte Geschichte in zahllose große und kleine Exkurse einzubauen. Letztlich ist aber die Frage nach Mozarts Grab ein eigenes Thema.

Das Buch wird durch ein Literaturverzeichnis, einen Lageplan und ein (fehlerhaftes) ausführliches Personenregister ergänzt. Als Reiseführer vor Ort ist es allerdings ungeeignet, denn dafür ist der Plan viel zu klein und das Auffinden der Personen zu umständlich.

Der Autor wendet sich wohl vor allem an den Wiener mit Lokalpatriotismus. Daraus erklärt sich auch, dass Zagreb wieder zu Agram wird (94), und der Autor mit keinem Wort erwähnt, dass "St. Marx" eine Variante von "St. Markus" ist, dem zuerst eine Kapelle geweiht war. Ende des 14. Jahrhunderts kam dann das "Bürgerspital zu St. Marks" hinzu. [2] Dies sind historische Hintergründe, die der Leser von einem Buch über den Friedhof zu St. Marx mit Recht erwarten darf. Schließlich werden aus dieser lokalen Sichtweise auch die unerfreulichen, antideutschen Töne verständlich, die der Autor immer wieder anschlägt (etwa 11). Alles in allem hat Veigl die Möglichkeit versäumt, dem Friedhof eine Monografie zu widmen, die Bestand hat.


Anmerkungen:

[1] Ariès, Philippe: Geschichte des Todes. München, Wien 1980.

[2] http://www.bezirksmuseum.at/Landstrasse/page.asp/1331.htm (20.11.06)

[3] http://www.david.juden.at/kulturzeitschrift/66-70/69-walzer.htm (20.11.06)


Thomas Blisniewski

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Empfohlene Zitierweise:

Thomas Blisniewski: Rezension von: Hans Veigl: Der Friedhof zu St. Marx. Eine letzte biedermeierliche Begräbnisstätte in Wien. Mit Fotos von Lisl Waltner, Wien: Böhlau 2006
in: KUNSTFORM 7 (2006), Nr. 12,

Rezension von:

Thomas Blisniewski
Institut für Kunst und Kunsttheorie, Universität zu Köln

Redaktionelle Betreuung:

Ekaterini Kepetzis