Rezension

Susanne Wittekind: Altar - Reliquiar - Retabel. Kunst und Liturgie bei Wibald von Stablo, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003,
Buchcover von Altar - Reliquiar - Retabel
rezensiert von Kristin Marek, Kunstgeschichtliches Institut, Ruhr-Universität, Bochum

Susanne Wittekind legt mit der umfassenden Studie zum Stabloer Ensemble liturgischer Kunstwerke aus der Zeit des Abbatiats Wibald von Stablos (1130-58) eine Arbeit von grundlegender Bedeutung für die kunsthistorische Forschung vor. Sie verbindet Kunst- mit Mentalitätsgeschichte, Frömmigkeits-, Liturgie- und Bildgeschichte und wird damit nicht allein für Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker, sondern auch über das Fach hinaus von großem inhaltlichen wie methodischen Gewinn sein. Der beeindruckende Kenntnis- und Informationsreichtum sowie eine klare Gliederung und stringente Argumentation machen die Lektüre zum anregenden Lesevergnügen. Einem umfassenden methodischen Teil folgen Kapitel mit detailreichen Einzeluntersuchungen des Stabloer Tragaltars (Brüssel, Musées Royaux d'Art et Histoire), des Alexanderreliquiars (Brüssel, Musées Royaux d'Art et Histoire) und des Remaklusretabels (seine Fragmente sind auf das Kunstgewerbemuseum in Berlin, das Museum für Kunsthandwerk in Frankfurt / Main und St. Sebastian in Stablo verteilt), die in ein Schlusskapitel münden, das diese Arbeiten in Zusammenhang mit der Person Wibald von Stablos umfassend würdigt.

Wibald von Stablo (1098-1158), Reichsabt von Stablo-Malmédy und Corvey, dessen einflussreiches politisches Leben und Wirken als enger Berater König Konrads II. und Kaiser Friedrich Barbarossas umfassend erforscht ist, wird hier erstmals als Stifter bedeutender Kunstwerke gewürdigt, was das gängige Wibald-Bild um eine wichtige Facette ergänzt. Gleich Abt Suger von Saint-Denis (1081-1151), dessen Mäzenatentum geradezu ein Paradigma der Forschung bildet, war Wibald nicht allein hoch gebildeter, mächtiger Reichs- und Kirchenpolitiker, Königsberater und Staatsmann, sondern hat sich insbesondere immer auch als Förderer und Stifter von Kunst gezeigt. Im Anschluss an die jüngere biografische Wibald-Forschung kann dies allerdings nicht losgelöst von einer umfassenden Würdigung seines innerkirchlichen Engagements, seiner politischen und geistlichen Sorge um seine Klöster sowie der theologischen Stellungnahmen und Positionierungen geschehen. An Wibald zeigt sich ein grundlegender Zug des mittelalterlichen Mäzens, nicht allein Käufer der in Auftrag gegebenen Werke gewesen zu sein, sondern ihre Konzipierung und Gestaltung wesentlich mitbestimmt zu haben. Sein Anteil am Kunstwerk darf nicht auf die Auftragsinitiative mit der etwaigen Wahl des Objekts und Bezahlung des Künstlers reduziert werden, denn oftmals wurde dem ausführenden Künstler bereits ein konkreter Entwurf zur Ausarbeitung vorgelegt, welcher Form, Konzeption und Inhalt des Gegenstandes bereits umfasste. Darum fragt die Autorin dezidiert nach der Bedeutung der einzelnen Werke und der historischen Einbindung ihrer Bildprogramme nicht allein vor dem Hintergrund ihrer Verwendung, sondern auch der Entstehungssituation und der Intention des Auftraggebers. Die besprochenen Werke sind nicht allein Ausdruck einer allgemeinen Kunstauffassung und Religiosität, sondern lassen darüber hinaus den Rückschluss auf die Motivationen Wibalds zu.

So überschneidet sich im Alexanderreliquiar (Maasland, 1145) seine Funktion als liturgischer Gegenstand mit der Vermittlung von durchaus pädagogischen theologischen Positionen Wibalds. In diesem doppelt "redenden" Reliquiar, dessen Kopfform auf die laut Translationsbericht enthaltene Kopfreliquie Alexanders und dessen altarförmiger Sockel auf Partikel des Abendmahlstisches verweisen, verbinden sich die ikonologische Bedeutung von römisch-antikischem Büstentypus und Sockel mit den theologischen Bildkommentaren der Sockelzone. Diese binden das Reliquiar einerseits konkret an bestimmte Festliturgien (wie die Allerheiligen- und Pfingstliturgie, das Alexanderfest und die öffentliche Translation der Reliquien während der Liturgie des 'triduum sanctum') an, lassen sich jedoch zudem als kontextabhängige theologische Stellungnahmen Wibalds allgemeinerer Art lesen, wie etwa den Heiligen als Idealtypus des Geistlichen aufzufassen. Am Sockel wird der heilige Alexander zusammen mit dem heiligen Theodolus und dem heiligen Eventius gezeigt, wobei nicht die Martyrien der drei als Gemeinsamkeit herausgestellt werden, sondern, durch entsprechende Bekleidung und Insignien, deren geistliche Ämter und damit der Heilige als Prototyp des geistlichen Amtsträgers. Darin fügt sich auch die Gestaltung des Kopfes ein, die auf die unmittelbare Betonung seines Papstamtes verzichtet zu Gunsten einer allgemeineren Darstellung als tugendhaftem Kleriker. Mit runder Tonsur und gleichmäßigem Haarkranz, der Krone des Geistlichen und Zeichen der Eintracht seiner Tugenden, oder etwa seiner Jugend, deutbar als Zeichen der Demut und der Hoffnung eines Knaben, entspricht die Büstengestalt ganz dessen Idealtypus. Allein die Verbindung von einer Büste mit einem altarförmigen Sockel kann wiederum als Verweis auf die christiformitas des heiligen Alexanders gelten, welche dieser als Papst und Stellvertreter Christi und Haupt der Kirche besonders zu versinnbildlichen prädestiniert war. Die Autorin zeigt an ein und demselben Reliquiar entsprechend seiner Verwendung und jeweiligen liturgischen Einbindung verschiedene Facetten seines vielschichtigen Interpretationshorizonts: Alexander als Papst dient im Rahmen des vorösterlichen 'triduum sanctum' als Beispiel für die theologisch-heilsgeschichtlichen Grundlagen der Heiligenverehrung; am Alexanderfesttag für einen ethisch orientierten Erkenntnisaufstiegsweg und als allgemeines Vorbild eines Geistlichen; eingebunden in die Pfingstliturgie wiederum als Verweis auf die Grundlagen des menschlichen Erkenntnisstrebens. "Vollzug der Liturgie und ihre Reflexion fallen örtlich und zeitlich zusammen. Das Bildwerk überwindet damit die Trennung zwischen theologischer Reflexion einerseits und liturgischem Handeln andererseits" (222), so Wittekind, die zudem eindrücklich aufzuzeigen vermag, dass Bildformen der gesteigerten vergegenwärtigenden Präsenz, wie ein Kopfreliquiar, durchaus mit komplexen theologisch-intellektuellen Reflexionen gekoppelt sein können, sie schließen einander nicht notwendig aus. Das überaus kostbar ausgestattete Alexanderreliquiar wurde im performativen Akt seiner Verwendung ebenso dem Schaubedürfnis der Laien gerecht wie der theologischen Bildung seiner geistlichen Betrachter.

Die vorliegende Arbeit lässt sich darum gleichermaßen als kunst- und mentalitätshistorische Studie zum liturgischen Gerät und der Kunst des Mittelalters wie auch als kulturhistorischer Beitrag zur Wibald-Historiografie und allgemeiner noch zur mediävistischen Stifterforschung lesen. An der Person Wibald wird deutlich, wie allgemein zirkulierende zeitgenössische Diskurse ihren konkreten Niederschlag fanden. Dieses Vorgehen bietet sich an, da die behandelten liturgischen Kunstwerke von einem hochgebildeten, mit den aktuellsten theologischen Debatten vertrauten Kleriker in Auftrag gegeben und von eben solchen verwendet wurden. Wibald weiß um strittige Fragen wie die Sakramentsdebatte, die verschiedenen Liturgiekommentare oder die diversen Theorien zur Heiligenverehrung und Bildverwendung, als er die Geräte anfertigen lässt. Diese wiederum sind, wie Wittekind anhand der guten Quellenlage belegt, beredte Belege für Wibalds persönliche Positionen etwa in der Kirchenreformbewegung oder seiner Kenntnis zeitgenössischer theologischer Diskurse wie der erkenntnistheoretisch ausgerichteten Schule von St. Viktor. Andererseits waren die behandelten Gegenstände nicht exklusiv für Wibald, sondern für den tatsächlichen liturgischen Gebrauch im Kloster bestimmt und standen somit im rituellen Rezeptionszusammenhang der öffentlichen Liturgie. Hier überschneiden sich unterschiedliche Rezipientenebenen, die es zu unterscheiden gilt. Die Kunstwerke haben insofern eine wichtige Mittlerfunktion zwischen Wibald und Konvent sowie Kloster und Öffentlichkeit, sie sind spezifische Medien der Kommunikation. In ihnen werden aktuelle Themen wie Liturgieauslegung, Exegese und Fragen der Eucharistie wie Memoria verhandelt. In Wibald findet sich, ganz entsprechend zu Suger von Saint-Denis, ein hoch gestellter Kleriker, welcher für die geistliche Führung der Menschen hin zu Gott wesentlich auf die bildliche Darstellung vertraut, für den Kunstwerke eigenständige und wichtige Medien der religiösen Erziehung sind.

Wittekinds Arbeit ist ein wichtiger Beitrag zur kunsthistorischen Mäzenatenforschung des Mittelalters. Insbesondere die Darstellung des komplexen In- und Miteinanders von geistlicher und profaner Lebenswelt, von theologischen Vorstellungen, rituellen Handlungen und unterschiedlichen Rezeptionsebenen, wie sie die Autorin herausstellt, bietet innovatives Potenzial für folgende Forschungen. Damit ergänzt Wittenkind sinnvoll die einstmals dominierenden stilistischen und ikonografischen Ansätze der Kunstgeschichte. Insbesondere der Import von mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen und Herangehensweisen ist, wie gerade auch diese Studie zeigt, für die kunsthistorische Forschung von großer Produktivität. Für die deutsche Geschichtswissenschaft hat sich Ulrich Raulff um deren Rezeption verdient gemacht, für die Kunstgeschichte gibt es auf diesem Gebiet noch viel zu holen.


Kristin Marek

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Kristin Marek: Rezension von: Susanne Wittekind: Altar - Reliquiar - Retabel. Kunst und Liturgie bei Wibald von Stablo, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003
in: KUNSTFORM 6 (2005), Nr. 7,

Rezension von:

Kristin Marek
Kunstgeschichtliches Institut, Ruhr-Universität, Bochum

Redaktionelle Betreuung:

Ulrich Fürst