Rezension

Marc Steinmann: Die Westfassade des Kölner Domes. Der mittelalterliche Fassadenplan F, Köln: Verlag Kölner Dom 2004,
Buchcover von Die Westfassade des Kölner Domes
rezensiert von Norbert Nußbaum, Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln

Das hier vorzustellende Buch führt die Westfassade des Kölner Domes im Haupttitel, den Fassadenplan F im Untertitel. Tatsächlich aber ist es eine Monografie zum Plan. Dessen Relevanz für die Ausführung der Fassade wird nur in einem der neun Hauptkapitel erörtert.

Dem Buch liegt die Bonner Dissertation des Autors von 1999 zu Grunde. Literatur der Jahre danach ist nicht berücksichtigt. Dies ist bei einem Thema, das so zentral im Diskurs der Gotik-Forschung platziert ist, nicht unproblematisch, denn in manchen Belangen - so zu den Fragen von Planentwurf und Funktionalität der großformatigen Pergamentrisse - greift diese Veröffentlichung spät in die Debatte ein. Dennoch liegt ein wichtiger und inhaltsreicher Beitrag zur Architektur der Zeit um 1300 vor.

Marc Steinmann rekapituliert akribisch die verworrene Überlieferungsgeschichte dieses größten überkommenen Werkrisses der Gotik, untersucht den Plan quellenkritisch und interpretiert ihn nach gründlicher Autopsie als von nur einer Hand gezeichneten Gesamtplan, der vorausgehende Planungsstufen zusammenfasst, um eine vollständige Repräsentation der Gesamtfassade zu erzielen. Alle erkennbaren Blindrillen sind nur Zeichenhilfen, nicht etwa Konstruktionslinien. Das Pergament gibt also keine Information preis über das Entwerfen mit Proportionsfiguren oder anderen geometrischen Verfahren. Ebendies mag die Deutung des Planes F als Endredaktion älterer Entwürfe bekräftigen, doch bleibt rätselhaft, dass auch die anderen für Köln erhaltenen Risse, von denen Steinmann die so genannten "E-Risse" anders als Arnold Wolff im Vorfeld des Fassadenrisses F ansiedelt, keine konzisen Hinweise auf die Anwendung geometrischer Entwurfsfiguren erkennen lassen. Robert Borks Forschungen der letzten Jahre zu den Turm- und Fassadenrissen für das Straßburger Münster, den Wiener Stephansdom und auch den Kölner Dom versuchen ebensolche Verfahren zu belegen und nachzuvollziehen. Hier bahnt sich eine Wiederaufnahme der kaum jemals wirklich abgebrochenen Kontroverse über die Prinzipien und Praktiken gotischer Baugeometrie an, deren Ausgang weiter offen scheint, zumal Steinmann das Thema eigentlich nur streift. Ihm geht es weniger um die Rekapitulation von Entwurfsstrategien als um eine stilhistorische Untersuchung des Fassadenplans im Geiste kunsthistorischer Werkanalyse. Es wäre zu prüfen, ob beide Perspektiven nicht enger zusammengeführt werden müssen.

Steinmanns Charakterisierung des Kölner Fassadenstils als homogenisierende Blendmaßwerkfolie, die in den freistehenden Schleiermaßwerken und Formkontrasten der Straßburger Münsterfassade exponierte Antipoden hat, ist keineswegs neu, doch tut dies ihrer Gültigkeit keinen Abbruch. Beide Konzepte haben ein hohes Innovationspotenzial, und namentlich die Suche nach Vorläufern des Kölner Fassadenstils gestaltet sich schwierig. Steinmann versucht einen assoziativen Vergleich mit den mehr und mehr von Maßwerk überzogenen "Reverswänden" der Querhäuser in Paris, Amiens, Meaux, Rouen, Sées und Carcassonne und sieht den Kölner Plan als Transfer einer solchen Innenfassade auf den Außenbau (68). Dieses Erklärungsmodell hat seine Grenzen. Während die "Reverswände" plane Flächen bieten, ist die Kölner Fassade mit ihren Turmmassiven, tief einschneidenden Portaltrichtern und mannigfachen Reliefebenen ein komplexes dreidimensionales Gebilde, an dem Maßwerk nicht als geschossgliedernder Apparat, sondern als anpassungsfähige Hülle erscheint, die Körperformen und Höhlungen absichtsvoll konturiert, akzentuiert oder durch Überspielen umdeutet. Ein Dekor, der im Planwerk "vordergründig" Ordnung schafft, offenbart sich am Bau als Movens architektonischer Dynamik. Steinmanns erkenntnisleitendes Interesse gilt indessen der Zeichnung.

Im Zentrum aller Bemühungen steht die Datierung des Planes F und seine Zuschreibung. Galt bisher seine Entstehung im ersten oder zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts als wahrscheinlich, so gilt Steinmann das Jahr 1283 als 'terminus ante quem'. Die Prämissen für diese Frühdatierung sind ebenso klar wie anfechtbar: Maßwerke des Mittel- und Oberrheins (Mainz, Oppenheim), Hessens (Wetzlar, Marburg) und des Ostens (Prenzlau), deren Bildungen sich auf Plan F wieder finden, werden gemäß einer unausgesprochenen zentrifugalen Stilentelechie als Derivate der Kölner Hütte oder zumindest als Werke angesprochen, die in irgendeiner Form mit Köln in unmittelbarer Verbindung stehen. Besonderes Augenmerk widmet der Autor dem Westfenster der Marburger Elisabethkirche, dessen Ähnlichkeit mit den Lanzettordnungen des großen Westfensters von Plan F bereits ausgiebig Anlass dazu gegeben hat, über den Bezug zu Köln nachzudenken. Das Fenster der Elisabethkirche wurde zuletzt von Matthias Müller vor das Marburger Weihedatum von 1283 datiert, doch gibt es hierzu durchaus auch andere Auffassungen. Steinmann überträgt diese Datierung unmittelbar auf den Kölner Plan - ein riskantes Unterfangen, das nicht nur eine Kette unscharfer Interdependenzen knüpft, sondern die Möglichkeit außer Acht lässt, dass Marburg und Köln zu unterschiedlichen Zeiten aus gemeinsamen Quellen geschöpft haben mögen.

Wie in diesem Fall gelingt es Steinmann für nahezu den gesamten Maßwerkbestand des Planes F, die Existenz der Figuren bereits in den Jahrzehnten um 1280 zu belegen. Die Sorgfalt dieses Nachweises verdient Anerkennung, doch stützt jener nicht ohne weiteres die Frühdatierung. Wenn der große Fassadenplan tatsächlich eine differenzierte Planungsgeschichte im Sinne einer Endredaktion zusammenfasst und damit aus älteren Varianten eine Wahl trifft, dann bieten die Maßwerkvergleiche Datierungshinweise eher für die verlorenen Entwürfe als für deren letztgültige Kompilation. Die von Steinmann nahe gelegte Funktion des Planes F ist also das schärfste Argument gegen seinen eigenen Datierungsansatz.

Mit großem Gewinn liest man das Kapitel zur Stellung des Kölner Planes in der Entwicklungsgeschichte gotischer Fassaden. Steinmann schafft Ordnung in den an Repliken reichen Kontroversen zwischen Liess und Wortmann zur Straßburger Westfassade, nimmt den Freiburger Turm mit in den Blick und macht die Nähe und direkte Konkurrenz der oberrheinischen Hütten mit Köln auf sehr überzeugende Weise geltend. Eine Inventur der Forschungslage zu diesem Themenkomplex war längst fällig, und sie ist an dieser Stelle vorzüglich geleistet, auch wenn man dem Autor nicht in allen Argumenten folgen mag. Dennoch bleiben wichtige Fragen zur weiteren Bearbeitung offen, darunter jene nach dem jeweiligen Anteil Kölns und Freiburgs an der Entwicklung des offenen Maßwerkhelms, die nur dann entschieden scheint, wenn man der Frühdatierung des Planes F zu folgen bereit ist. Eine systematischere Ausdehnung des Untersuchungsfeldes auf die Kleinarchitektur könnte hierzu neue Perspektiven eröffnen.

Die Einbindung des Plans F in den Gesamtzusammenhang französisch geprägter Fassadenkonzepte konnte im Rahmen einer monografischen Dissertation nur bedingt gelingen. Richtige Bezüge zu den großen Fassaden der französischen Kronlande sind dennoch hergestellt. Die Voraussetzungen für eine rosenlose Front, durchbrochene Turmfreigeschosse, den Anschluss der Front an das Langhaus und für etliche morphologische Merkmale des Kölner Fassadenbilds hat Steinmann systematisch recherchiert. Doch leider wirkt sich hier der Redaktionsschluss im Jahr 1999 besonders nachteilig aus, denn wichtige Studien aus den letzten Jahren - insbesondere solche aus französischer Feder - fehlen.

Zu welchem Zweck diente die mit über 4 m Höhe wahrlich monumentale Zeichnung, deren baupraktische Handhabung nicht vorstellbar ist, und die kaum Abnutzungsspuren zeigt, die eine Verwendung im Baubetrieb zwangsläufig mit sich gebracht hätte? Steinmann kategorisiert den Plan mit Kletzl als "Schaubildriss", der vor allem den Bauherrn für das Projekt gewinnen und Donatoren anziehen sollte. Verwendungen dieser Art sind für das 15. Jahrhundert aus den Niederlanden bekannt. Ferner wäre denkbar, dass die große Gesamtschau der Fassade dazu diente, das architektonische Programm verbindlich festzuschreiben und künftige Bauleitungen auf das Vorhaben zu verpflichten. Buchstäblich nichts ist für diese frühe Zeit über solche Zusammenhänge bekannt. Steinmann tat gut daran, statt wohlfeiler Antworten die offenen Fragen abzuwägen und die Erklärungsversuche eher zu kommentieren als zu werten. Dies gilt auch für die Ermittlung des Planautors. War der bauleitende Architekt zugleich der Zeichner, wie Steinmann vermutet? Die Baukontrakte und Rechtsstreitigkeiten des 15. und 16. Jahrhunderts weisen die Risse als geistiges Eigentum der Architekten aus, doch wie lange dauerte es, bis sich diese Auffassung durchsetzte?

Marc Steinmanns Monografie leistet - der strittigen Datierungsfragen ungeachtet - einen wichtigen Beitrag zur Erkundung der Frühgeschichte des mittelalterlichen Werkrisses. Sie verbindet sorgfältige Quellenexegese mit klassischer Stilgeschichtsschreibung, und sie reiht sich damit gewinnbringend ein in eine ertragreiche mediävistische Wissenschaftstradition. Eine Erklärung dafür, warum die Überlieferung der Pergamentrisse im späteren 13. Jahrhundert beinahe aus dem Nichts zu entspringen scheint, kann und will diese Studie nicht leisten. Dieses Phänomen gehört zu den ältesten Rätseln der Gotik-Forschung - ist doch schon die Realisierung der Großbauten vor 1200 ohne solche Planungshilfen nicht vorstellbar. Man wird das Spektrum der Fragen erweitern müssen, um dem Rätsel auf den Grund zu gehen. Mit Spannung erwartet man daher die von Hans Josef Böker angekündigte Neuedition der Risse aus der umfangreichen Wiener Sammlung und die schriftliche Fassung der von Robert Bork im Mai dieses Jahres auf der Londoner Konferenz 'The Year 1300' vorgetragenen Thesen zur Baugeometrie der Kölner Domfassade.


Norbert Nußbaum

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Empfohlene Zitierweise:

Norbert Nußbaum: Rezension von: Marc Steinmann: Die Westfassade des Kölner Domes. Der mittelalterliche Fassadenplan F, Köln: Verlag Kölner Dom 2004
in: KUNSTFORM 6 (2005), Nr. 11,

Rezension von:

Norbert Nußbaum
Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln

Redaktionelle Betreuung:

Ulrich Fürst