Rezension

Michael Viktor Schwarz: Visuelle Medien im christlichen Kult. Fallstudien aus dem 13. bis 16. Jahrhundert, Wien: Böhlau 2002,
Buchcover von Visuelle Medien im christlichen Kult
rezensiert von Gabriele Wimböck, Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Angesichts immer kleiner werdender Geldtöpfe und der in den Feuilletons in regelmäßigen Abständen auftauchenden Diskussionen um den Sinn geisteswissenschaftlichen Forschens sorgt sich so manche Disziplin um die eigene Zukunft. Das Ausrufen von Paradigmenwechseln scheint deshalb im Moment Hochkonjunktur zu haben, auch und vor allem in der Kunstgeschichte, die im bildüberfluteten Medienzeitalter ihr Fach zur alleinig kompetenten Disziplin in Bildfragen und damit vielleicht sogar (wieder) zur Leitwissenschaft machen will. In solchen Phasen verkaufen sich, um bei dem ökonomischen Sprachbild zu bleiben, an der Modernität orientierte Grundsatzüberlegungen zur künftigen Ausrichtung des Faches besonders gut. Die Wiener Kunstgeschichte hat sich in dieser Gattung in der Vergangenheit immer besonders hervorgetan, wie Nachleben und Reichweite ihrer "Schule" hinreichend belegt haben. Michael Viktor Schwarz, der seit 1998 in Wien lehrt, hat sich dieser Tradition gestellt und mit den "Visuelle Medien im christlichen Kult" ein Buch verfasst, das sich programmatisch gibt und dem Fach nichts Geringeres vorschlägt als einen "medial turn". Gewählt hat er sich für seine Überlegungen einen Bereich der Kunstgeschichte, der bereits mehreren prominenten Autoren des Fachs (Wolfgang Kemp, Hans Belting) für vergleichbare Theoriemodelle gedient hatte: die Frage nach dem Wesen der christlichen Kunst des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.

Nach Auskunft des Autors richtet sich das Buch an den Proseminar-Studenten in Wien (und anderswo), der die Frage "Wie spricht sich der Geist des 15. Jahrhunderts in der Malerei aus" für das Hauptanliegen des Faches halte (24). Angesichts manch prononcierter Stellungnahmen und Abschnitten mit kaum verhüllter Kollegenkritik (zum Beispiel 168) mag man dem nicht immer Glauben schenken. Sieht man aber von den Seitenhieben auf die Fachlandschaft ab, handelt es sich um einen auf jeden Fall diskussionswürdigen Versuch, christliche Kunst aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Ausgehend von der Überlegung, dass man das Hegelsche Weltbild als überholt betrachten könne, folgert Schwarz, dass auch die Frage nach der "historischen" Bedeutung von Bildern, nach ihrer Abhängigkeit zum "Zeitgeist", obsolet geworden sei, mithin also neue Fragestellungen gefunden werden müssten. Der Autor versteht seinen Vorschlag nicht als "das einzige Projekt kunsthistorischen Verstehens ohne Hegel oder jenseits von Hegel", aber doch als ein neues, das die Versuche der geistesgeschichtlichen Einordnung von Kunstwerken durch die Betrachtung ihrer medialen Vermittlungsfunktion im Prozess gesellschaftlicher Kommunikation ersetzt. Schwarz verabschiedet sich mit seinem Ansatz allerdings nicht nur von der (hegelianisch geprägten, und bekanntermaßen gerade in Wien immer wieder vertretenen) Kunstgeschichte als Geistesgeschichte, sondern distanziert sich zugleich von der Bildwissenschaft (251), die in seinen Augen in ihrer Zusammenschau von ikonographischen Textquellen und Bildtypen dem genuinen Wesen des Bildes zu wenig Spielraum einräumt und daher zu sehr dem Linguistic Turn verhaftet bliebe. In dieser im Verlauf der Lektüre immer wiederkehrenden Abgrenzung wird man eine weitere Intention des Buches sowie den größten Diskussionsbedarf sehen dürfen: zum einen, weil das mittlerweile breite methodische Feld bildwissenschaftlichen Arbeitens nicht nur stark vereinfacht dargestellt und vor allem im Warburgischen Sinne verstanden erscheint, sondern weil es auch letzterem Ansatz selbst nicht wirklich gerecht wird - der Vorwurf etwa, die Methode sei zu stark an Textdokumenten ausgerichtet, trifft wohl erst auf die ikonologische Fraktion der Warburg-Nachfolge zu. Zum anderen aber auch, weil viele Ansatzpunkte der Bildwissenschaft ungenutzt bleiben, wie etwa die Einbeziehung von Bildmaterial jenseits der "hohen" Kunst, wie sie bei Schwarz ausschließlich im Zentrum steht.

Die Untersuchungen sind ausdrücklich als Fallstudien verstanden, die die Möglichkeiten einer medienwissenschaftlichen Betrachtung christlicher Kunst umreißen sollen (251). Als Medium wird alles verstanden, was - gattungsunabhängig - "Wahrnehmung als Erkenntnis verfügbar macht", wobei Rezeption wie Produktion gleichermaßen untersucht werden: Produzent ist der Künstler, der Bilder nicht zum Selbstzweck herstellt, sondern die Bildbotschaft entsprechend seinem (Vermittlungs-)Auftrag gestaltet und sein Können nutzt, um den Kommunikationserfolg zu erhöhen. Modellbetrachter wiederum ist, entsprechend dem Untersuchungsgegenstand, der Teilnehmer am christlichen Kult, weshalb stets der funktionale Zusammenhang der Bilder innerhalb des liturgischen Kontextes im Vordergrund steht. Auch der Kunstanteil des Bildes wird in dieses Konzept eingebunden - er ist dafür verantwortlich, dass die Differenz zwischen dem Bild und dem Verbildlichtem überhaupt wahrgenommen wird. Schwarz hat sich für seine Fallstudien einige Hauptwerke der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kunst ausgewählt (Naumburg, Assisi, Narbonne, Canterbury, Sixtinische Madonna, Selbstbildnis des Anton Pilgrim), die meist über ihre Bedeutung im kunsthistorischen Kanon hinaus mit Grundsatzfragen der älteren und jüngeren Kunst- und Kulturgeschichte verknüpft sind, wie die Bedeutung des mittelalterlichen Doppelgrabmals oder die Entstehung des individuellen (Künstlerselbst-)Porträts.

Als übergreifender Leitgedanke erscheint eines der zentralen Probleme des Bildes schlechthin, nämlich in welchem Verhältnis das Abbild zur Wirklichkeit steht. Für den konkreten Fall der christlichen Kunst bedeutet dies, in welcher Form und mit welcher Vermittlungsintention christliche Inhalte ins Bild umgesetzt werden. Dabei stellt Schwarz unterschiedliche Grade der Wirklichkeitsaneignung bzw. -simulation fest, die, auch in der Abfolge der Kapitel, von der Erzeugung virtueller Realität über die bewusste Zurücknahme der Repräsentation bis zum zeichenhaften Verweis reichen. Am Anfang steht mit dem Lettnerkruzifix aus dem Westchor des Naumburger Doms entsprechend ein Werk, dessen "Präsenz"-Wirkung immer schon Aufsehen erregt hat. Diese wird nicht nur durch die veristische Gestaltung des Körpers erzielt, sondern auch durch die spezifische Anbringung am Durchgang vom Schiff in den Westchor unterstützt, die dem Betrachter ermöglicht, eine ähnliche Position wie Maria und Johannes unter dem Kreuz einzunehmen (wie man vor Ort im übrigen nachvollziehen kann, wäre sogar die Position der Maria Magdalena am Kreuzesstamm denkbar). Schwarz erklärt die besondere Gestalt als zum Versuch, die "Performanz einer Gotteserscheinung" zu simulieren, die das Bild zur Initiationsfigur für den Klerus auf dem Weg in den Chor werden lässt, in der die Begegnung mit Christus in der Eucharistiefeier vorweggenommen wird. In ähnlicher Weise erklärt Schwarz auch im darauf folgenden Kapitel eine illusionistisch gemalte Bank in der Unterkirche von Assisi als liturgisch motiviert; sie soll als gemalte sedilia, als liturgische Sitzbank für den Priester, den Raumabschnitt als Kapelle markieren.

Mit dem figürlichen Grabbild widmet sich der Autor dann einer Gattung, an der sich die Frage nach dem bildlichem Abbildcharakter immer wieder entzündet hat. Besonders am Sonderfall des Doppelgrabmals, für den Panofsky den anschaulichen Begriff des "Doppeldeckergrabmals" prägte und für den charakteristisch ist, dass das Bild des Verstorben verdoppelt einmal als verwesender Transi und einmal als liegende Repräsentationsfigur (Gisant) erscheint, lässt sich diese Fragestellung verfolgen. Anders als bisherige ideengeschichtliche Interpretationen, zu deren einflussreichsten sicherlich diejenige von Ernst Kantorowicz gehörte, plädiert Schwarz für eine funktionalere Erklärung, die im Transi den Leichnam bildlich vergegenwärtigt sieht, in dessen Gegenwart die liturgischen Seelenmessen stattfinden, während der Gisant an die ehemals lebende Person erinnern soll.

Mit dem Grisailleparament von Narbonne und Raffaels Sixtinischer Madonna, dem ex post zum Wahrzeichen religiöser Kunst schlechthin erklärten Altarbild, nähert sich Schwarz dem Phänomen der Reflexion über die Abbildhaftigkeit des Dargestellten, der den Übergang zur Frühen Neuzeit markiert und in etwa in eins fällt mit Hans Beltings Epochenschwellenpostulat des "Zeitalters der Kunst". Während die Ableitung der hohen Künstlichkeit des Grisaille-Stils von dessen Funktion als Fastentuch überzeugt, hätte man vermutlich auf eine weitere Deutung des Raffaelbildes als die Reflexion über die Fähigkeit der Malerei, Undarstellbares darstellen zu können, verzichten können, die sich im wesentlichen einfügt in eine Reihe von Interpretationen der vergangenen Jahre - die wiederum oftmals mehr über die intellektuelle Reflexionsfähigkeit der Autoren verraten als über das Bildkonzept Raffaels.

Mit dem Künstlerselbstbildnis von Anton Pilgrim in Wien schließt der Autor seine Untersuchung und thematisiert damit nicht nur die Entstehung des "modernen" Künstlerselbstbewusstseins, sondern auch, ganz im Sinne des Leitgedankens, die nicht zuletzt in der Individuumsfrage mündende - und gewissermaßen zentrale - Grundfrage der Porträtforschung nach dem Verhältnis von Urbild und Abbild des Dargestellten. Schwarzens Analyse geht in diesem Punkt konform mit anderen jüngeren Studien, die sich vergleichbaren Baumeister- oder Bildhauer-Selbstporträts - wie das von Adam Krafft am Sakramentshaus in Nürnberg - gewidmet haben und wie er anders als ältere Arbeiten weniger den individuellen Charakter des Porträts als eine Typisierung betonen, die den Künstler in seiner gesellschaftlichen Einbindung in die Kirchengemeinde kennzeichnet.

Den einzelnen Untersuchungen mangelt es zweifelsohne nicht an Esprit und an erhellenden Erkenntnissen. Allerdings wird man sich fragen dürfen, ob es immer ein ganzer turn sein muss, der neue Herangehensweisen oder einen frischen, von alten Interpretationsmustern bereinigten Blick erklären soll. Wollte man das Potenzial des "Medial Turns"-Konzepts weiterentwickeln, müsste man sich zuvor vielleicht noch den Thesen der medientheoretischen Forschung (etwa von Ivan Illich) stellen, die die Möglichkeit zu tatsächlicher "visueller Kommunikation" erst mit einer Neubewertung des "Sehsinnes" um 1800 beginnen lassen. Mithin wäre nach den Formen der mittelalterlichen beziehungsweise frühneuzeitlichen Wahrnehmung zu fragen - doch deren Geschichte muss erst noch geschrieben werden.


Gabriele Wimböck

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Empfohlene Zitierweise:

Gabriele Wimböck: Rezension von: Michael Viktor Schwarz: Visuelle Medien im christlichen Kult. Fallstudien aus dem 13. bis 16. Jahrhundert, Wien: Böhlau 2002
in: KUNSTFORM 4 (2003), Nr. 12,

Rezension von:

Gabriele Wimböck
Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Redaktionelle Betreuung:

Hubertus Kohle