Rezension

Felix Thürlemann: Robert Campin. Eine Monographie mit Werkkatalog, München: Prestel 2002,
Buchcover von Robert Campin
rezensiert von Renate Prochno, Fachbereich Kunst-, Musik- und Tanzwissenschaft, Universität Salzburg

Nachdem lange Jan van Eyck und Rogier van der Weyden die Heroen der Frühen Niederländer waren, gewinnt seit einigen Jahren Robert Campin, alias Meister von Flémalle, an Gewicht. Nach der Campin-Monographie Châtelets von 1996 und der Untersuchung Stephan Kemperdicks über Campin und Rogier van der Weyden von 1997 hat Felix Thürlemann jetzt eine weitere Monographie vorgelegt. Erklärtes Ziel dieser Untersuchung ist, Campin angemessen zu würdigen. Das gelingt Thürlemann durchaus, jedoch unternimmt er auch einige waghalsige Zuschreibungen, die zum Teil auf Kosten Rogiers van der Weyden gehen und nicht unbedingt überzeugen.

Eine kurze Biographie gibt zunächst einen Überblick über das Leben Campins. Der folgende Teil behandelt in chronologischer Folge das Œuvre des Künstlers. Ein weiteres Oberkapitel ist Campins kunsthistorischer Stellung gewidmet, wobei die Schüler und Nachfolger im weiteren Sinn einbezogen werden. Ein Katalogteil verzeichnet die zugeschriebenen Werke, referiert die relevante Forschung und trägt nochmals die eigenen Thesen vor.

Der Text wiederholt viel von dem, was Thürlemann in den letzten Jahren schon in diversen Aufsätzen publiziert hat. Bezüglich des Mérode-Altars korrigiert er sich insofern, als er den linken Flügel mit dem Stifter nun als ein mögliches Frühwerk Rogiers van der Weyden ansieht. Außerdem schreibt Thürlemann, wie schon 1997 publiziert [1], Campin die Entwürfe für die auf 1402 datierten Tapisserien in der Kathedrale von Tournai zu, die er an den Anfang der Karriere des Meisters datiert. Die Abbildungen der frühen Tapisserien-Folge sind jedoch zu klein, als dass diese Zuschreibung nachvollziehbar wäre. An das Ende seines Schaffens, d.h. nach 1432, setzt Thürlemann die Entwürfe für die Chormäntel aus dem Paramentenschatz des Ordens vom Goldenen Vlies, bleibt hierfür jedoch jeden Quellenbeleg schuldig und bezieht die Stiftungen, die mit dem Orden vom Goldenen Vlies verbunden waren, auf Champmol statt auf die Sainte-Chapelle von Dijon, dem offiziellen Ordenssitz. Weiter schreibt der Autor Campin in der Nachfolge von Frinta (1966) den Kreuzabnahme-Altar in Madrid zu, der ansonsten als Werk Rogiers gilt. Auch einige Rogier-Zeichnungen finden sich nun in Campins Œuvre wieder.

Bei der Zuschreibung der Kreuzabnahme in Madrid ignoriert Thürlemann die Argumente, die für die Autorschaft des jungen Rogier sprechen: z.B. ist die Schrittstellung des Josef von Arimathia ganz labil, und der Unterschenkel Mariens ist viel zu lang geraten. Wie ist es zu erklären, dass einem alten Hasen wie Campin solche Fehler unterlaufen? Ist es nicht doch wahrscheinlicher, dass Rogier hier am Anfang seiner Karriere ein Werk schaffen wollte, um in Format und Innovationswillen den Vergleich mit den Altären der Großen aus der Vorgängergeneration herauszufordern, das heißt dem Kreuzigungsaltar Campins und dem Genter Altar der Brüder van Eyck? Rogier hätte sich damit als Dritter im Bunde annonciert. Oder führte Rogier mit der Mitteltafel einen Entwurf seines Lehrers aus, wie es Belting/Kruse 1994 vorschlugen?

Die Identifizierung der Tafeln aus der angeblichen Abtei von Flémalle im Städel als Flügel der Madrider Kreuzabnahme kann überzeugen: die Formate sprechen für sich. Damit erübrigt sich aber nicht das Problem der Zuschreibung, sondern wird noch verschärft. Thürlemann will es lösen, indem er auch die Mitteltafel selbst Campin zuschreibt.

Die Debatte um die Zuschreibung der Madrider Kreuzabnahme und um die Flémaller Tafeln ist ein Paradebeispiel dafür, wie dieselben Phänomene ganz unterschiedlich gedeutet werden können. Wo die einen dieselbe Hand am Werke sehen, erkennen die anderen unzweifelhaft zwei Meister. Wer gedacht hat, ein solcher Streit könne durch Infrarotreflektogramme, die die Unterzeichnung sichtbar machen, entschieden werden, der irrt: die Diskussion setzt sich mit gleichen Argumenten anhand der Unterzeichnungen fort. Dieses Werk ist eine der härtesten Nüsse, die die Stilkritik zu knacken hat - und auch Thürlemanns Argumentation vermag nicht zu überzeugen. Er plädiert etwa in Abweichung von seinem 1993 publizierten Aufsatz [2] dafür, dass einige der Köpfe von Rogier gemalt sein können (280), doch präzisiert er dies für nur einen einzigen Kopf. Auch den Männerkopf des Paares in London schreibt Thürlemann Rogier zu, den Frauenkopf aber Campin. Die Tatsache, dass beide Holztafeln nachgewiesenermaßen vom selben Baum stammen, ist für diese Zuschreibung jedoch kein schlagender Beweis.

Streckenweise muten die Stilanalysen Thürlemanns wie ein Versuch an, das Problem der Unterscheidung Campin-Rogier mit Gewalt lösen zu wollen. Thürlemann postuliert mit Beispielen wie der Madrider Kreuzabnahme, dem linken Flügel des Mérode-Altars und dem Londoner Paar engste Zusammenarbeit der beiden Künstler. Gleichzeitig müht er sich ab, in diesen Fällen die Künstleridentitäten zu unterscheiden. Offensichtlich sollte aber Rogier nach Möglichkeit gezielt so ähnlich wie Campin malen, und es gelang ihm auch: die schwankenden Zuschreibungen der Kunstgeschichte sind dafür der beste Beweis. Zu sehen, wie Rogier sich von seinem Lehrmeister abnabelt und zu "Rogier" wird, würde solche kennerschaftlichen Anstrengungen rechtfertigen, aber das liegt nicht in der Absicht dieser Campin-Monographie. Gespannt wäre man daher zu hören, was Thürlemann in einer Monographie über Rogier zu dessen Karriere-Anfängen zu sagen hätte.

Das Instrument für solche Zu- und Abschreibungen ist die Stilkritik. So weiß Thürlemann nicht nur bei der Madrider Kreuzabnahme genau, wem welche Teile zuzuschreiben sind. Er weiß zum Beispiel auch, welche Teile des Genter Altars von Hubert van Eyck gemalt wurden. Daraus konstruiert er eine Abfolge gegenseitigen Reagierens: Hubert, Campin, Jan. Dass die Maler dieser Zeit und bei dieser räumlichen Nähe generell aufeinander Bezug nahmen, dürfte außer Zweifel stehen: eine Innovation jagt gleichsam die andere. Thürlemanns Hellsichtigkeit bezieht sich aber nicht nur auf die Stileigentümlichkeiten Rogiers und Campins, sondern z.B. auch auf das Geburtsdatum Campins (gestorben vermutlich 1445). De facto ist es unbekannt, aber Thürlemann kennt es: Campin sei "im Jahre 1375, vielleicht drei oder vier Jahre später" geboren; auf den folgenden Seiten wird 1375 dann als festes Geburtsdatum angenommen. Thürlemann riskiert es auch, aus einem Antikenzitat in einer Zeichnung, die bislang als Zeichnung Rogiers galt, eine Italienreise abzuleiten, die Campin schon vor 1425 unternommen habe.

Thürlemann wagt sich mit seinen Zuschreibungen weit vor, um Campin endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dass man dem Autor dabei nicht immer folgen kann, liegt auch daran, dass man Rogier kein Unrecht tun möchte. Ein Verdienst des Buchs ist aber, die Neuerfindungen Campins stärker als bisher in der Literatur geschehen, herauszustreichen. Das betrifft vor allem die Porträtmalerei und die Darstellung seelischer Regungen.

Das dem Katalog vorangestellte Kapitel zur "Kritik der Kennerschaft" zeichnet die Geschichte der Zuschreibungen von Werken und Identifizierungen von Künstlern nach. Der Katalog selbst ist ein überaus handliches Instrument für weitere Forschung: er fasst nach den Kategorien Beschriftung, Erhaltung, Zuschreibung, Datierung, Kopien, Kommentar, Provenienz, Literatur übersichtlich und klar die Forschung zusammen, begleitet jeweils von einer kleinen Schwarz/Weiß-Abbildung. Er beinhaltet auch auszuscheidende Werke und die Schüler Campins, so dass der Katalog unter anderem eine kurze Auflistung des Rogier-Œuvres bis 1450, wenn auch Thürlemannscher Prägung, umfasst. Die zu Campin bekannten Dokumente, die ihn namentlich nennen, aber größtenteils 1940 in Tournai verbrannt sind, werden im Anschluss an den Katalog gesammelt abgedruckt und zum Teil kommentiert.

Außerdem ist das Buch üppig illustriert: vor allem die hervorragend reproduzierten farbigen Details in Originalgröße erlauben den angestrebten Vergleich; manchmal wirken sie schöner als die Originale. Für die Schwarz/Weiß-Fotos gilt das nicht immer in vergleichbarem Maß.

So problematisch der Textteil in manchen Passagen ist, so bieten doch Katalog- und Quellenteil eine sehr gute Grundlage für weitere Forschungen. Thürlemanns Buch zeigt, dass noch viele Fragen zu beantworten sind.

Anmerkungen:

[1] Felix Thürlemann: Robert Campin um 1400 als Malergeselle in Tournai. Ein kennerschaftlicher Versuch zu den Tapisserien der heiligen Piatus und Eleutherius, in: Pantheon 55 (1997), 24-31.

[2] Felix Thürlemann: Die Madrider Kreuzabnahme und die Pariser Grabtragung. Das malerische und das zeichnerische Hauptwerk Robert Campins, in: Pantheon 51 (1993), 18-45.


Renate Prochno

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Renate Prochno: Rezension von: Felix Thürlemann: Robert Campin. Eine Monographie mit Werkkatalog, München: Prestel 2002
in: KUNSTFORM 4 (2003), Nr. 10,

Rezension von:

Renate Prochno
Fachbereich Kunst-, Musik- und Tanzwissenschaft, Universität Salzburg

Redaktionelle Betreuung:

Dagmar Hirschfelder