Rezension
Die so genannte Karlsruher Passion - ein um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstandener, noch sieben Tafeln umfassender Bildzyklus, der zu den Meilensteinen der Malerei der Spätgotik am Oberrhein zu rechnen ist - ist bereits Gegenstand von mehreren, in ihrem methodischen Ansatz und ihrer inhaltlichen Ausrichtung höchst unterschiedlichen Untersuchungen gewesen. Sie reichen, um nur die seit dem Zweiten Weltkrieg erschienene Literatur zu nennen, von Lilli Fischels Buch "Die Karlsruher Passion und ihr Meister" (1952) über die Arbeiten von Friederike Blasius (1986) und Michael Wolfson (1991) bis hin zu dem ebenso material- wie umfangreichen Katalog der von Dietmar Lüdke betreuten Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe (1996). Obwohl die Bedeutung des Zyklus nicht zuletzt darin erkannt wurde, dass sein anonymer, vielleicht mit Hans Hirtz zu identifizierender Maler die Leidensgeschichte Christi in ganz außergewöhnlichen, ungemein bewegenden Bildern zu erzählen wusste, war eine systematische Analyse dessen, was die Karlsruher Passion als Bilderzählung auszeichnet, bislang ein Desiderat.
Diese Lücke wird nun durch die Arbeit von Wilfried Franzen geschlossen. Sie ist in ihrer Themenwahl einem Forschungstrend verpflichtet, der im deutschsprachigen Raum in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts einsetzte und seitdem auf reges Interesse stößt: der kunsthistorischen Erzählforschung. In ihrer Konzentration auf Werke der "süddeutschen" Tafelmalerei baut sie auf Überlegungen Robert Suckales auf, die dieser 1988 im Rahmen des DFG-Symposions "Text und Bild, Bild und Text" vorgetragen hat. Ziel des Autors ist zum einen, "die Eigenart der Bilderzählung in der Karlsruher Passion darzulegen und damit auch den 'Erzähler' Hans Hirtz adäquat [zu] würdigen", und zum anderen, "die Bedeutung der zyklischen Darstellungsformen für die Tafelmalerei des 15. Jahrhunderts und die Veränderungen im bildübergreifenden Erzählen herauszustellen" (19).
Die Arbeit ist nach einer knappen, ganz auf die Fragestellung konzentrierten Einführung (9-21) in drei Abschnitte gegliedert. Der erste Abschnitt "Der 'Meister der Karlsruher Passion' und die Bilderzählung am Oberrhein" (22-130) ist gewiss der spannendste, zugleich aber auch der problematischste Teil der Untersuchung, da Franzens Vorgehen methodisch anfechtbar ist. Er erwähnt zwar, dass die "überkommene Szenenauswahl ... möglicherweise nur ein einseitiges und verfälschendes Bild vom 'Programm' des ursprünglichen Werkes" biete, hält seine Überlegungen zum Umfang der Bildfolge, die an dieser Stelle zu erwarten wären, aber zurück und wiegt den Leser stattdessen in der Sicherheit, dass "ein homogenes und in sich schlüssiges Konzept" (22) vorliege.
Dass der Autor einer bestimmten Leitidee folgt, wird im Weiteren deutlich. Ausgehend von einer Analyse der Darstellungen und ihrer vielfältigen kompositionellen Bezüge vertritt Franzen die These, dass Gebet am Ölberg und Gefangennahme, Geißelung und Dornenkrönung als "Bildpaare" anzusehen sind, von denen Kreuztragung, Entkleidung und Annagelung an das Kreuz als ebenfalls zusammengehörige Szenen durch das Compassio-Motiv der Maria-Johannes-Gruppe sich absetzen. Dies ist eine wichtige Beobachtung. Aber gerade die Szenenfolge von der Kreuztragung bis zur Annagelung an das Kreuz bildet eine so untrennbare Einheit, dass man ebenso die These vertreten könnte, die Bilderzählung der Karlsruher Passion sei in Gruppen zu je drei Bildern unterteilt gewesen. Die Bildpaare Ölberg-Gefangennahme und Geißelung-Dornenkrönung wären demnach um jeweils eine Tafel zu ergänzen, nämlich um je eines der Verhöre Christi, und an die Kreuzigung Christi als vermutlich zentrale Darstellung hätten sich weitere drei Szenen angeschlossen. Mit Blick auf die Kompositionen der Szenen - die sich mit Franzen zwar als Paare deuten lassen, aber nicht zwangsläufig so gedeutet werden müssen - wäre dies durchaus möglich. Und bedarf es nicht zumindest eines Verhörs, um den inhaltlichen Sprung von der Gefangennahme zur Geißelung für den Betrachter verständlich zu machen? Franzen ist sich dieser Probleme sehr wohl bewusst und diskutiert sie. Dennoch entscheidet er sich für eine Rekonstruktion des Zyklus, die mit nur einer verlorenen Tafel, der Kreuzigung Christi, rechnet (75, Figur 4), während er das meines Erachtens plausiblere Modell mit mehreren verlorenen Szenen (74, Figur 3) verwirft.
Nach den einleitenden Kapiteln zur Karlsruher Passion wendet sich Franzen zunächst jenem verlorenen, nur in einer kolorierten Zeichnung und in einer Radierung aus dem 17. Jahrhundert überlieferten Wandgemälde in der ehemaligen Dominikanerkirche in Straßburg zu, das als weiteres Werk des Meisters der Karlsruher Passion angesehen wird, dann dem künstlerischen Kontext am Oberrhein vom so genannten Staufener Altar bis hin zu Werken des Meisters der Gewandstudien. Während der Blick auf die Malerei des 15. Jahrhunderts am Oberrhein sich im Wesentlichen darin erschöpft, die künstlerische Ausnahmestellung der Karlsruher Passion und ihres Schöpfers zu verdeutlichen, führt die Untersuchung des Wandgemäldes teils zu konkreten, teils zu unbefriedigenden Ergebnissen. Konkret sind sie insofern, als es Franzen gelingt, die östliche Passagenwand des Lettners der Dominikanerkirche als ursprünglichen Standort des Wandgemäldes zu ermitteln; ob es dann aber genügt zu behaupten, dass die "gegenüber der Karlsruher Passion veränderte Bildsprache und die hieraus ablesbaren veränderten Absichten" (90) des Wandgemäldes aus seinem Standort im Chor und seiner Funktion als "Bilderwand" für die Dominikanermönche resultierten, scheint nicht nur fraglich, sondern auch etwas unbedacht zu sein. Was überhaupt weist das Wandgemälde als ein Werk für Mönche aus? Welche Haltung hatten sie zum Bild, und worin unterschied diese sich von jener der Laien? Antworten auf diese Fragen bleibt der Autor schuldig.
Da die spezifischen erzählerischen Qualitäten der Karlsruher Passion in der Kunst am Oberrhein "bis um 1450 nahezu ohne Parallele" (91) sind, ist der zweite Abschnitt " "Erneuerer" des Erzählens in der süddeutschen Tafelmalerei um 1420-50" (131-181) folgerichtig der Frage gewidmet, wo sie ihren Ausgang nahmen und wie sie verbreitet wurden. Franzen lehnt sich dabei eng an die bereits erwähnten Überlegungen Suckales an und sieht im Meister der Worcester-Kreuztragung jenen Maler, in dessen Umfeld entscheidende "Innovationen des Erzählens ... erfolgten" (153) - Innovationen, auf die man auch am Oberrhein reagierte. Am Beispiel einer Reihe noch vollständig erhaltener Bildzyklen, in deren Tradition die Karlsruher Passion in einem allgemeinen Sinn steht, zeigt Franzen sodann, dass man sich ab zirka 1400 mehr und mehr mit den Möglichkeiten bildübergreifender Kompositionen und Erzählungen auseinander setzte.
Im dritten Abschnitt "Die "Kontinuität des Personals" und das "Erzählen in Bildern"" (182-262) verfolgt Franzen ein unter dem "Gesichtspunkt erzählerischer Kontinuität" (Suckale) wichtiges Motiv: die Wiederholung von Personen, insbesondere von "Personen minderen Ranges". Er weist dieses Motiv, das für die Karlsruher Passion in hohem Maße kennzeichnend ist, zuerst in der italienischen Malerei des Trecento nach, von wo es aber nur zögerlich, im Grunde nie richtig seinen Weg über die Alpen genommen hat. Inwieweit Franzen mit einer Beeinflussung bildlicher Passionszyklen durch die zeitgenössische Literatur rechnet, die er im Anschluss daran untersucht, wird nicht ganz deutlich. Er vermag aber nachzuweisen, dass es vor allem in Passionsspielen des 14./ 15. Jahrhunderts die Tendenz gegeben hat, einzelne oder mehrere Peiniger Christi hervorzuheben und kontinuierlich anwesend sein zu lassen.
Sein abschließender Überblick über die "'Kontinuität des Personals' in deutschen Passionsfolgen des 15. Jahrhunderts" (220) belegt noch einmal, dass der Meister der Karlsruher Passion (alias Hans Hirtz?) eine kaum zu überschätzende Rolle in der deutschen Malerei der Spätgotik gespielt hat.
Franzens Arbeit weist sowohl Stärken als auch Schwächen auf. Sie ist klar im Aufbau, konzentriert in der Durchführung. Dadurch wird deutlich, was die Karlsruher Passion als Bilderzählung zu einem ebenso neuartigen wie wegweisenden Werk macht. Dass sich Beobachtungen zu Komposition und Erzählstil auch für praktische Fragen - hier die Rekonstruktion des Zyklus - nutzbar machen lassen, zeigt der Autor ebenfalls. Allerdings sind diese Beobachtungen mindestens ebenso subjektiv wie die gerne geschmähten Urteile zum Stil eines Kunstwerks. So wirft gerade das Kapitel zur Rekonstruktion eine Reihe von Fragen auf, deren Problematik wenigstens angedeutet werden sollte. Während der zweite Abschnitt der Arbeit im Wesentlichen eine Paraphrase und Fortführung der Überlegungen seines Lehrers Robert Suckale darstellt, liefert Franzen mit dem dritten Teil in der Tat einen wichtigen Beitrag zur Ikonographie der Schergen in Passionszyklen, auch wenn unklar bleibt, wo letztlich die Ursachen für die Ausbildung dieses Motivs liegen.
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