Rezension

Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Lexikon der Künste und der Ästhetik (1771/1774), Berlin: Directmedia Publishing GmbH 2002,
Buchcover von Allgemeine Theorie der Schönen Künste
rezensiert von Eduard Wätjen, Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Die "Digitale Bibliothek" hat mit ihrem 67. Band erstmals ein enzyklopädisches Unternehmen des 18. Jahrhunderts digital erschlossen. Die "Allgemeine Theorie der Schönen Künste" des in Berlin wirkenden Schweizers Johann Georg Sulzer erschien zweibändig 1771 beziehungsweise 1774 in Leipzig. Nach französischem Vorbild - Sulzer war zunächst mit der Übersetzung eines französischen Wörterbuchs zur Kunst befasst - sind hier die Reiche der Literatur, Rhetorik, bildenden Künste, Architektur, Musik, Tanz- und Schauspielkunst in ihre Glieder zerlegt, alphabetisch zusammengestellt und mit historischen Abrissen versehen worden. Eine kleine Gruppe von Einträgen widmete Sulzer darüber hinaus einzelnen Personen.

Das Erfolgsrezept des Autors, der nicht alle Texte selbst verfasste, lag darin, keine dickleibige Erörterung des Kunstschönen vorzulegen, sondern vielmehr eine handliche und schnelle ästhetische Orientierung in zirka 900 Artikeln zu bieten. Sulzer hat Vielen einen leichten Zugang zum in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts äußerst lebendigen Diskurs über Kunst verschafft. Neben der "schnellen Information" fanden die Zeitgenossen auch grundsätzliche Artikel, die dem Autor unter der Feder zu langen Abhandlungen gerieten. Zusammengenommen vertraten die Artikel die Ästhetik der Aufklärung. Die Kunst - und damit das Schöne - wurde dahingehend instrumentalisiert, dass beim Rezipienten Empfindungen geweckt werden sollten, die erziehend auf ihn einzuwirken vermochten. Der umfangreiche Artikel "Künste; Schöne Künste" gehört zu den wichtigsten deutschsprachigen Definitionsversuchen der Kunst überhaupt und im Falle des Stichworts "Denkmal" hat Sulzer dem ganzen bürgerlichen 19. Jahrhundert den Weg zum Umgang mit Monumenten gewiesen.

Die wirkungsästhetische Begründung der Kunst, die bei Sulzer noch durch nichts in Frage gestellt war, fand ihren glühendsten und berühmtesten Gegner im jungen Goethe. Dieser bescheinigte dem fast dreißig Jahre älteren Sulzer, das Wesen der Kunst verkannt zu haben. Den Erfolg des Unternehmens konnte er indes nicht verhindern. Auf Grund der lebhaften Rezeption bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts und mehr noch angesichts der von Sulzer zusammengetragenen Materialfülle ist es zu begrüßen, dass das Werk jetzt als CD-Rom aufgelegt worden ist.

In der "Digitalen Bibliothek" ist der Band in ein Unternehmen eingebunden, das bei weiterem Fortschreiten die Dimension einer Universalbibliothek annehmen könnte. Allen Editionen ist ein umfangreiches und vor allem einheitliches Softwareprogramm gemeinsam, mit dem verschiedenste strukturelle Konzeptionen (Lexika oder literarische Texte) und Inhalte (Wort und/ oder Bild) bearbeitet werden können. Auf diese Weise sind unterschiedliche Bände hintereinander verwendbar, ohne dass ein Programmneustart vorgenommen werden muss. Für den einzelnen Band bedeutet dies jedoch, dass im Menü, welches ja für alle Eventualitäten eingerichtet ist, nicht immer sämtliche Funktionen aktiviert sind. So sehr dies für die Benutzbarkeit der Reihe an sich spricht, fällt das Vorhandensein "toter" Buttons beim angezeigten Band zunächst störend auf. Die Software liegt wie ein etwas zu großer Mantel um Sulzers Text, der, und das muss betont werden, sehr sorgfältig digitalisiert worden ist.

Die Textanzeige ist in ihrer vielfach abänderbaren Standardeinstellung gefällig zu lesen, sodass das oftmals vorgebrachte Argument, man wolle am Bildschirm nur ungern lesen, in Zukunft nur noch bei Hardlinern Konjunktur haben wird. Als Fortschritt gegenüber dem Buch ist anzusehen, dass sogar zwei unterschiedliche, im Text nicht aufeinander folgende Seiten nebeneinander gestellt werden können. Spätestens hier müsste der erklärte Buchfreund zur Schere greifen.

Die Seitenzählung lässt sich alternativ auf das zugrunde liegende Buch und auf die CD-Rom-Edition beziehen. Beim Herauskopieren von Zitaten wird ein Stellennachweis automatisch angefügt, doch ist dieser noch nicht ausgereift. Wenn man nämlich eine Passage kopiert, die im Original über einen Seitenumbruch läuft, erhält man im angehängten Nachweis die Stelle des Zitatendes (also S. 238 statt 237f.). Bei Zitaten, die über zwei ganze Seiten hinausgehen, wird die Seite, auf der die Passage beginnt, nur mit dem unbestimmten Zusatz "ff" angegeben. Ein weiteres Problem beim stückweisen Herauskopieren von Zitaten tritt bei vielen Artikeln zur Musik auf. Hier sind die Notationszeichen, die im Text Verwendung finden, als Bild in die Zeile eingefügt; diese werden daher beim Kopiervorgang nicht mit übernommen.

Zum Umgang mit den Bearbeitungsfunktionen sei folgendes angemerkt: Unter "Inhalt" sind mehrere Registerblätter versammelt. "Band" und "Register" erwiesen sich als weitgehend identisch. Das Register "Tabelle" gibt sein bestes bei der Sortierung nach Kategorien, wobei es wünschenswert wäre, eigens nach den von Sulzer vergebenen Kategorien suchen zu können, die er jedoch nicht bei jedem Stichwort angab. Entgegen der Erklärung in der Vorbemerkung (aufzufinden unter "Inhalt"/"Band"), man habe die Sulzerschen Kategorien beibehalten und lediglich die Kategorie "Personen und Werke" hinzugefügt, findet sich die im originalen Text vorhandene Kategorie "Bildhauerey" beziehungsweise "Bildhauerkunst" nicht mehr in der Tabelle - überhaupt war Sulzers Kategorisierung vielfältiger als die Tabelle glauben macht. Die Funktion "Abbildungen" erweist sich als wenig brauchbar, hier zollt man der Reihe an sich Tribut. Gleiches ist auch unter "Bibliothek" der Fall. Die Relevanz dieser Funktion wird sich wohl erst in Zukunft, wenn die Bibliothek weiter ausgebaut sein wird, erweisen.

Die nächsten drei Einstellungen "Suchen", "Stellen" und "Notizen" dienen dem Zurechtfinden im Text, dem Markieren und Kommentieren von Textstellen sowie dem Anfertigen von Notizen. Zu ihrem rechten Gebrauch sei die Lektüre des sich durch Verständlichkeit auszeichnenden Begleitheftes empfohlen. Der ungeübte Benutzer wird sich schnell davon überzeugen können, wie einfach die Handhabung der Technik ist. Die Möglichkeiten, insbesondere die der Suche, genügen hohen Anforderungen. Bemerkenswert ist die zuschaltbare Schreibweisentoleranz, die es erlaubt, das für Sulzer so wesentliche Wort "erwecken" auch als "erwek-ken" zu finden und umgekehrt. Was die Markierung und Kommentierung anbelangt, kann der Leser das Textbild als Buchseite auffassen und darin arbeiten wie in einem Druckwerk, nur dass der Überblick durch eine entsprechende Eingabenverwaltung gewahrt bleibt. Zu den Funktionen "Drucken" und "Diverses" muss nicht eigens etwas gesagt werden.

Kann also die Übertragung des Textes ins elektronische Medium als gelungen angesehen werden, muss die Frage aufgeworfen werden, was die "Digitale Bibliothek" bewogen hat, den Text in der Erstausgabe herauszugeben. Eine Erstausgabe hat natürlich einen hohen bibliophilen Wert, doch hat sich im Falle Sulzers die Rezeption in erster Linie an späteren, massenhaft verbreiteten Neuauflagen orientiert. Diese haben die Stichwörter unverändert beibehalten und den Textstand in nur geringem Umfang erweitert. Der wesentliche, qualitative wie quantitative Unterschied liegt jedoch in den umfangreichen bibliografischen Zusätzen, die das Werk schnell auf vier Bände anwachsen ließen. Der einzige moderne Reprint, von 1967 bis 1970 in Hildesheim bei Olms erschienen, legte ebenfalls eine der späteren, vierbändigen Ausgaben zu Grunde. Die nach Sulzers Tod von Christian Friedrich von Blanckenburg besorgten Bibliografien zu jedem größeren Artikel sind ihrerseits eine reiche Quelle, die einen hervorragenden Überblick über die kulturhistorisch-artistische Literatur des 18. Jahrhunderts bietet. Angesichts der über manche Strecke hinweg arbeitslosen Software wäre es wohl kein Problem gewesen, die bibliografischen Angaben eigens zu erschließen.

Dennoch wird diese CD-Rom eine Sulzer-Renaissance einläuten. Germanisten, Kunsthistoriker, Musik- und Theaterwissenschaftler sowie die Studierenden dieser Fächer haben ein effektives Arbeitsinstrument erhalten, das natürlich erst einmal beherrscht werden muss, um die Materie sicher zu durchdringen. Die Gewähr dafür bieten nicht allein die exzellenten Suchmöglichkeiten, sondern insbesondere die Lesbarkeit des Bildschirmtextes. Nicht in der speziellen Suche, sondern im ausgedehnten Lesen vermittelt ein Autor dem Leser ein Gespür dafür, was dieser im Werk alles zu finden vermag. Schade ist eigentlich nur, dass die Arbeit mit der CD-Rom nicht mehr die sinnlichen Qualitäten vermitteln kann, die vom Umgang mit altem Papier ausgehen.


Eduard Wätjen

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Eduard Wätjen: Rezension von: Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Lexikon der Künste und der Ästhetik (1771/1774), Berlin: Directmedia Publishing GmbH 2002
in: KUNSTFORM 3 (2002), Nr. 11,

Rezension von:

Eduard Wätjen
Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Redaktionelle Betreuung:

Alexis Joachimides