Rezension

Anne-Marie Bonnet: 'Akt' bei Dürer. , Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2001,
Buchcover von 'Akt' bei Dürer
rezensiert von Thomas Noll, Kunstgeschichtliches Seminar, Georg-August-Universität, Göttingen

Das Thema des vorliegenden ersten Teils der Münchner Habilitationsschrift von Anne-Marie Bonnet ist die künstlerische Gestaltung des nackten Menschen im Werk von Albrecht Dürer (der zweite Teil der Arbeit, "der die Rezeption von Dürers Leistungen in den Werken Hans Baldung Griens, Lucas Cranachs dem Älteren und Albrecht Altdorfers behandelt", soll " in Form einzelner Aufsätze folgen" (12)). Bestimmend für die - erstmals in dieser Breite vorgenommene - Untersuchung dieses Aspekts von Dürers Schaffen ist die Auffassung, dass es dessen Leistung gewesen sei, nördlich der Alpen "den 'Akt' einzuführen, vor ihm gab es lediglich ikonographisch motivierte Nackt-Darstellungen. Er erhob die Gestaltung des nackten menschlichen Körpers zur künstlerischen Aufgabe" (274, ähnlich 32). Weiter wird der Aktdarstellung bei Dürer paradigmatische Bedeutung für dessen Gesamtwerk zugemessen, da eine "zentrale Erkenntnis seines kunsttheoretischen Denkens", nämlich dass die 'Kunst in der Natur' liege, "als Definition des Aktes" sich erweise, "kann doch der Weg von der Natur zur Kunst parallelisiert werden mit dem von Nacktheit zu Akt. Mit der Bestimmung der Akt-Arbeit Dürers bewegt man sich also im Kern von Dürers Kunstauffassung" (274). Ja, in Dürers Streben nach den "Gesetzen der richtigen Darstellung des Menschen" komme dessen "radikal anthropozentrischer Ansatz flagrant zum Ausdruck", sodass die Untersuchung dieses Themas den "Schlüssel zu seinem Werk und zum Kunstschaffen der beginnenden Neuzeit überhaupt" (274) liefere.

Da es nicht zunächst um das Motiv, sondern um die Darstellung des Nackten, um den Akt als "Kunst-Problem", das heißt als "gestalteter nackter Körper im Gegensatz zum bloß Nackten" (27), zu tun ist, wird zur genaueren Kennzeichnung der Werke unterschieden zwischen dem idealen, klassischen Akt, dem noch immer stilisierten, nur scheinbar als Naturwiedergabe sich präsentierenden "Natur-Akt" und der "ohne weitere gestalterische Absicht" geschaffenen "Natur-Studie" oder "Nackt-Darstellung" (27 f, 205, 227). Dabei können dem Natur-Akt "zwei diametral entgegengesetzte Stilisierungsmodi bzw. Kodierungsmodalitäten zugrundeliegen", indem Dürer einmal vom "Natur-Bild" ausgegangen sei, "das dann zu einem Kunst-Bild stilisiert wird", zum anderen von einer "Kunstvorlage" seinen Ausgang genommen habe, "die dann zur Natur hin stilisiert wird", oder indem er drittens "einzelne Wahrnehmungsprotokolle zu einem natürlich wirkenden Artefakt montiert" (228). Unterschieden wird ferner zwischen dem "reinen" Akt, Natur-Akt oder Nackt-Bild und dem ikonographisch legitimierten Akt et cetera, wie schließlich zur präzisen formalen Bestimmung der einzelnen Werke die "Körpertypen", "Physiognomien", "Gebärdenrhetorik" und "der Grad an Naturalismus bzw. Künstlichkeit" - die "Temperierung oder Epidermis, i.e. Grad der Kodierung der Nacktheit / Akt-heit" - charakterisiert werden (28f, 38f).

Das Verhältnis der mit diesem Begriffsinstrumentarium und unter diesen Gesichtspunkten klassifizierten Akt- / Nackt-Darstellungen zu den Darstellungsinhalten fasst Bonnet unter dem Begriff der "Form-Ikonographie"; damit soll gesagt sein, dass den Körperformen eine "spezifische Bedeutung eingeschrieben" (27) und "eine bestimmte Form auf einen bestimmten Inhalt bezogen" ist, wie auch "vice versa" (29). Der Begriff bezeichnet "die Rückversicherung der Formanalyse an die Untersuchung der verkörperten Ikonographie" (38). Die Untersuchung aber erfolgt in "topologisch-chronologischer" Weise, das heißt, die Werke werden "im Zusammenhang mit dem, was davor, daneben und danach entstand, betrachtet" (40).

Nach der Einleitung (13-24) - die den Forschungsstand referiert -, einem ersten Kapitel über "Perspektiven des 'Akt'-Verständnisses" (25-40) - das die Begriffe und die Vorgehensweise beschreibt und einige grundsätzliche Überlegungen zur Aktdarstellung enthält - und einem zweiten Kapitel über "Erscheinungsformen von 'Akt' vor Dürer" (41-51) - das kursorisch über "Nackt-Darstellungen und Akt im Mittelalter und ihre Bedeutungen" (41f) sowie über die "Themen und Orte" (43-51) dieser Darstellungen informiert - beginnt die Untersuchung von Dürers 'Akten' in dem zentralen dritten Kapitel (52-205), das die Frühzeit und die Jahre bis etwa 1508 behandelt, die Zeit, in der die Aktdarstellung beziehungsweise die Entwicklung der ideal 'konstruierten' männlichen und weiblichen Gestalt für Dürer von größerer Bedeutung war.

Untersucht werden zunächst die "(N)A(c)kt-Darstellungen der vor-konstruktiven Phase 1493-1500/01" (64-115); es wird festgestellt, "dass Dürers Interesse am 'Akt', das meistens auf die Begegnung mit der italienischen Renaissance-Kunst zurückgeführt wird, sich schon vor der ersten italienischen Reise manifestiert" und dass er mit der Zeichnung einer 'Nackten Frau von vorne' (W 28, Abbildung 12) 1493 "den sog. ersten Natur-Akt nördlich der Alpen" (62) geschaffen habe. Zusammenfassend werden bei den Zeichnungen für diese frühe Phase "unter Vorbehalt (...) drei Akt-Typen" ausgemacht, "deren Erscheinungsformen die Spuren ihrer jeweiligen Genese tragen: 1. Die 'reine' Natur-Studie (...) 2. Die Übernahme einer künstlerischen Vorlage unter Hinzufügung eigener Naturbeobachtungen (...) und 3. die - umgekehrt - in Kunst-Form gegossene Naturbeobachtung" (97). Bei den druckgraphischen, also öffentlichen Werken betont Bonnet, dass Dürer "ihre nordalpine Seite, ihre 'Germanicità'" (98) herauskehre. Etwa mit den 'Vier nackten Frauen' (M 69, Abbildung 35) habe er "bewusst eine Vierer-Gruppe gestaltet und gezielt die klassischen 'Drei Grazien' gemieden, die er zugleich paraphrasiert und parodiert, das Un-Klassische ist seine Absicht" (104); das 'Meerwunder' (M 66, Abbildung 39) zeige entsprechend "eine deutsche Schönheit mit italienischen Zügen, eine 'bellezza alemana'" (107). "Bei der Form-Diagnose der 'Akte' zeichnen sich zwei Anliegen Dürers ab: zum einen die Bestimmung des Naturzugangs, i.e. des Verhältnisses Natur / Kunst, und zum anderen die Betonung des Deutschen gegenüber dem Italienischen im Form-Modus" (110); charakteristisch sei im Übrigen "die Vielfalt, das Nebeneinander der ent- und bestehenden Lösungen" (114). Nicht etwa eine lineare Stilentwicklung, sondern "eine bewusste Form-Entscheidung Dürers" (114) im Hinblick auf verschiedene gleichzeitig vorhandene Gestaltungsmodi habe man jeweils bei den Werken in Rechnung zu stellen.

Im Folgenden wird die "Systematisierung der Menschendarstellung" in den Jahren 1500 bis 1505 (116-170) und 1505 bis 1508 (171-205) verfolgt und konstatiert, dass Dürer neben "der Bandbreite an Variationen im Bereich der Konstruktion (...) auch alle Möglichkeiten von unmittelbarem Naturalismus bis zur Stilisierung des Naturalistischen oder des Ideal-Typischen zur Verfügung" (141) gestanden hätten. Wesentlich ist für Bonnet, dass Dürer in seinen öffentlich präsentierten "Lösungen für das Problem der Gestaltung des neuzeitlichen Menschen" als "Antworten auf die italienischen Vorschläge" mit "Formulierungen eines eigenen, deutschen Menschenbildes" - das aber kein "homogen-normatives Ideal" war - hervorgetreten sei (144). Stiche wie die 'Nemesis' (M 72, Abbildung 90), 'Apoll und Diana' (M 64, Abbildung 91), 'Adam und Eva' (M 1, Abbildung 96, 97) präsentierten "eine eigene deutsche 'Klassik' in Antwort auf die italienische Herausforderung" (170, ähnlich 184). Zugleich habe Dürer verschiedentlich auf eine (schon für die Zeit lange vor der Reformation diagnostizierte) "Krise des Bildermachens" (153, ähnlich 169) reagiert - deren Vorstellung Bonnet von Hans Belting übernimmt - und etwa mit dem berühmten Kupferstich von 'Adam und Eva' 1504 "die Lösung für ein ausgewogenes, zugleich religiöses und künstlerisches Bild, das alle Anforderungen an sowohl das überlieferte religiöse Bild als auch das neuartige Kunst-Bild einlöste" (169, ähnlich 200), gefunden. Im Übrigen lasse sich an "der bildnerischen Vollendung der Stammeltern (...) folgerichtig die gottgleiche Schöpfkraft (sic) des neuzeitlichen Künstlers ablesen" (168).

Das vierte Kapitel (206-228) referiert aus der Forschungsliteratur über Dürers kunsttheoretische Schriften, behandelt Dürers Schönheitsbegriff, das Verhältnis zwischen Kunst und Natur, die "Rolle der Temperamentenlehre" (216-218), "Dürers Modi" (218-220), seinen "mos teutonus" (221f) - das in Dürers Kunst als 'deutsch' Wahrzunehmende - und seine "Praxis des Aktes" (222-228) - dies mit dem Ergebnis, dass bei Dürer "eine Arbeit am lebenden Modell zumindest im Sinne des Porträtierens von Nacktheit bezweifelt werden (müsse), ausgenommen die Gewinnung von Teilaspekten" (226). "Dass mehrere 'Natur-Akte' Modell-Situationen fingieren, mag dafür sprechen, dass er die Italiener hatte parodieren und zugleich übertreffen wollen" (227).

Die "Dürersche Akt-Gestaltung 1508-1528, i.e. ab Redaktion des 'Lehrbuchs der Malerei' bzw. der Proportionslehre" wird im fünften Kapitel (229-268) erörtert, der "Stellenwert der 'Akte' im Gesamtwerk Dürers" im sechsten (269-273), bevor, nach einer knappen "Zusammenfassung" (274-276), zwei Exkurse über "Dürers Recherche zur richtigen Gestalt des Menschen (...)" (279-296) und "Zur Modell-Frage" (297-303) das Buch beschließen.

Die Stärke von Bonnets Untersuchung liegt in der sorgfältigen vergleichenden Betrachtung der im engeren und weiteren Sinne "nacketen Bilder" (Dürer) in Dürers Werk, wobei so treffende Beobachtungen gelingen wie die, dass die 'Nackte Frau mit Stab' (W 947, Abbildung 44) nicht nach einem lebenden Modell, sondern nach einer antiken Skulptur oder deren grafischer / malerischer Wiedergabe entstanden sein müsse (92, 250), (wobei es nicht "nur zwei 'Venus'-Figuren im Oeuvre Dürers" (250) (W 884, Abbildung 59; W 947, Abbildung 44) gibt, denn W 258 (Abbildung 138) zeigt denselben Typus der 'Venus pudica' wie W 884). Wichtig ist weiter der Hinweis auf die Gestaltungsmodi (die nicht nur bei den "nacketen Bildern" und um 1500 nicht nur bei Dürer zu finden sind) und auf Dürers spezifisch künstlerische Zielsetzungen als 'Deutscher' gegenüber den 'Welschen'. Sicher mit Recht wird auf diesen Punkt großer Nachdruck gelegt.

Gewisse Vorbehalte könnten sich gegen die Klassifizierung der Werke im einzelnen richten, etwa gegen die Einstufung der Aktstudie in Weimar (W 267, Abbildung 76) "nicht als Natur-Porträt, sondern als melancholisch stilisierter Natur-Akt" (228) im Unterschied zu dem weiblichen Akt W 28 (Abbildung 12), der überdies als das mutmaßlich einzige Natur-Porträt in Dürers Werk betrachtet wird (was prinzipiell glaubhaft erscheint, aber die Darstellung eines 'Zeichners des liegenden Weibes' (M 271, Abbildung 10) rein als 'Fiktion' qualifizieren würde).

Einwände ließen sich dann hier und da gegen die form-ikonographische Deutung vorbringen, so beispielsweise bei dem Vergleich der Tafeln von 'Adam und Eva' im Prado (A 103 und 104, Abbildung 2 sowie 110 a und b) mit dem 'Sündenfall' der Kleinen Holzschnitt-Passion (M 126, Abbildung 128). Während über die Gemälde erklärt wird, es handele sich um "eine bestimmte Form von Nacktheit, von gottgegebener Sinnlichkeit und Geschlechtlichkeit", die nur "vor dem Vollzug" der Sünde "und dem Fall möglich ist" (199), heißt es über den Holzschnitt, er zeige, "wie Dürer sich das Stammeltern Paar nach dem Sündenfall vorstellte, nämlich keineswegs mehr ideal wie noch in den beiden Versionen von 1504 und 1507, deren Idealität in der paradiesischen Noch-Unschuld gründete und sich in der idealkonstruierten Form-Ikonographie niederschlug. Nun führte Dürer das Urelternpaar vor, das seine Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit entdeckt hat", entsprechend würden sie formal mit den "wuchernden Silhouetten und Binnenformen ihrer Anatomien" als "Teil der triebhaften, unzivilisierten, animalischen Natur" (233) charakterisiert. Tatsächlich ist jedoch auf den Tafelbildern und dem Holzschnitt ikonographisch exakt dieselbe Situation vor dem Sündenfall dargestellt. Wie Eva dort als Verführerin ihrem Mann einen fruchttragenden Zweig zuspielt, so umschmeichelt sie ihn hier, um ihn zum Genuss der sündhaften Frucht zu verleiten, die sie ihrerseits eben von der Schlange empfängt. Zwar in unterschiedlicher 'Inszenierung' tritt derselbe Sachverhalt vor Augen, indem, scheinbar situativ, auf kunstvolle Weise ein Geschehen in der Zeit veranschaulicht wird. Auch Adam und Eva auf dem Holzschnitt haben mithin unzweifelhaft für ideal gestaltet zu gelten. Dass sie auf dem kleinformatigen Blatt nicht konstruiert sind, bedeutet keine Verminderung ihrer Idealität und verleiht ihnen inhaltlich keine dem Nicht-Idealen entsprechende Bedeutung.

Das heißt nun aber weiter, dass vielleicht auch eine Darstellung wie etwa diejenige von 'Christus am Kreuz' (W 325, Abbildung 85), eine Vorstudie für den 'Ober St. Veiter Altar', auch wenn dessen Körper wiederum nicht konstruiert ist, nicht ohne weiteres für weniger ideal (Modus eines "'stilisierten Naturalismus'" (255, auch 141)) als die Gestalt des konstruierten Adam auf dem Kupferstich von 1504 anzusehen ist (die Gestaltung der Köpfe mag hier beiseite bleiben). Mit anderen Worten: Formale, aber anschaulich kaum wahrnehmbare (!) Differenzen müssen nicht notwendig inhaltlich von Bedeutung sein und form-ikonographisch verschieden interpretiert werden.

Wenn mit den genannten Darstellungen exemplarisch die Problematik einer form-ikonographischen Betrachtung bei unsicherer oder fehlgreifender ikonographischer Interpretation deutlich wird, so ist damit doch gegen die grundsätzlich zutreffende Auffassung einer Interdependenz von Form und Inhalt nichts gesagt. Anne-Marie Bonnets Untersuchung wird jedenfalls in den nächsten Jahren die anregende Grundlage für alle weitere Beschäftigung mit Nackt- und Aktdarstellungen nicht nur bei Dürer, sondern überhaupt in der deutschen Kunst um 1500 sein.


Thomas Noll

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Empfohlene Zitierweise:

Thomas Noll: Rezension von: Anne-Marie Bonnet: 'Akt' bei Dürer. , Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2001
in: KUNSTFORM 3 (2002), Nr. 10,

Rezension von:

Thomas Noll
Kunstgeschichtliches Seminar, Georg-August-Universität, Göttingen

Redaktionelle Betreuung:

Gabriele Wimböck