Rezension
Verona, die Stadt Catulls und des heiligen Zeno, ist ungeachtet ihrer spannungsvollen politischen und kulturellen Geschichte von Seiten der Wissenschaft stets ein wenig vernachlässigt worden. Daher ist Lucas Burkarts Unternehmung, diesen weißen Fleck auf der kulturhistorischen Karte Oberitaliens mit etwas Farbe zu füllen, sehr zu begrüßen. Als historische Dissertation 1998 in Basel angenommen, stellt die Studie den gelungenen Versuch dar, einen der wechselvollsten Abschnitte der Veroneser Stadtgeschichte gründlich zu erhellen, nämlich die hier als "Spätmittelalter" bezeichnete Zeit zwischen der zweiten Hälfte des 15. und dem Beginn des 16. Jahrhunderts. In diesen Zeitabschnitt fällt die Besetzung Veronas durch Kaiser Maximilian I. (1509 bis 1517), wodurch die jahrhundertelange Herrschaft der Venezianer über die Stadt unterbrochen wurde. Der Autor entfaltet eine Art Strukturgeschichte, in der neben ereignisgeschichtlichen auch sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Aspekte berücksichtigt werden. Wie in einer stadtgeschichtlichen Abhandlung heute kaum mehr anders möglich, werden auch die künstlerischen Zeugnisse im weitesten Sinn "als Teile eines gesellschaftlichen Bedeutungsgewebes" einbezogen. 'Die Stadt der Bilder' – so verheißt der Klappentext – "geht der Frage nach, in welcher Weise sich Gesellschaft und Bildmedien im Spätmittelalter aufeinander beziehen".
In drei große Kapitel gliedert sich die Untersuchung. Aufgrund der Umfangsbeschränkung dieser Besprechung können die Ausführungen nur stichwortartig zusammengefasst werden – dass Burkart eine Fülle von interessanten Beobachtungen und überlegungen bietet, die hier leider nicht im Einzelnen referiert werden können, sei vorausgeschickt. Das erste Kapitel behandelt unter der überschrift "Die innere Stadt" die individuellen und familialen Bildinvestitionen in Gestalt von Stadtpalästen ("Häuser I"), von Villen ("Häuser II") und von frommen Stiftungen ("Häuser III").
Vor dem Hintergrund der Schriften Leon Battista Albertis versteht Burkart den städtischen Familienpalast als "Verbindungsglied zwischen zwei unterschiedlichen gesellschaftlichen Räumen, zwischen innen und außen. Er ist Medium, das die zunächst nach innen gerichtete Ordnung des Hauses und der Familie nach außen transportiert und kommuniziert." (S. 38) Diese fürs Erste sehr allgemeine Aussage sucht der Verfasser in einer exemplarischen Analyse des Palazzo Medici-Pozzani "auf ihre Tauglichkeit für das spätmittelalterliche Verona hin" zu überprüfen und zu belegen. (S. 42ff.)
Für das Verständnis der Villa als "eine Facette des städtischen Lebens auf dem Lande" (S. 72) ist dem Verfasser wiederum Leon Battista Alberti Gewährsmann. Burkart legt dar, dass Venedig qua Rechtsnachfolgerin der Familie Della Scala während des Quattrocento Besitzungen im Umland Veronas verkaufte und damit dem städtischen Patriziat den Ausgriff über die Stadtmauern auf den 'contado' ermöglichte. Am Beispiel des Grundbesitzerwerbs durch die Familie Lafranchini wird der Nachweis geführt, dass das veronesische Patriziat sein ökonomisches und politisches Vermögen auf den 'distretto' ausdehnte und durch entsprechende "Signaturen familialer Repräsentation" sichtbar zum Ausdruck brachte. Zu den patrizischen "Repräsentationsgesten" rechnet Burkart die Villa, Bautyp und Lebensform zugleich, der er "zwei fundamentale Bedeutungsebenen" zuschreibt: "Antikenrezeption und Repräsentation". (S. 79) Nicht eben originell, erweist sich diese Behauptung sowohl in Hinblick auf die bischöfliche Villa in Monteforte d’Alpone als auch auf die Villa Rizzoni in Quinzanoals zutreffend.
Unter "frommen Stiftungen" versteht Burkart – wie dies in der Umgangssprache der Wissenschaft nach wie vor üblich ist, obgleich die einschlägigen Studien O. G. Oexles und M. Borgoltes einen differenzierten und präzisen Umgang mit Sache und Begriff ermöglichen – nicht allein die Seelgerätstiftungen, sondern auch die mit den Seelgerätstiftungen in Zusammenhang stehenden Bildinvestitionen. An drei Beispielen, namentlich der Cappella Medici in San Bernardino, der Libreria Sagramosa und der Stiftungen des Cristoforo Lafranchini in Sant’Eufemia, demonstriert der Verfasser, wie das Veroneser Patriziat die frommen Bildinvestitionen für die Visualisierung sozialer Zusammenhänge und die Selbstdarstellung zu nutzen verstand.
Unter der überschrift "Die äußere Stadt" befasst sich das zweite Kapitel mit der "kollektiven Bildproduktion der Kommune", das heißt im Einzelnen mit dem politischen Zentrum (Piazza Signori) und dem ökonomischen Zentrum (Piazza Erbe), mit den kommunalen ämtern und mit den Ritualen vor den Augen der öffentlichkeit.
Den Bau des neuen Ratssaales, der Loggia del Consiglio, interpretiert Burkart als Inszenierung der Kommune im Sinne einer autonomen Herrschaft, für die man im Programm der 'Verona romana' eine angemessene Form fand. Die Domus Pietatis, die sich an die Loggia unmittelbar anschließt, setzt in ihren antikisierenden Fassadenmalereien dieses Programm fort. Auch auf der Piazza Erbe, dem wichtigsten Handelsplatz Veronas, auf dem die Ordnung der städtischen Wirtschaft wohl kalkuliert inszeniert wurde, macht der Verfasser einen Verweis auf die antike Tradition der Stadt aus: Der Brunnen der 'Madonna Verona', der von Cansignorio Della Scala errichtet worden war, wurde "zum Symbol des städtischen Kollektivs schlechthin" (S. 336) umgedeutet, indem man der antiken Statue ein Spruchband verpasste, das in Form und Inhalt das Programm der Piazza Signori wiederholt.
Der Rezensentin fällt es schwer, die kommunalen ämter "ebenfalls als Plätze der Stadt [zu] verstehen". (S. 149) Gleichwohl belegen Burkarts Ausführungen zur Zusammensetzung des städtischen Rates und seine sorgfältige Analyse der diachronen Partizipation bestimmter Familien an der kommunalen Administration nicht allein eine beeindruckende Forschungsarbeit, die der Verfasser in Archiven geleistet hat, sondern auch seinen souveränen Umgang mit dem zu Tage geförderten Material.
Mit dem größten Vergnügen hat die Rezensentin die Einlassungen über die Rituale der öffentlichkeit, genauer gesagt die Analyse der 'Actio Pantea' gelesen. Dem Verfasser gelingt es, diesen Festumzug anlässlich der Dichterkrönung des Veroneser Gelehrten Panteo überzeugend als politische Inszenierung kommunaler Herrschaft und deren Träger zu deuten, indem er das Programm des Umzuges auf das Ausstattungsprogramm der Loggia del Consiglio bezieht und ihn damit in die Programmidee der 'Verona romana' einbindet.
Im dritten Teil behandelt Burkart "Die Stadt als herrschaftliche[n] Bilderraum", das heißt diejenigen Bilder, die Kaiser Maximilian I. während seiner siebenjährigen Herrschaft und die venezianischen Machthaber in Verona hinterlassen haben. Die Rekonstruktion der kaiserlichen und der venezianischen Bildinvestitionen um 1500 fördert allerdings mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zu Tage: Während die venezianische Republik weder im 15. Jahrhundert noch nach der Restauration ihrer Gebietsansprüche auf der Terraferma nach 1517 die Stadt Verona mit Gesten venezianischer Staatsrepräsentation überzog und den Bildexport aus der Lagune beinahe ausschließlich auf das Wahrzeichen der Republik, den Markuslöwen, beschränkte, versuchte Kaiser Maximilian, "den städtischen Bilderraum kolonial zu besetzen". (S. 344)
Das Schlusskapitel bemüht sich darum, den Zusammenhang von Bildproduktion, städtischer öffentlichkeit und Herrschaft in Verona um 1500 noch einmal zusammenfassend herauszuarbeiten.
Als erfreuliche Eigenschaft der Arbeit ist nicht zuletzt ihre sprachliche Verfasstheit hervorzuheben. Da der sichere Umgang mit der Schriftsprache keineswegs mehr zu den Fähigkeiten Studierender gehört und die Fehlerhaftigkeit in Rechtschreibung und Zeichensetzung inzwischen zu den Mängeln zu zählen ist, die oftmals die Lektüre von Qualifikationsliteratur (zunehmend leider auch von anderen wissenschaftlichen Texten) erheblich beeinträchtigen, ist die Ausnahme eines nahezu fehlerfreien und sorgfältig formulierten Textes ausgesprochen wohltuend.
Lucas Burkart verschafft dem Leser eine ausgesprochen anregende und angenehme Lektüre. 'Die Stadt der Bilder' bietet eine Fülle neuen Materials und eine Reihe interessanter überlegungen. Eine kritische Bemerkung aus der Tastatur einer Kunsthistorikerin sei zum Schluss jedoch erlaubt: Wer die Einleitung, die methodische überlegungen entfaltet, aus kunsthistorischer Perspektive liest, sieht sich mit größtem Befremden erschreckenden Vorurteilen gegenüber dem eigenen Fach ausgesetzt: Lucas Burkart tut so, als wären Kunsthistoriker auch noch im ausgehenden 20. Jahrhundert überwiegend damit beschäftigt gewesen, Kunstwerke unter ausschließlich ästhetischem Aspekt zu betrachten. Dass das ästhetische Paradigma in der Kunstwissenschaft schon vor etwa 100 Jahren durch andere Forschungsinteressen ergänzt wurde, dass die Kunstgeschichte seit Jahrzehnten Kontextforschung betreibt, dass sie sich selbst als "Bildwissenschaft" mit erweitertem Zuständigkeitsbereich begreift, scheint dem Verfasser entgangen zu sein.
zurück zu KUNSTFORM 2 (2001), Nr. 4