Rezension
In ihrer Kieler Dissertation geht Kerstin Petermann der 1996 im Rahmen des Hildesheimer Kolloquiums "Malerei und Skulptur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit in Norddeutschland" von dem Berliner Restaurator Eike Oellermann zur Diskussion gestellten These nach, ob nicht Bernd Notke ausschließlich als Tafel- und Fassmaler gearbeitet habe und nicht - wie noch von J. Roosval (1906ff.) und W. Paatz (1939) vertreten - als Bildschnitzer anzusprechen sei. Glückliche Voraussetzungen für eine Neubewertung schufen die in den vergangenen Jahren erfolgten umfangreichen Restaurierungen und technischen Untersuchungen an den Hauptwerken Notkes: Das sind zum einen die drei urkundlich gesicherten Werke, zu denen das Triumphkreuz und die Lettnerverkleidung im Lübecker Dom von 1477, das Hochaltarretabel im Dom zu Århus von 1479 und das Hochaltarretabel in der Heilig-Geist-Kirche in Reval/Tallinn von 1483 zählen, zum anderen die beiden zugeschriebenen Arbeiten, womit der Totentanz in Reval/Tallinn und die große St. Jürgen-Gruppe in der Nikolaikirche in Stockholm von 1489 gemeint sind. Warum die Flügel des Johannesretabels der Schonenfahrer im Lübecker St. Annen-Museum, die im Hauptteil zu Recht als sechstes Werk vorgestellt werden, weder im Klappentext noch im Vorwort Erwähnung finden, ist unverständlich.
Auf der Grundlage der bislang publizierten oder als Dokumentationsmappen zugänglichen Restaurierungsberichte untersucht Petermann den kunsttechnologischen Befund und führt die Einzelergebnisse vergleichend zusammen, um Aufschlüsse über die Arbeitsweise und Organisation der Werkstatt Notkes zu gewinnen. Dabei sind auch die den Figuren beigegebenen, authentischen schriftlichen Zeugnisse herangezogen worden, die im Falle der Lübecker Triumphkreuzgruppe die Namen der Mitarbeiter und deren künstlerischen Anteil überliefern.
So wertvoll diese Zusammenstellung der Ergebnisse der Restaurierungsberichte unter der genannten Fragestellung auch ist, flankierende Untersuchungen über den stilistischen und ikonographischen Befund werden leider nicht in ausreichendem Maße durchgeführt, obwohl sie zahlreiche Anhaltspunkte auch für die von Petermann verfolgte Frage nach der Datierung und Einordnung der Werke und der künstlerischen Herkunft Notkes hätte geben können.
In der Arbeit nehmen die exakten Beobachtungen der Oberflächengestaltung einen wichtigen Platz ein. Die präzise Autopsie der technologischen Einzelbefunde führt zu der Erkenntnis, dass zwar eine Vielzahl unterschiedlicher Hände arbeitsteilig in enger Abstimmung an der Ausführung der Großaufträge beteiligt war und dass aus diesem Umstand der spürbare Stilpluralismus resultiert, doch der Entwurf und die ästhetische Gesamtauffassung, die sämtliche Einzelteile erst zu einem kohärenten Ganzen verbindet und künstlerisch auszeichnet, dem Werkstattleiter oblag.
Der genauen Beschreibung der schnitz- und fasstechnischen Merkmale geht leider keine Analyse der Figurenkonzeption, des Retabelaufbaus oder des ikonographischen Programms voraus. Deshalb wird der Leser oft durch die Beschreibungen der sicherlich gut beobachteten Details ermüdet, und er läuft Gefahr, die eigentliche Fragestellung aus den Augen zu verlieren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ohne dass das Programm zuvor genau analysiert wurde, arbeitet sich der Leser durch Detailbeschreibungen wie diese hindurch: "Das Weiße des Augapfels schimmert bläulich und umschließt entweder eine dunkelblaue Iris bei blonden oder grauhaarigen Figuren oder eine braune bei dunkelhaarigen. Die Iris ist durch einen dunklen Umrissstrich vom Augenweiß geschieden, die schwarze Pupille weist punktförmige Glanzlichter - so z. B. am Auge der hl. Gertrud einen weißen Punkt auf der Pupille - und an einigen Figuren eine weiße Kontur auf." (S. 106)
Dies sind Spezialforschungen, die auf einen Laien trotz leicht eingängiger Diktion ermüdend wirken.
Kommen wir zu den Ergebnissen: Es überrascht sicherlich nicht, dass sich hinter dem Fassmaler und dem Bildschnitzer nicht ein und dieselbe Person verbirgt. Auch dass die Werke arbeitsteilig geschaffen wurden, beispielsweise der Bau des Schreins einer anderen Werkstatt überantwortet wurde, und dass Notke angesichts dieser Großaufträge mehr als die von der Zunft vorgegebene Anzahl an Mitarbeitern beschäftigt hat, leuchtet ein. Sehr klar und nachvollziehbar hat Petermann die Leistung der einzelnen Mitarbeiter und die Dauer ihrer Tätigkeit in Notkes Werkstatt bestimmt. Festzustehen scheint nun, dass dort neben einem Maler und einem Bildschnitzer drei Zubereiter gearbeitet haben. Das noch von Paatz vertretene Urteil, die stilistischen Unterschiede zwischen den Lübecker und Århuser und den späteren Revaler und Stockholmer Werken seien auf einen Stilwandel zurückzuführen, ist damit obsolet geworden. Spannend ist zudem der Blick auf die Finanzierung der Aufträge, d. h. in welchem Umfang vom Auftraggeber ein Vorschuß geleistet wurde und in welchem Umfang Notke die außerordentlich aufwändigen Arbeiten selbst vorfinanzieren bzw. durch Bürgschaften absichern musste.
Worin besteht nun die Leistung Notkes? Ist er nur - so Moltke - als Unternehmer anzusprechen? Petermann stimmt Oellermann in vollem Umfang zu: Notke stand als Maler der Werkstatt vor, in seiner Gesamtverantwortung wurden die Werke gefertigt. Die Unterschiede zwischen den Unterzeichnungen und der ausgeführten Malerei im Århuser und Revaler Retabel beweisen, dass seine Mitarbeiter auch die Formfindung relativ selbstständig, wohl aber unter den Vorgaben des von Notke gelieferten Gesamtentwurfs gestalten konnten. Als selbstständige Leistung eines Mitarbeiters können die von Petermann als von der niederländischen Tafelmalerei beeinflussten Außenflügel mit der Darstellung des Schmerzensmannes und der hl. Elisabeth des Revaler Retabels bestimmt werden.
Sicherlich zu einseitig geht jedoch die Autorin die Untersuchung zu Notkes künstlerischer Herkunft an, wenn sie sich erneut fast ausschließlich auf die technologischen Befunde beruft, nicht jedoch nach den ikonographischen Vorbildern für seine Bildfindungen fragt. Der schon von Hasse verfolgten These nach einer Schulung in Nähe der Tapisseriewerkstätten von Tournai, vielleicht in derjenigen von Pasquier Grenier, schließt sich Petermann mit dem Paatzschen Hinweis auf die "an einen Bildteppich erinnernde Komposition" an. Im Rückgriff auf die Forschungen von Charles Sterling schlägt die Autorin eine Orientierung an einer von Nicolas Froment bestimmten Richtung der nordfranzösischen Tafelmalerei vor, die wiederum dem Stil der Tapisserien von Arras und Tournai nahe steht.
Doch m. E. offenbaren auch die Tafeln des Århuser Retabels eine Motivverwandtschaft mit der deutschen Graphik, beispielsweise mit den zeitgleich entstandenen Holzschnitten bzw. Kupferstichen von Martin Schongauer und Israhel van Meckenem - Bezüge, die einer genaueren Untersuchung wert wären.
Zu Recht weist Petermann den Vorschlag Hasses nach einer Vorbildlichkeit von Meister Arnt von Kalkar (besser: Arnt van Wesel oder Zwolle) zurück, obwohl sicherlich Parallelen in der Wahl der breiten Möglichkeiten der mittelalterlichen Fassmalerei gerade unter Einbeziehung unterschiedlichster Materialien wie Leder, Pergament, bemaltem Papier, Schnüren aus Hanf bestehen - für die Werkstatt Notkes ist darüber hinaus charakteristisch der Einsatz von Elchgeweihen (!) und Glas- und Metallapplikationen.
Ein etwas trauriges Kapitel der sonst soliden Buchgestaltung bildender Farb- und der sehr umfangreiche Schwarzweißabbildungsteil: Die Farbtafeln sind durchweg sehr rotstichig, die Schwarzweißabbildungen hingegen ausgesprochen flau.
Trotz einzelner kritischer Anmerkungen ist die Arbeit durch die Neubewertung der künstlerischen Leistungen Bernt Notkes zur Lektüre zu empfehlen.
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