Rezension
Der vorliegende Band gehört zu jenen Einzelwerkmonografien von überschaubarem Umfang, die seit einigen Jahren in verschiedenen Verlagshäusern produziert werden, um ein Lesepublikum zu erreichen, das den Experten ebenso wie den kunstinteressierten Laien umfasst.
Erfreulich ist das Erscheinungsbild des Buches: Die hohe Papierqualität, die Fadenheftung, das ansprechende Druckbild und die Abbildungen von überwiegend ordentlicher Qualität führen dazu, dass man das Bändchen von Christoph Bertsch mit Vergnügen zur Hand nimmt, zumal der gewählte Gegenstand, Pontormos "Heimsuchung" (um 1528-29, öl auf Holz, Carmignanobei Florenz, Pfarrkirche San Michele), in mancher Hinsicht noch immer ein Rätselgebilde darstellt, das eine monografische Würdigung verdient. Doch währt die Freude im Umgang mit dem Buch nicht lange.
Man wird verstimmt, sobald man mit der Lektüre beginnt. Die Tatsache, dass der Text unlektoriert in den Druck gegeben wurde, ist offenkundig. Wer anfängt, das Buch mit dem Rotstift durchzugehen, kommt aus dem Korrigieren orthografischer Fehler nicht heraus ("Certosa di Galluzo", "das starke jenseits bezogene Bedürfnis", "Vincenco Borghini", "differgierend", "Talmut" usw.). Auch an schiefen, unfreiwillig komischen Formulierungen besteht kein Mangel; hier nur wenige Beispiele: "Pontormo gilt [...] als einer der bedeutendsten Künstler im Auftrage der Medici." (S. 13); "Savonarola [...] kann innerkirchlich als ein letzter Reformversuch gesehen werden." (S. 22); "Auch die Maße des Werks lassen eher auf ein Privatbild schließen, denn an ein Altartafel für eine Kirche." (S. 33); "Unser Wissen über die Hexen beruht meist auf den Akten der Hexenprozesse, wobei dem Teufelspakt ein zentrales Motiv zukommt." (S. 76).
Der Stachel des Zweifels sitzt tief: Kann ein Buch, dessen sprachliche Verfasstheit den Mindestanforderungen, die an wissenschaftliche Prosa zu stellen sind, mitnichten genügt, durch seinen Inhalt überzeugen?
Es ist die erklärte Absicht des Verfassers, den Kontext von Pontormos "Heimsuchung" in real- und ideengeschichtlicher Hinsicht zu rekonstruieren und die ästhetische Struktur des Bildes freizulegen. In acht Kurzkapiteln, denen eine knappe Vorbemerkung vorangestellt ist, sucht Bertsch diese Absicht zu verfolgen: Ausgangspunkt der Darlegungen ist die Persönlichkeitsstruktur Jacopo Pontormos (1494-1557), die der Verfasser bereits in der Vorbemerkung mit dem Schlagwort Melancholie belegt hatte. Die psychische Verfasstheit des gesellschaftlichen Außenseiters Pontormo (soweit diese sich überhaupt historisch fassen lässt!) erfordere eine "wissenschaftliche Vorgangsweise", die "auf Unausgesprochenes im Werk Rücksicht nimmt, den Geschichtsbegriff umfassend versteht, Gefühlen und seelischen Intentionen ihren Platz läßt und Bildaussagen nicht auf archivalisch faßbare Fakten reduzier". (S. 16)
Im zweiten Kapitel fasst Bertsch die wechselvollen Zeitläufte zusammen, welche die Stadt Florenz während der Jahrzehnte zwischen dem Wirken Savonarolas (hingerichtet 1498) und der Errichtung des Prinzipates durch die Familie Medici (1530) erfuhr. Wenn die Rezensentin die kompakten Ausführungen recht verstanden hat, möchte der Verfasser seinen Lesern vermitteln, 1) dass Pontormo mit den republikanischen Kräften in Florenz sympathisierte, während der letzten Florentiner Republik eine letzte fruchtbare Schaffensphase erlebte und im Laufe des Medici-Prinzipates "sein Interesse an vollendeten Werken immer mehr zu verlieren" schien (S. 24), 2) dass sich der Auftraggeberkreis des Künstlers überwiegend aus Anhängern der Republik zusammensetzte, dass man folglich auch für die "Heimsuchung" in Carmignano einen Auftraggeber republikanischer Gesinnung anzunehmen habe. (Erst an späterer Stelle nennt Bertsch die Familie Pinadori als Auftraggeber, die er wenig überzeugend als Gegner der Medici darzustellen sucht [S. 34].) Der Verfasser legt Wert auf die Feststellung, dass die nicht sicher, aber von der Mehrheit der Forschung auf 1528-29 datierte "Heimsuchung" in der letzten Phase der Republikgeschichte entstanden ist. Die Frage, wie sich eine republikanische Gesinnung in einer "Heimsuchung" ausdrücken könne, ist ihm nicht zum Problem geworden.Das Bild bleibt außen vor. In den ersten beiden Kapiteln der vorliegenden Einzelwerkmonografie ist von allem Möglichen die Rede - nur nicht von dem Werk selbst. Dieses Versäumnis holt Bertsch im dritten Kapitel nach.
Im zentralen, dritten Kapitel breitet der Verfasser eine Fülle von Beobachtungen an dem Bild und Vermutungen über das Bild aus, die sich einer Zusammenfassung in Thesenform verweigern. Zwei Kernbehauptungen lassen sich immerhin aus der Materialmasse herauspräparieren: Erstens stellt Bertsch fest, dass Pontormos "Heimsuchung" nicht als Altarbild für die Kapelle der Familie Pinadori geschaffen worden sei, sondern als "Privatbild" für die Villa Pinadori. (Die Maße, die gegen eine ursprüngliche Verwendung des Gemäldes als Altarbild sprechen sollen, sind ein schwaches Argument: Abmessungen von 202 cm auf 156 cm entsprechen nämlich dem durchschnittlichen Format von Nebenaltarbildern!) Zweitens lässt Bertsch die Tatsache, dass Vasari das Bild nicht erwähnt, mutmaßen, "daß es unmittelbar nach Fertigstellung in der Villa Pinadori unter Verschluß gehalten wurde". (S. 52) Falls Vasari das Bild aber gekannt und bewusst verschwiegen haben sollte, so müsse es dafür "wohl schwerwiegende inhaltliche Gründe geben". (S. 34) Fazit: Die "ausschließliche Interpretation als Heimsuchung" müsse wohl "als eine zu vordergründige, eindimensionale Betrachtungsweise erscheinen, die diesem äußerst vielschichtigen Bild mit differenzierten Bedeutungsebenen nicht gerecht werden kann". (S. 52) Folgerichtig schlägt Bertsch vor, den Bildinhalt nicht mehr ikonografisch eng als Heimsuchung zu bestimmen, sondern weiter als "Vier Frauen in Carmignano" zu fassen.
Die vielen semantischen Schichten sucht Bertsch in den anschließenden Abschnitten freizulegen. Der assoziative Denkstil führt jedoch zu einer Folge unverbundener Kurzkapitel, die in aller Regel der Frage ausweichen, wie die in ihnen ausgebreiteten Zettelkastenfunde mit Pontormos "Heimsuchung" in einen historisch präzisen oder auch nur plausiblen Zusammenhang zu bringen sind. Den einschlägigen Vergleich mit Dürers Stich "Vier Hexen" lässt sich der Leser noch gefallen, auch das Bemühen, jenseits formaler ähnlichkeiten inhaltliche Berührungspunkte auszumachen, wenngleich das Ergebnis dieser Bemühungen nicht zu überzeugen vermag und für den Fortgang des Textes Schlimmstes befürchtenlässt.
In seinem Kapitel "Häretische und philosophische Bewegungen zu Beginn des 16. Jahrhunderts" bietet Bertsch vermischte Bemerkungen zur Sola-fide-Lehre, zum Neuplatonismus und zur Kabbala und überlässt es dem Leser, darüber zu spekulieren, warum diese Exzerpte Aufnahme in ein Buch über Pontormos "Heimsuchung" gefunden haben. Es ist wohl kein Zufall, dass das Bild auf diesen dreieinhalb Druckseiten nicht einmal erwähnt wird.
In dem anschließenden Kapitel - "Auffällige Frauen" überschrieben - wird dem Leser abverlangt, ungeordnete Betrachtungen zum Hexenwesen in der Toskana und zur Dichotomie Hexe-Heilige auf das Bild zu beziehen. Dem Verfasser scheint die Feststellung von Bedeutung, dass "Hexen und Heilige[...] Ekstasen, kurze Erscheinungen und Visionen oder sogenannte Entführungen, länger dauernde übergänge in andere Seinsebenen" erleben. (S. 78) Dieser Befund bringt ihn dazu, im nächsten Kapitel Anmerkungen zum Thema "Luftleib, Schatten, pilgernder Geist" auszubreiten, die in der Mutmaßung gipfeln, dass die beiden in Frontalansicht dargestellten Frauen als "Luftleiber" von Maria und Elisabeth zu verstehen seien. (S.81)
Im vorletzten Kapitel, in dem Bertsch "Weitere Werke Pontormos zur Zeit der zweiten Florentiner Republik" (so die überschrift) aufzählt, ist ein Resümee der vorangegangenen Analysebemühungen versteckt: "Reinigung als Trennung von Seele und Leib, der wandernde Geist, weibliche Prinzipien, Fruchtbarkeit und Schwangerschaft, die Verwandlung und Transformation, eine Entwicklung vom Niedrigen zum Höheren, vom Grobstofflichen zum Feinstofflichen werden thematisiert und in den aktuellen Rahmen der zweiten Florentiner Republik gestellt." (S. 92) Unumwunden muss die Rezensentin zugeben, dass sie nichts von dem nachvollziehen kann.
Am Ende des Buches angekommen, haben sich die Fragen, die Pontormos "Heimsuchung" stellt, mitnichten verringert.
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