Rezension

Reinhard Wegner: (Hg.) Deutsche Baukunst um 1800. , Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2000,
Buchcover von Deutsche Baukunst um 1800
rezensiert von Meinrad von Engelberg, Technische Universität, Darmstadt

Der Titel des Sammelbandes spielt, wie das Vorwort ausdrücklich erklärt, auf Paul Mebes berühmtes Buch "Um 1800" von 1908 an. Dem Autor war es vor allem darum zu tun gewesen, die deutsche Architektur jener Epoche als "vorbildlich für seine Zeitgenossen" darzustellen und "als einer der ersten die Frage nach der ästhetischen Qualität der autonomen Form" zu stellen.

Die durch den Titel intendierte Anlehnung überspielt somit das diametral entgegengesetzte Interesse der Forschung ein Jahrhundert später. Nicht mehr autonome ästhetische Fragen oder gar die Vorbildhaftigkeit für unsere Zeit stehen im Vordergrund, sondern im Gegenteil der Versuch einer möglichst vollständigen Einbindung der Baumeister und ihrer Werke in den historischen und geistesgeschichtlichen Kontext ihrer Epoche. Daß Mebes mit seinem fast textlosen Bildband eine methodisch völlig andere Annäherung an die Baukunst um 1800 suchte, belegt schon ein lapidarer Satz im Vorwort der 2. Auflage von 1918: "Von der Vervollständigung der geschichtlichen Angaben [...] wurde grundsätzlich Abstand genommen."

Die Einbeziehung dieser "geschichtlichen Angaben" ist aber gerade das verbindende Anliegen aller acht Aufsätze des neuen Sammelbandes; damit liegen sie zweifellos im Mainstream heutiger Kunstwissenschaft. Die Mehrzahl der Autoren gehört wie der 1998 an die Universität Jena berufene Wegner zur mittleren und jüngeren Forschergeneration; die Aufsätze sind meistenteils Parerga der jeweiligen Dissertation bzw. Habilitationsschriften zu verwandten Themen.

Alle Beiträge beschäftigen sich mit der vorwiegend protestantisch geprägten Baukunst zwischen Ilm, Oder und Spree, so daß - im Unterschied zu Mebes - Hamburg und Altona ebenso unberücksichtigt bleiben wie der frühe Klassizismus in Baden, Oberschwaben, Stuttgart oder München. Wien als ein weiteres bedeutendes Kunstzentrum wird durch den Text von Jerzy K. Kos über die erste Schaffensperiode von Carl Gotthard Langhans im ehemals österreichischen Schlesien zumindest tangiert. Es gelingt dem Autor in seinem solide gearbeiteten und materialreichen Beitrag, die engen Verbindungen zwischen Breslau und Wien auch für die Jahrzehnte nach 1763 zu belegen, in denen die Provinz bereits an Preußen gefallen war.

Die Vorzüge und Schwächen des hier vorherrschenden kontextuellen Ansatzes zeigen sich besonders plastisch in den beiden Aufsätzen des Herausgebers zum Brandenburger Tor und zur Leipziger Nikolaikirche.

In dem "Barrières für Berlin" überschriebenen erstgenannten Beitrag stellt Wegner das ab 1788 von Karl Gotthard Langhans errichtete Stadttor überzeugend in den Rahmen der spannungsreichen Regentschaft des von der historischen Forschung lange Zeit übergangenen Königs Friedrich Wilhelm II.: Die ungewöhnliche Gestaltung des Bauwerks erklärt sich so überzeugend als Verbindung widerstreitender Ziele, nämlich der vom König ausdrücklich geforderten möglichst großen "Durchsichtigkeit" des Tores und seiner gleichzeitigen Sperrfunktion als Teil der Akzisemauer rund um Berlin, die (gleich den formal "revolutionären" Pariser Zollhäusern von Ledoux) Instrument einer überholten merkantilistischen Wirtschaftspolitik war.

Weniger hilfreich erweist sich die Konzentration auf den Kontext für die Deutung des Umbaus der Leipziger Nikolaikirche nach 1783. Der konkrete Bau dient Wegner hierbei nur als Anlaß für eine Untersuchung über das Verhältnis von "Gotik und Exotik im Zeitalter der Aufklärung". Er beschränkt sich ganz auf die ikonologische Betrachtung des auffälligsten Motivs dieser Kirchenrenovierung, nämlich die Verwandlung der gotischen Stützen in palmenartige Säulen. Interessant erscheint Wegners Hinweis auf die spezifische Gestaltung der Stützen durch den Architekten J.F.C. Dauthe: Indem dieser eine antikisierende Säule mit einem naturalistischen Blattkranz kombiniere, leiste er einen Beitrag zu jener für die ästhetische Diskussion der Aufklärung typischen "Antithese von Kunst und Natur".

Die Lösung Dauthes ist aber noch raffinierter, denn sie vereint naturalistische Palmblätter mit einem Palmblattkapitell, das nicht zu den kanonischen Ordnungen der antiken Kunst gehört, sondern de facto eine klassizistische Neuschöpfung ist. Diese Verdoppelung des Motivs ist wohl kaum als "krasser Gegensatz" zu verstehen, aber vielleicht als Metamorphose oder Anspielung auf die bekannte vitruvianische Entstehungslegende des korinthischen Kapitells durch Naturbeobachtung?

Die Verbindung von "Gotik und Exotik" in einem Kirchenraum ist übrigens nicht vorbildlos in Deutschland: Die Umdeutung gotischer Rippen in Palmen wurde schon 1775-77 von Michel d'Ixnard bei der Umgestaltung des Konstanzer Münsterchores erprobt - auch dies "Deutsche Baukunst um 1800", freilich im katholischen Süden. Vielleicht kannte Dauthe auch die Palmbaumstützen an der um 1697 erbauten oberen Nordempore der Marktkirche in Halle.

Erik Forssmann verweist darauf, daß Goethe nicht erst nach Italienfahren mußte, um palladianisch geprägte Baukunst kennenzulernen: Er war, wie eine datierte Zeichnung belegt, bereits 1778 in Wörlitz zu Gast. Schinkels nie realisierter Entwurf zum Lustschloß Orianda auf der Krim (1838) wird hier in Bezug zu dem von Faust am Ende des zweiten Teils der Tragödie errichteten Palast am Meer gesetzt: Dichter und Architekt kannten und schätzten einander.

Ulrich Müller beschreibt mit der "Sehnsuchtslandschaft Tempe" den auf Ovid und Aelian zurückgehenden, heute weitgehend vergessenen Topos einer idealen arkadischen Flußlandschaft.

Klaus Jan Philipp beleuchtet die Vorbildfunktion von Paris anhand der Reiseberichte Friedrich Gillys und Wilhelm von Wolzogens, eines Weimarer Legationsrates, der als erster 1798 in einer deutschen Zeitschrift über Ledoux' Zollhäuser berichtete. Interessant ist vor allem Wolzogens titelgebendes "Rendez-vous bei Boullée", bei dem ausführlich die im Atelier des Architekten aufgehängten Pläne für den Newton-Kenotaph und andere phantastische Entwürfe diskutiert und kurioserweise als "mit wenigen Kosten" ausführbar charakterisiert wurden.

Zwei abschließende Beiträge beschäftigen sich mit Heinrich Gentz, dem Architekten der Berliner Münze und des Weimarer Schlosses.

Michael Bollé stellt die Frage nach Zweck und Nutzen der aufwendigen Italienreisen vieler Architekten, die doch weitgehend den touristisch ausgetretenen Pfaden nach Rom und Paestum folgten. Außerdem diskutiert der Autor die Position von Gentz in der aktuellen Debatte um die normative Bedeutung der Säulenordnungen.

Rolf Bothe untersucht die Anteile von Goethe (er war über viele Jahre Spiritus rector der Baukommission) und Gentz an der Gestaltung des ab 1789 wiederaufgebauten Weimarer Schlosses. Das nach 1801 errichtete Treppenhaus, eine symmetrisch verdoppelte, gegenläufige Anlage über einer Durchfahrt, erscheint dem Autor nicht denkbar ohne die Kenntnis englischer Treppenhallen, die Gentz auf einer Studienreise nach London hatte erwerben können, weshalb ihm Bothe den Hauptanteil an der Planung und auch an einer umstrittenen Skizze zuschreiben will. So bedeutend die britischen Vorbilder aber für die dekorative Detailgestaltung waren, so wenig überzeugend ist die Herleitung des architektonischen Typus von dort: Gerade die symmetrische Verdoppelung wird von den Adams (wie in Frankreich) als unnötig vermieden. Hierin folgte man in Weimar der deutschen barocken Schloßtradition und Vorbildern, wo sich auch schon die Durchbrechung der Decke für ein Oberlicht findet. In Weimar dient sie nicht der direkten Belichtung durch ein verglastes Opaion wie in England, sondern führt nur (wie in Augustusburg (Brühl) oder Schleißheim) auf eine indirekt beleuchtete Galerie im oberen Stockwerk.

Die Aufmachung des Bandes ist, ebenso wie die Qualität der Abbildungen, durchwegs erfreulich, die Textredaktion weist leider die heute anscheinend unvermeidlichen Spuren einer nicht sorgfältig getilgten Umformatierung der ursprünglichen Dateien auf. Es erscheint symptomatisch für die additive Struktur des Bandes, daß ein Literaturverzeichnis oder Register fehlt.

Das Buch enthält manches interessante Detail zur wissenschaftlichen Aufarbeitung vor allem der preußischen Architektur um 1800 - der Titel verspricht freilich eine Universalität und Allgemeingültigkeit, welche die Summe der Einzelbeiträge verständlicherweise nicht erfüllen kann. Wer aufgrund des vielversprechenden Covers hofft, mit diesem Band einen umfassenden überblick oder wegweisende neue Impulse zu erhalten, wird enttäuscht. Der Autor des Vorwortes hat solche übergreifenden Fragen sehr wohl in den Raum gestellt: Wie substanziell "revolutionär" ist die sogenannte "Revolutionsarchitektur"? Warum erliegt sie "um 1800" "den normativen Kräften des sich herausbildenden bürgerlichen Geschmacks"? In welchem Zusammenhang steht sie mit der "gründlich erforschten Ideengeschichte dieser Zeit"? Die neuen programmatischen Ansätze zur Deutung der Bildkünste im 19. Jh. von Werner Busch und Werner Hofmann werden als vorbildlich erwähnt, ohne daß Wegner und seine Mitstreiter hier ähnliches für die Architektur versuchen würden.

Der Band ist ausreichend mit Abbildungen ausgestattet, aber diese dienen oft als eher beiläufige Illustrationen zum Text, aber nur selten als "Primärquellen", mit denen zum Zweck der Erkenntnis argumentiert würde. Die Mehrheit der Beiträge erlitte keinen substanziellen Abbruch, wenn der Band ohne Tafeln erschienen wäre: Die wesentlichen Aussagen werden nicht aus den Entwürfen selbst, sondern aus der begleitenden Quellenlektüre gewonnen. Hieraus ergeben sich durchaus relevante Einzelerkenntnisse, aber leider kein plastisches, zusammenhängendes oder gar neuartiges Bild der "Deutschen Baukunst um 1800".


Meinrad von Engelberg

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Meinrad von Engelberg: Rezension von: Reinhard Wegner: (Hg.) Deutsche Baukunst um 1800. , Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2000
in: KUNSTFORM 1 (2000), Nr. 2,

Rezension von:

Meinrad von Engelberg
Technische Universität, Darmstadt

Redaktionelle Betreuung:

Jan Mohr