Rezension

Raphael Rosenberg: Beschreibungen und Nachzeichnungen der Skulpturen Michelangelos. Eine Geschichte der Kunstbetrachtung, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2000,
Buchcover von Beschreibungen und Nachzeichnungen der Skulpturen Michelangelos
rezensiert von Andreas Thielemann, Bibliotheca Hertziana, Rom

Am Anfang des Buches, das aus der Basler Dissertation des Verfassers hervorging, wird die Frage gestellt, ob sich das Sehen von Werken der bildenden Kunst im Laufe der Zeit entscheidend verändert hat. Der Autor verweist darauf, daß diese wichtige Frage bislang kaum empirisch untersucht wurde und kündigt sein Buch als einen ersten Schritt an, "diese Forschungslücke systematisch zu schließen". Dazu unternimmt er eine Katalogisierung und vergleichende Analyse von Beschreibungen und Nachzeichnungen der Skulpturen Michelangelos. Der Katalog der Nachzeichnungen umfaßt 446 Einträge und führt Nachzeichnungen nach allen Skulpturen Michelangelos auf, vom 16. bis zum 20. Jh., darunter auch zahlreiche unpublizierte Blätter. Die Katalogisierung der Beschreibungen (von 87 Autoren) ist hingegen auf die Skulpturen der Medici-Kapelle beschränkt. Gleiches gilt für die Auswertung des Materials, was aus arbeitsökonomischen Gründen einleuchtet. Die vorzüglichen Kataloge werden durch Tabellen und Indizes erschlossenen. über den historischen Rahmen, in dem die Zeich-nungen und Beschreibungen entstanden, informiert ein Anhang zur Bau-, Ausstattungs-und Nutzungsgeschichte der Medici-Kapelle, der erstmals die Entwicklung bis zum 19. Jh. beschreibt. Hervorzuheben sind sodann die fotografischen Neuaufnahmen der Medicigräber, die der Autor in professioneller Qualität anfertigte. Sie dienen dem Vergleich mit einzelnen Nachzeichnungen und sind von exakt der Position aus aufgenommen, von der aus der Zeichner arbeitete. In der systematischen Sammlung, Aufbereitung und Auswertung des Materials wurde hier ein hoher und in mancher Hinsicht neuer Standard gesetzt. Dem Buch, das verdientermaßen mit dem Wolfgang-Ratjen-Preis prämiert wurde, ist Nachfolge in der Rezeptionsforschung zu wünschen.

Das richtige Verständnis und die angemessene Würdigung der Hauptteile verlangt allerdings, daß man gewisse Erwartungen zurückstellt, die mit dem Untertitel und den einleitenden Teilen geweckt werden. Erst auf den Seiten 69-75 tauchen einige Splitter zu dem auf Wölfflin zurückgehenden Forschungstitel "Geschichte des Sehens" auf, die aber nur zur Abgrenzung vom Konzept der Stilgeschichte eingeblendet werden. Eine systematische Darstellung zu Gang, Stand und Perspektiven der Debatte um die "Geschichte des Sehens" wird nicht gegeben. Vielmehr gleitet Rosenberg noch im Vorwort von der Frage nach dem Sehen zum Begriff der "Betrachtungsgeschichte" und definiert seine Untersuchung schließlich als "Interpretationsgeschichte."

Die Verschiebungen des Forschungstitels lassen sich unschwer verstehen, denn Nachzeichnungen und Beschreibungen sind Resultate eines vielstufigen Vorgangs, bei dem die Momente der Rezeption nur insoweit Eingang finden, wie sie in den je spezifischen Produktionsprozeß integriert werden. Also ist die Rezeption nicht als solche, sondern nur in ihrem Wechselspiel mit den Zielen, Mitteln und Verfahren der jeweiligen Produktion zu fassen. Es war daher richtig, daß Rosenberg bei der Auswertung der Zeichnungen und Texte seine definitorischen Vorgaben weitgehend zurückstellte und unter einem weit gefaßten Begriff der "Interpretation" alles registrierte, was sich im Vergleich der Zeichnungen und Beschreibungen untereinander und mit den Skulpturen an Veränderungen studieren läßt: Auswahl (Standort, Ausschnitt), Akzentuierungen (formaler, motivischer und inhaltlicher Aspekte) und offensichtliche Abweichungen. Diese Gesichtspunkte genügten, um eine differenzierte Beschreibung der "Interpretationen" zu liefern. Die Ergebnisse dieser Erhebung konnten in einem konzisen Text fixiert werden.

Die Vorteile dieses Verfahrens liegen auf der Hand: Gerade wenn man einen mit zahlreichen bedingenden und korrelierenden Faktoren verflochtenen Aspekt wie das "Sehen" behandeln möchte, muß zunächst ein Gesamtbefund erhoben werden, indem dieses Beziehungsgeflecht noch nicht zerteilt ist. Glücklich war die Wahl des Oberbegriffs "Interpretation", der auch die Einbeziehung all dessen erlaubte, was in den Texten an Deutungen und Bewertungen vorkommt. Damit wurde dem Sachverhalt Rechnung getragen, daß es - auch bei der Rezeption von Kunstwerken - keine von den kognitiven und affektiven Akten abgegrenzte Sphäre reinen Sehens und Beschreibens gibt.

Im theoretischen Rahmenwerk wird dieses Problem allerdings nicht mit aller Konsequenz bedacht. Rosenberg unterscheidet nicht ausreichend zwischen seinem Erkenntnisziel und dem notwendigerweise weiter gefaßten Verfahren. Daraus ergeben sich definitorische Inkonsequenzen. Im Kapitel "Beschreibungen" werden die Wertungen und Deutungen als Grenzbereiche der Beschreibung definiert und in entsprechenden Unterkapiteln mit behandelt. In der Einleitung aber heißt es, daß nur die Beschreibungen im engeren Sinne, nicht jedoch die deutenden und wertenden Textteile zur Interpretation zu rechnen seien - was paradox wirkt, da der Begriff der Interpretation traditionell gerade jene Formen der Rezeption bezeichnet, bei denen die bewußten, produktiven und sinnstiftenden Momente dominieren. Diese Merkwürdigkeit erklärt sich aus dem in der Einleitung gewählten Ansatz: Rosenberg geht nicht von den inneren Mechanismen beim Verfertigen einer Nachzeichnung oder Beschreibung aus, nicht also vom Wechselspiel der rezeptiven und der aktiv konstituierenden Momente, sondern wählt gleichsam eine Außenperspektive auf sein Thema, in der das Primat der Rezeption verankert ist: Nachzeichnungen und Beschreibungen entstehen in einem einseitig gerichteten Prozeß der "übertragung". Das plastische Werk wird in ein anderes Medium übertragen und dabei "mit kategorial andersartigen Mitteln (Worten, Linien) (re)konstituiert". Hierbei akzentuiert Rosenberg den "Verlust": "Beschreibungen und Nachzeichnungen sind das Ergebnis einer individuellen und intentionalen Reduktion der Skulptur." Die Reduktion zwingt zu Auswahl, zu pointierter Aktualisierung und somit zur Interpretation. Dieser Zwang läßt sich auch durch den Vorsatz zur treuen übertragung nicht umgehen. Entsprechend seiner Ausgangsfrage ist Rosenberg vor allem an solchen eher minimalen Interpretationen interessiert, die überwiegend durch die Art des Sehens und den Prozeß der übertragung bedingt sind, in die Deutung und Bewertung nicht übermäßig und nicht vorsätzlich hineinspielen.

Aus dem breiten Spektrum der Ergebnisse sei nur eines herausgegriffen. Rosenberg zeigt, daß schon in manchen Zeichnungen des 16. Jh. die Kompositions- und Umrißlinien einzelner Skulpturen akzentuierend herausgestrichen werden, während die schriftlich verfaßten Analysen erst seit dem 19. Jh. solche Aspekte der formalen Komposition erschließen. Eine zeitliche Parallelität in der Entwicklungen der beiden Rezeptionsmedien ist hingegen zu konstatieren, wenn man nach den Reflexen auf die Gesamtkomposition fragt. Typisch für die erste Hälfte des 20. Jhdts. ist die Aufmerksamkeit, die man der pyramidalen Gesamtstruktur der Grabmäler widmete. A.E. Popp stellte sie in ihrer Monographie zur Medici-Kapelle (1922) gleich mit den ersten Worten bildhaft vor Augen: "Die Pyramide, die die Statuen des Grabmals bilden [...]." Damit war der Gipfel einer Entwicklung erreicht, die jedoch erstaunlich spät begann. 1728 wurde die formale Zugehörigkeit der Tageszeitenallegorien zu den Statuen der Herzöge erstmals beiläufig erwähnt (Montesquieu), es folgte Cicognara, der 1816 die Symmetrie der Liegefiguren hervorhob, und erst Quatremère de Quincy fand 1835 mit der Rede vom "effet pyramidal" eine Metapher für die Gesamtstruktur und setzte damit den Anfang einer sich bis zu Popp steigernden Tradition. ähnlich verlief die Entwicklung in den Nachzeichnungen. Erst im 18. Jh. wurde der antithetischen Symmetrie der Tageszeitallegorien dadurch Rechnung getragen, daß man sie nicht einzeln, sondern paarweise auf einem Blatt zeichnete. Künstler des 19. und 20. Jhdts. analysierten dann ausgiebig auch die kompositorische Verknüpfung der zum gemeinsamen Zentrum hin ansteigenden Liegefiguren. Zu Recht verweist Rosenberg in diesem Zusammenhang auf Hans Körner, der bei der Untersuchung der französischen Kunst-literatur feststellte, daß der Begriff der compositio zunächst auf die Einheit einer einzelnen Figur und erst im 17. Jh. auf innerbildliche Bezüge angewandt wurde. Die Synopse dieser Befunde könnte die weit verbreitete Annahme bestätigen, es ließen sich aus der textlichen überlieferung alle jeweils wirksamen Regularien der künstlerischen Produktion sowie der Rahmen dessen rekonstruieren, was eine Zeit überhaupt zu sehen, zu schätzen und zu analysieren vermochte. Zu Ende gedacht liefe dieser reduktionistische Kurzschluß darauf hinaus, die Aspekte der planimetrischen Komposition in der älteren Kunst für etwas Zufälliges zu halten, während sie doch spätestens seit Giotto (in je unterschiedlichem Maße) Teil einer schulbildenden Kompositionspraxis sind. Auch im Falle der Medicigräber wurde das formale Zusammenspiel der Statuen nicht nur von Michelangelo so gewollt, sondern auch von den Zeitgenossen gesehen, gewürdigt und nachgeahmt, wie die im 16. Jh. einsetzende Mode beweist, antithetische Liegefiguren auf die schrägen Unterlagen gesprengter Giebel zu setzen. An der Fassade von S. Maria dei Miracoli presso S. Celso in Mailand (Ende 16. Jh.) geht diese Adaption so weit, daß sie sich auch auf die pyramidale Zuordnung der Liegefiguren zu einer zentralen Nische erstreckt. Nimmt man also auch die Nachfolgewerke als ein eigenes Rezeptionsmedium in den Blick, so zeigen sich auch bezüglich der Gesamtkomposition jene Entwicklungsverschiebungen, die Rosenberg für die Analyse von Einzelfiguren aufdeckte.

Die komparative Rezeptionsforschung, wie man sie nennen könnte, hat mit Rosenbergs Buch ein erstes Stadium systematischer Reife erlangt.


Andreas Thielemann

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Empfohlene Zitierweise:

Andreas Thielemann: Rezension von: Raphael Rosenberg: Beschreibungen und Nachzeichnungen der Skulpturen Michelangelos. Eine Geschichte der Kunstbetrachtung, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2000
in: KUNSTFORM 1 (2000), Nr. 2,

Rezension von:

Andreas Thielemann
Bibliotheca Hertziana, Rom

Redaktionelle Betreuung:

Jan Mohr