Rezension

Nils Büttner: Die Erfindung der Landschaft. Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Breugels, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000,
Buchcover von Die Erfindung der Landschaft
rezensiert von Jochen Sander, Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt/M.

Bücher über niederländische Landschaftsmalerei haben augenblicklich beiderseits des Atlantiks Konjunktur: Just erschien Walter S. Gibsons "Pleasant Places. The Rustic Landscape from Brueghel to Ruisdael" (Berkeley-Los Angeles-London 2000); zeitgleich veröffentlichte Nils Büttner seine Untersuchung über "Die Erfindung der Landschaft. Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Breugels", die aus seiner Göttinger Dissertation von 1998/99 hervorgegangen ist. Gibson hatte sich bereits vor elf Jahren erstmals der flämischen "Weltlandschaft" gewidmet (Mirror of the Earth. The World-Landscape in Sixteenth-Century Flemish Painting, Princeton 1989) und dabei vor allem deren Anfänge in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit den Werken Joachim Patiniers in den Blick genommen. Büttner hingegen interessiert vor allem die Entwicklung um die Mitte und in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, weshalb er seine überlegungen locker um das Schaffen Pieter Bruegel d. ä. gruppiert.

Nachdem erstmals Svetlana Alpers (The Art of Describing. Dutch Artin the Seventeenth-Century, Chicago 1983) die Bedeutung der zeitgenössischen Kartographie für die holländische Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts herausgearbeitet hatte, war Gibson der erste Kunsthistoriker, der einen solchen Zusammenhang auch für die Entstehung der frühen "Weltlandschaft" erwogen hatte (Gibson 1989, S. 48-59). Er beließ es allerdings bei der Betonung der formalen Entsprechungen zwischen den in "Kavaliersperspektive" gegebenen Landschaftsbildern und einer von den Kartographen des 16. Jahrhunderts entwickelten und besonders gepflegten Art von Landkartengestaltung, der "Chorographie". Hier wird, anders als bei den uns heute vertrauten Karten, keine abstrakte, rein planimetrische Projektion geboten, sondern das kartographisch wiederzugebende Gebiet wird mit extrem hochgelegtem Horizont quasi aus der Vogelperspektive geschildert, wobei sich planimetrische Projektion und Ansicht besonders wichtiger Details wie Stadtprospekte oder Befestigungsanlagen abwechseln.

Es ist nun Büttners Verdienst, über derartige formale überlegungen hinauszugehen und die enge Zusammenarbeit, ja den intensiven Austausch zwischen niederländischen Künstlern und Kartographen im 16. Jahrhundert im einzelnen zu dokumentieren. (Landschafts-) Maler illustrierten nicht nur in dekorativer Weise die Werke der Geo- und Kartographen, sie standen bei der Gestaltung ihrer eigenen Landschaftsmalerei nachhaltig unter dem Eindruck der Erkenntnisse und Darstellungs konventionen der Geowissenschaft ihrer Zeit. Zugleich beeinflussten sie aber auch ihrerseits die Entwicklung der kartographischen Darstellungen.

Nach einer knappen einleitenden Klärung der Frage, was man in den Niederlanden des 16. Jahrhunderts unter dem Begriff "Landschaft" verstand - im allgemeinen eine geographische oder politische Region, im besonderen auch einen Gegenstand einer Bilddarstellung, keinesfalls aber eine Bildgattung -, wendet sich Büttner Antwerpen zu, das nicht nur ein Hauptmarkt für gezeichnete, gedruckte und gemalte Landschaftsdarstellungen war,sondern zugleich auch ein Zentrum der Geo- und Kartographie. Die reiche urkundliche überlieferung der Scheldestadt liefert zahlreiche, wenn auch meist nur punktuelle Einsichten über Herstellung, Vertrieb, Preis und Käufer nicht nur von Landschaftsbildern, sondern auch von geographischen Veröffentlichungen und Karten, wobei Hersteller, Vertreiber und Käufer häufig die gleichen waren. Selbst in ihrer Verwendung bzw. ihrer Präsentation konnten Landschafts-"Bilder" und kartographische Aufnahmen eine gewisse Austauschbarkeit erreichen, sei es im Kontext der nach den Erkenntnissen der Zeit organisierten Kunstkammer, sei es als Wandschmuck.

Als bedeutendste nordwesteuropäische Handels- wie Verlagsmetropole war Antwerpen für die Fortentwicklung von Geographie und Kartographieim 16. Jahrhundert prädestiniert. Im Gefolge der überseeischen Entdeckungen und Eroberungen war zugleich das Interesse der städtischen Oberschicht an geographischen Veröffentlichungen gewachsen - seien sie beschreibender Art wie Münsters "Kosmographie" oder kartographischer Art wie Ortelius' "Theatrum orbis terrarum" und Mercators Wand- und Altaskarten sowie Globen. Diese in Antwerpen hergestellten und verlegten Werke wandten ihr Interesse nicht nur fernen Ländern, sondern ebenso der näheren Umgebung zu, wobei die regionale Kartographie ihre typische Gestalt in der Chorographie fand.

Büttner analysiert den konkreten Anteil der Künstler an der Kartengestaltung, der weit über ornamentales Beiwerk wie Titelkartuschen oder Rahmenornamente, über erzählerische Ausschmückung der Meere bzw. der "weißen Flecken" auf der Landkarte oder die Kolorierung hinausging (als eine mit Pinsel und Farbe ausgeführte Tätigkeit beanspruchten übrigens die Malergilden ihre Zuständigkeit für die Kartenherstellung). Künstler waren vor allem für die spezifische Gestaltung des vorherrschenden regionalen Kartentyps der Chorographie besonders geeignet, war ihnen doch die Ausführung von perspektivisch gestalteten Ansichten - in diesem Falle des kartographisch aufzunehmenden Landstrichs - eine geläufige Aufgabe.

Wie Büttner an einer Fülle von Beispielen zeigen kann, waren Chorographien - die uns, gemessen an dem uns heute vertrauten Kartenmaterial, ausgesprochen ungenau vorkommen - im 16. Jahrhundert der vorherrschende Kartentyp. Die ansichtig gegebene Landkarte konnte und sollte durch Hervorhebung der im Verwendungszusammenhang als wichtig erachteten Details suggestiver und zugleich instruktiver sein als jede planimetrische Projektion mit ihrem sehr viel höherem Abstraktionsgrad. Chorographien kamen daher gerade in den 1570er Jahren in den Niederlanden besondere strategische Bedeutung zu, da sie sowohl für die Spanier als auch für die aufständischen Provinzen für die Kriegsplanung eine wichtige Grundlage lieferten. Angesichts des Umstandes der engen Verwandtschaft von Chorographie und in Kavaliersperspektive dargestellter überschaulandschaft überrascht es in diesem Zusammenhang nicht, dass Büttner die Mitarbeit zahlreicher niederländischer Künstler an den Kartographierungsmaßnahmen der Spanier in den Niederlanden nachweisen kann.

Wurde derartiges Kartenmaterial aus naheliegenden Gründen geheimgehalten, so dienten Landkarten zur selben Zeit europaweit zugleich als Mittel der Propaganda bzw. zur bildhaften Verdeutlichung der eigenen Rechtsposition. So ließen nicht nur zahlreiche Landesherren und Städte chorographische Ansichten ihrer Herrschaftsgebiete anfertigen und in Werken wie Münsters"Kosmographie" veröffentlichen oder zur Dekoration ihrer Paläste verwenden, sie nutzten sie ebenso in politischen Verhandlungen oder juristischen Streitfällen. Karl V. etwa ließ sich auf seinem "Kreuzzug" nach Tunis von Künstlern, darunter Jan Vermeyen, begleiten, die das historische Geschehen detailliert in chorographischen Bildern festzuhalten hatten. Im Falle des Tuniszuges dienten Vermeyens Zeichnungen der Vorbereitung einer monumentalen Teppichserie (heute Madrid, Palacio Real), die in ihrer Gestaltung Chorographie und Landschaftsmalerei in gleicher Weise verpflichtet ist. Dabei weist Büttner zurecht besonders auf den Umstand hin, dass gerade bei einem derartigen Propagandaprojekt der direkte Bezug auf die Bildkonventionen der Kartographie die Glaubwürdigkeit des dargestellten Geschehens unterstreichen sollte.

Im sicherlich interessantesten Teil seines Buches demonstriert Büttner schließlich die analoge Betrachtungsweise geographischer Abhandlungen und chorographisch orientierter Landschaftsmalerei: So wie die zahlreichen Geo- und Kosmographien, aber auch regional beschränktere literarische Landesbeschreibungen ganz selbstverständlich ältere und z. T. sehr unterschiedliche Textvorlagen selektiv kombinieren, um ein möglichst "typisches" Bild ihres Gegenstandes liefern zu können, gehen auch die bildlichen Darstellungen von einer von heutigen Vorstellungen abweichenden Idee eines "naturgetreuen" Abbilds einer Landschaft aus. Wie an den Landschaftszeichnungen und -gemälden Bruegels und seiner Zeitgenossen erkennbar, basieren sie in vielen Fällen zwar auf detaillierten Einzelstudien "nach dem Leben", doch sind sie als Endprodukt das Ergebnis einer sorgfältigen Kompilation in der Künstlerwerkstatt, die erneut vor allem das als charakteristisch Empfundene vermitteln soll. So kommt es, dass Arbeiten wie die heute gemeinhin als phantastische Erfindungen wahrgenommenen Alpenansichten Bruegels seinen Zeitgenossen und weit darüber hinaus als überaus realistische Abbilder des Dargestellten gelten konnten.

Nur knapp streift Büttner abschließend die Frage nach "Deutung und Bedeutung", die in der bisherigen Diskussion der niederländischen Landschaftsmalerei des 16. Jahrhunderts bekanntermaßen eine prominente Rolle gespielt hat (willkürlich herausgegriffen sei etwa auf Reindert L. Falkenburg, Het landschap als beeld van de levenspelgrimage, Nijmegen 1985, verwiesen). Büttner steuert einen Mittelweg zwischen den bisherigen Alternativen einer exklusiv emblematischen oder rein ästhetischen Betrachtungsweise (der er nunmehr als weitere Variante die chorographische Deutung des Landschaftsbildes hinzufügt), und kann sich dabei auf die Aussage der Verfasser und Nutzer zahlreicher geo- und kartographischer Werke des 16. Jahrhunderts berufen, die ihrerseits im Betrachten einer Landkarte oder eines chorographisch gestalteten Landschaftsbildes glaubten, "die großen Werke Gottes erkennen" zu können.

In seinem materialreichen, zugleich aber ausgesprochen gut lesbaren Buch (182 Seiten Text stehen 90 Seiten in deutlich kleinerer Type gesetzten Anmerkungen gegenüber; 49 Abbildungen akzeptabler Qualität verdeutlichen seine Argumentation) versteht es Büttner, dem Leser auf elegante Weise neben den formalen auch die funktionalen Verschränkungen von Chorographie und "Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels" zu vermitteln. Für die niederländischen Landschaftszeichnungen und -gemälde des 16.Jahrhunderts ist damit zugleich ein bisher nicht ausreichend berücksichtigter zeitgenössischer Bezugsrahmen rückgewonnen worden.


Jochen Sander

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Jochen Sander: Rezension von: Nils Büttner: Die Erfindung der Landschaft. Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Breugels, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000
in: KUNSTFORM 1 (2000), Nr. 2,

Rezension von:

Jochen Sander
Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt/M.

Redaktionelle Betreuung:

Jan Mohr