Rezension
Noch ein Buch zum notorischen Sabbioneta, möchte man angesichts des anzuzeigenden Bandes vorderhand denken. Die verschlafene, ohne Touristenbusse wie ausgestorben wirkende Kleinstadt inmitten der Poebene ist zwar seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Juwel der frühneuzeitlichen höfischen Urbanistik bekannt gemacht worden, doch erst ab den 1960ern hat man sie richtig entdeckt. Seither ruft das Thema Sabbioneta, die Planstadt eines gefürsteten Höflings und Condottiere in habsburgischen Diensten, die nur zu Lebzeiten ihres Gründers Vespasiano Gonzaga wirklich gedieh, eine schier uferlose Literatur hervor, das meiste davon in den letzten beiden Jahrzehnten. Gisela Heinrichs schmales Bändchen, das wohl auf einer akademischen Qualifikationsschrift an der Universität Köln basiert (was aus der Einleitung leider nicht hervorgeht), läßt sich als "kritische Zwischenbilanz" (S. 9) zunächst dieser Sabbioneta-Literatur zurechnen. Doch schon sein Untertitel, "Realität und Imagination", verweist auf eine weitere und im Verlauf der Lektüre peu à peu virulenter werdende Lesart, welche diese Unterscheidung nicht nur auf den Stadtgründer und sein Werk, sondern auch auf die Forschungsliteratur bezogen wissen will.
Die ersten Abschnitte fühlen sich allerdings noch sehr der angestrebten Zwischenbilanz verpflichtet. Einleitung und darauffolgende Vorstellung des Stadtgründers, der Planstadt und ihrer Bestandteile fallen recht knapp aus; Neues wird hier nicht geboten. Zwar findet man eine schnell abrufbare, übersichtliche Einführung in die Gründung Vespasiano Gonzagas, die Anlage der Stadt und ihre wichtigsten Monumente. Doch wird der schrittweise nahsichtiger gewählte Fokus auf Befestigungsanlagen und Rocca, auf gerasterte Straßenachsen mit den Knotenpunkten Piazza Ducale und Piazza d'Armi, dann auf Herzogspalast, Casino, Galerie, Kirche und Theater einzig als Vorspann für den Hauptteil verständlich, der sich den einzelnen Bauten und ihrer Ausstattung im Detail widmet. Dabei hätte es sich angeboten, diese notwendige Einführung gleich mit analogen Stadtgründungen des 16. und 17. Jahrhunderts zu kontextualisieren, stellt die Karriere des Gonzaga wie die seiner Gründung doch keinen Einzelfall dar. Ein Verbleib bei dieser Familie hätte schon hingereicht, betätigten sich doch mehrere Gonzaga urbanistisch, vorzugsweise aus Nebenlinien, die danach trachten mußten, ihre kleinen, oft in Grenzpointillismen liegenden Herrschaften auszubauen. Vielleicht sind nicht umsonst so viele urbanistische Erfindungen oder Weiterentwicklungen wie die herrscherlich benannte Platzanlage samt Palast oder die öffentlich postierte Herrscherstatue auf diese unter besonderem Druck stehende Klientel zurückzuführen. Man denke nur an Charles de Gonzague, ein Mitglied des franzöischen Zweigs der Familie, der wenig später in Charleville, im Grenzgebiet zwischen Frankreich und dem Reich, ähnliche Planungen wie Vespasiano anstellte und wie er urbanistische Schrittmacherfunktion übernahm.
Der Hauptteil des Bandes beginnt deutlich erst mit dem etwas mehr als die Hälfte des Umfangs stellenden fünften Kapitel. Es wendet sich den einzelnen Bauwerken und Monumenten zu und zielt auf eine ikonographische Analyse der architektonischen und bildnerischen Hinterlassenschaften Vespasiano Gonzagas, die zunehmend fesselt. In der Konzentration auf eine Lektüre der "Bauformen als Ausdrucksträger politischer Inhalte" und der "ikonographischen Programmatik der Malerei und Plastik, deren stilistische Aspekte" daher "nur marginal berücksichtigt werden" (S. 43), liegt der Schwerpunkt und Ertrag der Darstellung. Eine Zusammenfassung und Bewertung der Forschung mit interessanten methodischen Bemerkungen folgt im abschließenden Kapitel.
Das Hauptergebnis der Analyse von Bauwerken und Monumenten bildet eine stringent aus den Artefakten heraus erarbeitete Absage an die bis heute dominierenden neuplatonischen Deutungsmuster (eines Kurt Forster oder Gerrit Confurius) und ihr Ersatz durch eine durchgängig politische Lesart; sie ist zwar nicht expressis verbis, aber doch deutlich von der "Götterdämmerung des Neoplatonismus" (Horst Bredekamp) methodisch angeregt. Erhellend sind auch die kritischen Bemerkungen zu der in letzter Zeit stark betonten Thematik von Arte et Marte in der italienischen Renaissance und das hieraus abgeleitete Postulat eines pragmatischeren Herangehens und einer deutlicheren Trennung dieser mitnichten problemlos harmonierenden Kategorien. Wohltuend geht die Verfasserin damit gegen den bis heute gängigen ikonographischen overkill an, wozu auch gehört, die Prätention der allwissenden Perspektive zu meiden: Vieles "muß offenbleiben" oder "läßt sich nicht entschlüsseln", sehr sympathische Wendungen angesichts der verbreiteten Haltung, den super-reader herauszukehren.
Bei allem wird und muß man nicht mitziehen. Daß bestimmte Themen wie die omnipräsenten und tautologisch vervielfältigten Wappen und Impresen nur "die übersteigerte Ruhmsucht eines Fürsten" spiegelten, "der seine politische Bedeutungslosigkeit durch Verweise auf kaiserliche Würden und Orden zu kompensieren suchte" (S. 59), wird man mit dem Hinweis begegnen dürfen, daß diese Bildzeichen durchaus ihren Zweck hatten, nämlich das mühsam errungene eigenständige Fürstentum zu erhalten oder gar auszubauen, mitnichten also eine bloße Kompensation darstellten. Entgehen hier einer zu nüchternen Perspektive manche handgreiflichen Aspekte politischer Ikonographie, so entlockt die Verfasserin auf der anderen Seite vielen der Monumente ihre dezidiert politischen Lesarten und bekräftigt damit eindrucksvoll die Bedeutung Sabbionetas als frühe urbanistische und ikonographische Leistung. Vieles, so die nicht weniger als zehn hölzernen Reiterstandbilder im Palazzo Ducale, darf man nun nicht mehr unter der Rubrik der Kuriosa abbuchen. Und Leone Leonis thronender Vespasiano für den Vorplatz des Palazzo Ducale, eines der ersten öffentlichen, einem zeitgenössischen Herrscher gesetzten Bildwerke, darf wohl als bestes Beispiel für eine Avantgardestellung Sabbionetas gelten. Auch wenn die Statue noch zu Lebzeiten des Gonzaga als Grabfigur in die Incoronata-Kirche überführt wurde, stellt sie ein überaus frühes Beispiel einer Monumentsetzung des Fürsten selbst dar, hielten sich doch sogar die Medici an die bis in den entwickelten Absolutismus hinein gängige Praxis, eben nicht selbst zu setzen, sondern setzen zu lassen.
Wenn die Ausstattung des Bandes mit dem argumentativen Niveau nicht Schritt halten kann, verrät dies viel über die Rahmenbedingungen heutigen Publizierens, vor allem für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Die Abbildungen sind qualitativ oft nur mnemonisch zu gebrauchen, die erste zeigt gar eine Karte mit handgezeichneten Kringeln um die verhandelten Orte, was niedlich bis unbedarft wirkt, und die Schriftgröße ist zu klein. So zeigt der Band wieder einmal zu Genüge, wie sehr man sich davor zu hüten hat, von der auf heutigen Publikationsbedingungen beruhenden Erscheinungsform vorschnell auf die erbrachten Resultate zu schließen.
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