Rezension
Die Forschung zur Bau- und vor allem zur verwickelten Planungsgeschichte von St. Peter in Rom hat selbst eine wechselvolle Geschichte hinter sich, beginnend in den Jahren um 1875 mit den Studien von Heinrich von Geymüller und Paul Letarouilly und während der letzten dreißig Jahre in einer Fülle von Beiträgen kulminierend, die zumeist im Umkreis der Bibliotheca Hertziana in Rom entstanden sind, allen voran die von Christof Thoenes. Daß sie mittlerweile im Ruf einer 'Geheimwissenschaft' steht, liegt an ihrem Gegenstand. Der Prozeß der Planungen währte von seinen Anfängen unter Nikolaus V. um 1450 bis zur Vollendung des Vorplatzes unter Alexander VII. im Jahr 1667 mehr als zwei Jahrhunderte, er beschäftigte dreißig Päpste und eine ganze Schar von erstrangigen Architekten, die der europäischen Baukunst nicht zuletzt durch ihre Entwürfe für die Peterskirche wesentliche Impulse geben konnten. Die sukzessive Planung des riesigen Bauvolumens ließ einen eigenen architekturgeschichtlichen Mikrokosmos entstehen und verlief zudem nicht geradlinig, sondern in Gestalt von Krisen, Irrwegen und plötzlichen Umbrüchen. Schwierigkeiten bereitete der Forschung insbesondere, daß die Abfolge der Projekte aus einer schwer überschaubaren Vielzahl disparater Quellen rekonstruiert werden mußte: neben erhaltenen Baurechnungen und relativ spärlichen Angaben in den archivalischen und gedruckten Quellen konnte man sich auf umfangreiches Planmaterial stützen, vor allem die Sammlung der Florentiner Uffizien, außerdem auf Medaillenprägungen, aufwendige Holzmodelle, vedutenartige Ansichten der Baustelle in diversen Stadien und druckgraphische Präsentationen verschiedener Projekte. All das lag aber nicht in chronologischer Reihe, mit einheitlichem Maßstab und mit klarer Bezeichnung von Urheber, Betreff und Zielsetzung vor, sondern als heterogener Wust, dessen Bestandteile erst geordnet und durch eine vergleichende Analyse von Plänen und Zeichnungen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden mußten - eine exemplarische Leistung architekturgeschichtlicher Forschung. Die bekanntesten Zeichnungen illustrieren zumeist auch die spezifischen Schwierigkeiten, so etwa das nahezu abenteuerliche Blatt Uff. 20 A, das über dem Grundriß des Vorgängerbaus und den begonnen Fundamenten des sog. Rosselinochores wesentliche Stadien der Planung Bramantes zeigt, allerdings nur als kühn mit Rötel auf das Blatt skizzierte Formen, die hohe Anforderungen an architektonische Vorstellungskraft und Fachkenntnis stellen, will man diese Momentaufnahmen des Entwurfsprozesses lesen und verstehen.
Bei dem nun erreichten Forschungsstand - das Literaturverzeichnis listet annähernd 200 Einzeltitel auf - ist eine konzentrierte Zusammenfassung eine dringliche Aufgabe geworden. Ihr stellt sich Horst Bredekamp, gestützt auf umfassende Kenntnis der wissenschaftlichen Diskussion, in seiner zügigen Darstellung, die den gesamten Zeitraum in sechs Abschnitten behandelt: beginnend mit der Initialzündung der Grabmalprojekte der Rovere-Päpste, über die Pläne Bramantes, das Intermezzo der Sangallo-Planung und deren Revision durch Michelangelo bis hin zum Entwurf von Langhaus, Fassade und Vorplatz durch Maderno und Bernini. Neben der Präsentation der Daten und Fakten werden die Ambitionen der Akteure und die von ihnen jeweils verfolgten Strategien pointiert begrifflich gefaßt: "Die Ausschaltung des Sangallo-Modells", "der fragile Souverän" und "Bauen als präventive Verteidigung" lauten überschriften aus dem Zeitraum Michelangelos.
Vereinzelte Irrtümer sind wohl der Preis, der der komplexen Materie auch bei sorgfältiger Arbeit zu zollen war. Die Ersetzung der fünfschiffigen durch eine "dreischiffige Anlage" des Langhauses, die "den Bezug zum Vorgängerbau durchtrennt" (33), war nicht bereits in Plan Uff. 20 A gegeben, sondern wird erst durch einen späteren Holzschnitt Serlios überliefert. Die von Sangallo vorgesehene "Ovalwölbung" der Kuppel (60) hat im Holzmodell tatsächlich einen elliptischen Querschnitt, und nur darin ist ihre Konstruktion arithmetisch begründet, während ein Oval in Zirkelschlägen geometrisch konstruiert wird. Solche Zweifelsfragen werden sich Interessierten aber durch die Spezialliteratur klären, auf die der Anmerkungsapparat verweist.
Wichtiger ist, daß nun neue Erkenntnisse der Spezialforschung einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden; so wird referiert, daß die Rekonstruktion von Bramantes beschnittenem Pergamentplan Uff. 1 A zu einem regelmäßigen Zentralbau, wie ihn alle Handbücher suggestiv abbilden, nicht mehr haltbar ist. Außerdem blickt der Autor aus einer neuartigen Perspektive auf die Abfolge der Planungen: es gab nicht nur zahlreiche Projekte, die man verworfen hat, sondern auch eine Reihe von teilweise oder ganz errichteten Bauteilen, die mit immensem Aufwand wieder abgerissen wurden, darunter die Benediktionsloggia vor Alt-St. Peter, ein Initialbau der römischen Renaissance, der Westchor und das Schutzhaus über dem Petrusgrab, beides dauerhafte und anspruchsvolle Provisorien, der Umgang der südlichen Konche oder der südliche Glockenturm. Es geht Bredekamp darum, die Irrationalität der Baugeschichte als Folge von Bau und Abbruch nachzuvollziehen und in den "unsichtbaren, chaotischen Entstehungsprozessen" einer "verbissenen Konkurrenz" nachzuspüren, dem "Prinzip der produktiven Zerstörung", in dem eine "abgründige Modernität" liege. Aus dieser Perspektive rücken Triebkräfte wie die Familieninteressen des päpstlichen Nepotismus, die "Fetischierung des Neuen" oder das Beharrungsvermögen der Traditionalisten in den Blick, aber auch die "caesarischen Anwandlungen" der Architekten und deren "Spontaneität des Individuellen". Bredekamp entlarvt das Taktieren aller Beteiligten und zeigt die "übliche Praxis, Widersacher durch das Niederreißen bereits gebauter Teile zu besiegen". So gesehen stellen sich die berühmten Vierungspfeiler nicht als architektonisch gestaltete Form dar, sondern als Sprengsatz, mit dem Bramante die endgültige Zerstörung von Alt-St. Peter besiegeln wollte.
Widerspruch zu dieser Kernthese könnte sich an der Frage entzünden, warum St. Peter unter solchen Umständen ein überzeitliches Sinnbild der römischen Kirche werden konnte, der 'größte Ausdruck aller einheitlichen Macht überhaupt' (J. Burckhardt). Bei Bredekamp klingen Kriterien an wie die künstlerische Souveränität als Präfiguration absolutistischer Macht (72) oder die in den "Arbeits- und Organisationsmethoden" vorexerzierten Züge absolutistischer Strukturen (122). Nur eine marginale Rolle spielen in seinem Szenario baukünstlerische und bedeutungsträchtige Qualitäten der Architektur. Als der sachkundige Fürst Karl Eusebius von Liechtenstein das um 1675 soeben vollendete Gesamtprojekt St. Peter in seinem Architekturtraktat als 'lebendige und sichtbahre Histori' bezeichnete, war aber nicht die Baugeschichte, sondern eine Aussage der Bauformen gemeint, in denen das historische Selbstverständnis der Päpste zutage tritt. Bei Bredekamp bleibt die architektonische Gestaltung dem Prozessualen nachgeordnet; der zugrundeliegende Bautypus, die Kreuzkuppelkirche, oder das wichtigste Gliederungsmotiv innen wie außen, die rhythmische TravŽe der großen Pilasterordnung, finden keine Erwähnung. Ausgespart bleibt die Frage nach einer inhaltlich-programmatischen Interpretation der Baugestalt, die auch die St. Peter-Forschung oft nur am Rande gestreift hat, weil sie sich damit methodisch auf schwankendem Terrain glaubte. Bredekamps Buch bietet aber immerhin Material für solche Deutungen, so die Aussage von Nikolaus V., daß die immerwährenden Monumente zu den Augen sprechen und so den Glauben und die Achtung vor der Institution der Kirche stärken, oder die zeitgenössische Auffassung, daß die offenen Arme des Vorplatzes die Katholiken empfangen und die Häretiker mit der Kirche wieder vereinen sollen.
Die anregende Zuspitzung Bredekamps auf die chaotischen Abläufe der Baugeschichte wirkt polarisierend und verweist so auch auf ihr Gegenteil, auf eine Ideengeschichte von St. Peter, die eine Aussage des Bauwerks sowohl aus den einzelnen Projekten als auch aus dem Endresultat, der heutigen Kirche, herzuleiten versucht; sie provoziert zur Frage nach thematischen Aspekten der Peterskirche, die zu ihrer vielfältigen Wirkung auf die neuzeitliche Architektur sicher beigetragen haben. Aber warum sollte nicht auch die Forschung zu St. Peter im Konflikt von These und Antithese produktiv vorankommen?
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